Wenn die Türkei um Beistand bittet
Noch scheint es in Deutschland – im Unterschied zu den USA – keine Debatte darüber zu geben, aber man sollte das schon mal vormerken: Wenn die Lage in Syrien zu Konflikten an der syrisch-türkischen Grenze führt (ob ausgelöst durch Übergriffe syrischer Truppen, ob durch eine türkische Intervention, ist erst mal zweitrangig) und die Türkei als NATO-Mitglied die Beistandspflicht der Allianz einfordert – gibt’s da schon eine deutsche Position?
A number of actions recently taken by government agencies in Turkey indicate that Ankara has been preparing for the inevitability of sending military troops to Syria to establish a humanitarian corridor. The corridor would be used to reach cities and towns under siege as well as possibly create a safety buffer zone for internally displaced persons (IDPs).
(…)What will happen if the UN cannot get its act together, and Russia and China end up using their veto powers for the third time? Ankara will probably invoke the 1998 Adana agreement with Syria to justify the military interference while calling on NATO members for the application of the Article 5 of the NATO Charter, which says that an attack on any member shall be considered to be an attack on all.
war schon vor ein paar Tagen in einem türkischen Kommentar zu lesen.
Offiziell äußert sich aus den NATO-Mitgliedsländern – außer den Türken selbst – niemand zu dem Thema, US-Außenministerin Hillary Clinton betonte nach dem G8-Treffen in Washington die Bedeutung der UN, von der NATO sagte sie nichts. Ich weiß nicht, ob das so bleiben kann und wird – allerdings können die Türken ja auch nicht alleine den Bündnisfall ausrufen, dafür ist schon der NATO-Rat nötig.
Haben wir denn schon eine deutsche Diskussion, rechtzeitig bevor eine Antwort gefragt ist?
Nachtrag: Da ist es vielleicht ganz passend, dass Bundespräsident Joachim Gauck am kommenden Montag der NATO seinen ersten Besuch im Amt abstattet. Ob das Thema da auch zur Sprache kommt?
Nachtrag 2: In einer Neufassung der NATO-Mitteilung heißt es nun, es werde keine Pressebegegnung geben (there will be no media ooportunity). Kann natürlich schlichte Zeitgründe haben – oder wollten NATO-Generalsekretär und deutscher Bundespräsident lieber nicht nach Syrien gefragt werden?
Es kann in diesem Fall doch gar keine Rede davon sein, dass ein wie auch immer gearteter Beitrittsfall für die Mitglieder der NATO in Frage steht. Wenn die Türkei als grösste Militärmacht in der Region hier eine solche Frage stellen sollte, dann wird man darauf in Brüssel sicher nur mit Stirnrunzeln reagieren. Ein paar verirrte Schüsse über die Grenze lösen doch keinen Bündnisfall aus! im übrigen sehen sicher viele NATO-Staaten zurecht, dass angesichts der sehr unklaren Lage in Syrien eine erneute Verwicklung in einen beginnenden Bürgerkrieg sicher das Letzte darstellt, was man sich in der Allianz wünscht. Hoffentlich kommt nicht wieder jemand mit der Idee, dass man dort Deutschland verteidigen müsse… Zuzutrauen wäre es einigen. Nehmen wir doch einfach mal zur Kenntnis, dass es Konflikte gibt, zu deren Lösung wir als Aussenstehende sehr wenig beitragen können, die Nachbarn aber umso mehr.
@Mustermann: Bitte genau Lesen. Der Vertrag von Adana gibt der Türkei durchaus das Recht, in Syrien zu intervenieren.
Die Folgen wären mir allerdings nicht ganz klar. Wenn man annimmt, dass die Türkei das SNC als legitime Regierung Syriens anerkennt und dann dem SNC militärisch hilft: In wie weit bleibt Syrien dann stabil? Der Türkei sollte denke ich klar sein, dass (nahezu?) kein NATO-Partner einen längeren Stabilisierungseinsatz mittragen würde. Das Maximum würden wohl Flugzeuge sein, die GB/USA/FRA in den Einsatz schicken würden, als Symbol.
@LPPS | 13. April 2012 – 1:04
Zitat: „@Mustermann: Bitte genau Lesen. Der Vertrag von Adana gibt der Türkei durchaus das Recht, in Syrien zu intervenieren.“
Kein Staat und kein Bündnis dieser Welt hat gemäß UN-Charta das Recht eigenmächtig zu intervenieren. Schon die eigenmächtige Androhung von Krieg ist verboten. Es sind eben nicht alle Optionen offen.
Für die Türkei ist es schon Gewohnheit kurdische Rebellen tief auf irakischem Territorium zu bekämpfen und dabei in dieses einzudringen. Jetzt wollen die Türken gleich den Bündnisfall ausrufen, weil einige Schüsse bei der Bekämpfung bewaffneter syrischer Rebellen in der Türkei eingeschlagen sind. Recht albern für einen Staat der bewaffneten Kräften gegen einen Nachbarstaat Unterschlupf gewährt. Dies allein ist schon laut UN-Charta ein kriegerischer Akt.
Erdogan hat selbst davon gesprochen, den Artikel 5 sozusagen zu aktivieren:
„In a statement that may be interpreted as the harshest response yet to the escalating 13-month-old Syrian crisis, Turkish Prime Minister Recep Tayyip Erdoğan for the first time on Wednesday raised the possibility of calling on the NATO military alliance to protect Turkey’s border against incursions by Syrian forces. Speaking to reporters travelling with him during his official visit to China, Erdoğan said Turkey may consider invoking NATO’s fifth article to protect Turkish national security in the face of increasing tension along the Syrian border. His comments came after four Syrians who fled to Turkey from the violence in Syria were killed by Syrian forces targeting refugees on the Turkish side of the border on Monday. “NATO has a responsibility to protect Turkish borders,” said Erdoğan, signaling that Turkey may officially ask NATO members to apply Article 5 of the NATO Charter, which says that an attack on any member shall be considered to be an attack on all, if the situation in Syria becomes a serious enough threat to Turkish national security.“
http://www.todayszaman.com/news-277185-.html
Die Frage ist doch schon wichtig und interessant: Könnte es sein, dass der Nato-Rat, wenn es tatsächlich kriegerische Handlungen Syriens gegenüber der Türkei geben würde, den Bündnisfall erklärt? Welche Handlungsoptionen gäbe es für Deutschland?
@Ulrich Speck: „Welche Handlungsoptionen gäbe es für Deutschland?“
ganz einfache Antwort: keine einzige politisch Durchsetzbare.
Meine spontane Reaktion bei Lektüre der Überschrift in unserem Lokalblättchen: ach Gott, die NATO gibt es ja auch noch (hört man ja nun wirklich nicht mehr viel von). Ich gehe mal davon aus, daß dem überwiegenden Teil unserer friedensliebenden Bevölkerung
a) die Existenz der NATO gar nicht mehr bewußt ist
und
b) noch viel weniger Leute wissen, daß es bei diesem Bündnis um gegenseitigen Beistand geht (wenn wir jetzt die alte Formel mal weglassen, „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“)
Folglich wird Deutschland alles tun, um zu verhindern, daß die NATO irgendetwas in dieser Sache unternimmt – wenn sich dies nicht verhindern läßt (wovon ich nicht ausgehe), wird man sich eben (wie im Libyen-Fall) mehr oder weniger diskret aus der Sache rausnehmen – und maximal vielleicht dezente Unterstützungsleistungen im Hintergrund erbringen. Das war’s dann schon.
Diesen Vorfall, bei dem von Syrien aus auf türkisches Staatsgebiet geschossen wurde, als Auslöser für den NATO-Bündnisfall zu werten erscheint ein wenig weit hergeholt.
Das Assad-Regime wird zudem garantiert alle Anstrengungen unternehmen, um dem Westen diesen Vorwand für eine Intervention nicht zu liefern.
Außerdem: Selbst wenn man es so sieht, dass die Türkei gegenwärtig einen ernsten Angriff auf ihr Staatsgebiet abzuwehren hat, so hätten die zu ergreifenden Maßnahmen defensiven Charakter. Man dürfte wohl kaum, sozusagen im Geiste der Vorwärtsverteidigung, berechtigt sein, mit den Panzern nach Damaskus zu rollen.
@chickenhawk | 13. April 2012 – 11:54
Zitat:“Man dürfte wohl kaum, sozusagen im Geiste der Vorwärtsverteidigung, berechtigt sein, mit den Panzern nach Damaskus zu rollen.“
Genau dies scheint wohl der Plan Erdogans sein. Er träumt schon länger von der Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches. Deutsche Soldaten sollten hierbei nicht helfen. Dies wäre ein Mißbrauch der NATO.
Ja, es ist in der Tat sehr weit hergeholt, hier von einem Bündnisfall zu sprechen. Das, was derzeit an der türkisch-syrischen Grenze offenbar geschieht, entspricht m.E. bei enger Auslegung (noch) nicht dem, was den Geist des Artikels 5 des Washingtoner Vertrages ausmacht. Und die türkische Kurden-und Wasser-Agenda macht das alles noch komplizierter und fragwürdiger.
Dennoch darf man nicht vergessen: Die Türkei ist erstens für unsere sicherheitspolitischen Interessen von ungeheurem strategischem Wert (aus mehreren Gründen) und zweitens unser Bündnispartner, der damit zu Recht eine besondere Solidarität einfordern kann. Von daher sollten wir die Türkei in der gegenwärtigen brisanten Lage auch unterhalb des harten Bündnisfalles so weit wie möglich unterstützen – was keineswegs zwangsläufig den Einsatz militärischer Mittel bedeuten muss. Ich hoffe, das geschieht auch.
Und noch etwas: Der Türkei wurde in letzter Zeit nicht selten (insbesondere auch von israelischer Seite) vorgeworfen, sie bilde mit dem Iran und Syrien so etwas wie eine eigene regionale Achse. Wenn sie sich jetzt so eindeutig gegen das iranhörige Syrien Assad’s wendet, dann ist das für sich genommen keine schlechte Entwicklung, die auch eine entsprechende Würdigung verdient.
Wenn schon philosophiert wird, dass sich die Türkei bedroht fühlt- klar, daß sich die Türkei auch mittels der NATO Gewicht verschaffen will- aber daraus den Bündnisfall abzuleiten, dass ist doch ein wenig Kindertheater mit angesagtem Donner…. Im übrigen: selbst wenn es der Türkei gelänge, ALLE Mitglieder davon zu überzeugen, daß der Rat EINSTIMMIG diesen Fall erklären sollte, dann ist es trotzdem jedem Mitglied völlig selbst überlassen, zu entscheiden, was daraus für eigene Folgerungen zu ziehen sind. Die Konsequenz könnte von der Unterstellung von Truppen unter NATO-Kommando bis zur Demarche des Botschafters bei der Syrischen Regierung reichen, also im Prinzip alles offenhalten bis zum Nichtstun…
Wirklich „Viel Lärm um Nichts…“
@Stefan
Ihre Bewertung, dass die Türkei mithilfe der NATO einen Angriffskrieg gegen Syrien führen will, ist wohl sehr weit in ihrer Fantasie entsprungen und hat wenig mit der Realität des § 5 des NATO-Vertrages zu tun.
@ Chickenhawk
Vorneverteidigung oder Vorwärtsverteidigung ?
Die Vokabel „Vorwärtsverteidigung“ war ein linkes Schlagwort, Kampfwort in der Zeit des Kalten Krieges um die Nato-Strategie anzugreifen ! Ich nehme nicht an, dass Sie dieses Beschreibungsmuster aufgreifen wollten.
@ all
Wollen wir doch die Kirche mal im Dorf lassen !
Die Türkei möchte eine Schutzzone für syrische Flüchtlinge auf syrischem Gebiet entlang der Grenze etablieren. Wenn sie also militärisch Flüchtlingslager schützt, ist dies nicht verwerflich sondern ein humanitärer Akt, auch um die Flüchtlingsproblematik im eigenen Land abzumildern. Nichts anderes hat die Nato in Bosnien-Herzegowina gemacht. Problematischer wäre es wenn in diesen Schutzgebieten militärische, bewaffnete Kräfte der Opposition ihren Rückzugsraum hätten. Dann haben wir die Situation der Tribal Areas in Pakistan, die von Pakistan mehr oder weniger unbehelligt gelassen werden, solange die dort schutzsuchenden Aufständischen (Taliban, HIG, usw.) nicht pakistanische Orte und Einrichtungen angreifen.
Das die Türkei jetzt mit dem Antrag auf den Bündnisfall der NATO „droht“, ist wohl eher diplomatisch strategischer Natur um möglichst viele diplomatische Aktivitäten auszulösen. Bekanntlich ist in der Geschichte der Nato der Bündnisfall bisher nur einmal nach dem Angriff auf die USA am 11.09.2001 ausgerufen worden. Also Ball flach halten…..
Interessanter Randaspekt in der international geführten Debatte: 1991 hatte die Türkei schon mal versucht, den Artikel 5 zu aktivieren, was aber, so heißt es, am Widerstand Deutschlands gescheitert sei:
(Quelle)
Habe mich falsch ausgedrückt. Jetzt, wo sie es erwähnen, erinnere ich mich wieder an die Problematik mit den Begriffen (ist ja auch schon alles lange her…).
Ich meinte tatsächlich Vorneverteidigung.
@ T.Wiegold
1991 war aber auch eine ganz andere Situation. Nicht die Nato hat den Irak angegriffen, sondern die USA und GB, als Reaktion auf den Einmarsch der Iraker in Kuwait mit Ermächtigung des Weltsicherheitsrates.
Was damals die deutsche Diskussion beflügelte, war die Frage, wie verhält es sich mit dem Bündnisfall, wenn vorher von dem Territorium der Türkei nationale Angriffe der USA gegen den Irak geflogen werden. Also ein Gegenschlag aufgrund der Aggression von dem türkischen Staatsgebiet aus !
Im Übrigen hat die damalige „Nato-Feuerwehrtruppe“, die AMF, zu der auch die Oldenburger oder die Husumer JaboGs mit Alpa-Jet gehörten, nach Erhac in die Türkei verlegt. Präventiv sozusagen ! Gesichert worden sind sie von deutschen Heerestruppen und bereits damals hat es Akzeptanzprobleme für den Einsatz seitens der deutschen Öffentlichkeit, aber auch von dem damaligen Selbstverständnis der deutschen Soldaten gegeben. Spektakulär war die Weigerung eines deutschen Majors dort in die Einsatz zu gehen. Die offizielle Begründung des AMF-Einsatzes, zum Schutz der demokratischen türkischen Regierung, wurde bereits damals von manchen betroffenen Soldaten in Frage gestellt, als man als Ausdruck der demokratischen Gesinnung des türkischen Staates, gehängte Personen an den Stadtmauern baumeln sah.