Das nächste Problem: US-Soldat erschießt Zivilisten in Afghanistan
Als hätte die Verbrennung des Koran durch US-Soldaten die Stimmung in Afghanistan nicht schon genügend gegen die ISAF-Truppen (und nicht allein gegen die USA) angeheizt, kommt jetzt das nächste Problem: Nach den bislang vorliegenden Berichten hat ein US-Soldat im Panjwai in der Provinz Kandahar in der vergangenen Nacht Zivilisten erschossen, darunter vermutlich auch Kinder – möglicherweise schliefen die Opfer, als die tödlichen Schüsse fielen. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen.
Die offizielle ISAF-Stellungnahme:
The Deputy Commander, International Security Assistance Force, Lt. Gen. Adrian J. Bradshaw, released the following statement today:
“In my role as in-theatre Commander of ISAF in General Allen’s temporary absence on duty, I wish to convey my profound regrets and dismay at the actions apparently taken by one coalition member in Kandahar province. One of our soldiers is reported to have killed and injured a number of civilians in villages adjacent to his base. I cannot explain the motivation behind such callous acts, but they were in no way part of authorized ISAF military activity. An investigation is already underway and every effort will be made to establish the facts and hold anyone responsible to account. In the meantime, our thoughts and prayers are with those caught in this tragedy. I wish once again, on behalf of General Allen and all members of ISAF, to convey our deep regrets and sorrow at this appalling incident.
Die Zahl der getöteten beläuft sich nach den jüngsten Berichten auf 16, die Hintergründe sind vorerst noch unklar. Sowohl ISAF als auch die afghanische Regierung haben Untersuchungskommissionen in Marsch gesetzt. Das Kabuler Pressebüro Pressistan schilderte die politische Stimmung in der Hauptstadt so: (President Hamid) Karzai is very pissed, he’s following the issue in person, getting minute by minute update.
Nun sind in den vergangenen Jahren ungezählte Zivilisten durch militärische Aktionen am Hindukusch ums Leben gekommen. Aber es scheint das erste Mal zu sein, dass ein ISAF-Soldat offensichtlich durchdreht und auf eigene Faust Afghanen umlegt.
Nachtrag: Die Taliban sprechen auf ihrer Webseite von mehr als 50 Opfern und einer gezielten Aktion von Soldaten der ISAF und der afghanischen Armee: Afghan Genocide continues: More than 50 civilians martyred by American terrorists
Nachtrag 2: Nach einem Bericht von Reuters soll es sich doch um mehrere Soldaten gehandelt haben:
Western forces shot dead 16 civilians including nine children in southern Kandahar province on Sunday, Afghan officials said, in a rampage that witnesses said was carried out by American soldiers who were laughing and appeared drunk. (…)
Witnesses told Reuters they saw a group of U.S. soldiers arrive at their village in Kandahar’s Panjwayi district at around 2 am, enter homes and open fire.
Nachtrag 3: ISAF-Kommandeur John Allen hat den Zwischenfall ebenfalls verurteilt. Die Stellungnahme des ISAF-Sprechers, des deutschen Brigadegenerals Carsten Jacobson:
Aber es scheint das erste Mal zu sein, dass ein ISAF-Soldat offensichtlich durchdreht und auf eigene Faust Afghanen umlegt.
Schon vergessen? ‘Kill Team’ Leader Found Guilty of Murdering Afghans
Das afghanische Verteidigungsministerium spricht offiziell von mehreren(!) Tätern: Coalition forces killed 15 civilians in Afghanistan -defence ministry
Viele Afghanen werden annehmen das diese ein Night Raid war und diese jetzt noch intensiver ablehnen.
@b
Das Kill Team habe ich nicht vergessen – dennoch: dass ein Soldat durchdreht und gezielt Zivilisten erschießt, hat offensichtlich eine neue Qualität.
Was die mehreren Täter angeht: Sie verfolgen genau so wie ich die Diskussion derzeit auf Twitter, bei der sich einige (auch afghanische) Kollegen in Kabul fragen, wo der Beleg für die mehreren Täter ist…
Ich denke kaum das es ein Typ war der fröhlich und zufrieden war mit seiner Aufgabe.
Warscheinlich die pure Angst und Unsicherheit wer Freund oder Feind ist. Dieses Symptom gabs es ja schon in Vietnamkrieg wo die Soldaten einfach nicht mehr wussten ob das vor ihnen ein Feind oder Freund ist. Aufjedenfall wurde damit wieder ein Bärendienst in sachen Stabilisiereng getan. Machen wir uns doch nix vor, da unten gibt es nur einen Verlierer und das sind die, die da im Stabilisierungseinsatz sind.
Während es bei afghanischen Soldaten häufig vorkommt, dass sie durchdrehen, (ein Mediziner meinte, das käme angesichts der in Afghanistan praktizierten Verwandtenehen statistisch aufgrund stärkerer Verbreitung von erblich bedingten Verhaltensstörungen naturgemäß häufiger vor) scheint es sich bei ISAF tatsächlich um den ersten Fall zu handeln. Wobei dieser Fall von Überreaktion aus dem Jahre 2007 einige Parallelen zeigt: http://www.nytimes.com/2007/04/20/world/asia/20abuse.html
Manch einer spekuliert ja schon, dass die Häufung solcher schlechten Nachrichten politisch nicht so ungünstig ist, liefern diese Nachrichten doch vergleichsweise gesichtswahrende Ausreden für den von allen gewollten Rückzug. Es wäre dann nicht die gescheiterte Strategie bzw. die unrealistischen politischen Ziele, sondern das Handeln einzelner Leichenurinierer, Koranverbrenner oder Mörder, das in der offiziellen Darstellung das für das Ende des Einsatzes verantwortlich ist.
Also so ganz verstehe ich die bis jetzt bekannte Version der Geschehens noch nicht.
Da verläßt ein Special-Ops Stabsunteroffizier mitten in stockdusterer Nacht die Basis bricht in das Haus des Dorfältestens und tötet dort 11 Menschen jeweils mit Kopfschüssen. Anschließend versucht er Feuer zu legen (die Leichen sind teilweise verbrannt). Ein Stunde später geht er in zwei andere Häuser und erschiesst dort fünf Menschen. Anschließend kehr er zur Basis zurück.
Das sieht mir nicht wie die Panikreaktion eines durchgedrehten Menschen aus sondern wie gezieltes planvolles Vorgehen. Die Frage ist dann zu welchem Zweck er das gemacht hat.
Oder steckt vielleicht eine ganz andere Geschichte dahinter? Die Erfahrung zeigt ja das, mild ausgedrückt, die erste Darstellung solcher Vorfälle durch das U.S. Militär nicht immer deckungsgleich mit dem tatsächlich Vorgefallenem ist.
@b und all
Jetzt gibt es in der Tat Meldungen, die etwas greifbarer von einer Gruppe von Soldaten sprechen. Ergänze ich oben.
Das ist eine schreckliche Tat, aber wo es Menschen gibt, gibt es Außnahmen, jeder ist unterschiedlich und manch einer dreht durch. (z.B. Breivik) Man soll den Täter verhaften und behandeln und dann müssen alle versuchen einen kühlen Kopf bewahren.
Aber vermutlich kommt es jetzt wieder zu Ausschreitungen und das Partnering wird wieder ausgesetzt (wurde es überhaupt wieder angefangen?).
@Alpha – Breivik war nicht durchgedreht. Der hat seien terroristischen Massenmord sorgfälltig geplant, schriftlich ideologisch begründet und in aller Ruhe ausgeführt.
Hier war es den neuen Meldungen nach eine Gruppe besoffener Soldaten.
(Was mein Misstrauen in U.S. Militärverlautbarungen wieder mal bestätigt.)
@b
„Was mein Misstrauen in U.S. Militärverlautbarungen wieder mal bestätigt.“
Wohl noch nie im Einsatz oder in einem höheren Stab eingesetzt gewesen?
Bei solchenVorfällen herrscht erst einmal das übliche „Chaos“ an der Informationsfront. Das hat nichts mit Verschleierung oder Absicht zu tun.
Wenn man valide Informationen haben möchte, muß man einfach immer einige Tage abwarten, dann sind die Presseerklärungen auch aussagekräftig.
Das ist bei den Amerikaner nicht anders als auch bei uns oder anderen Armeen.
@Koffer
„Bei solchenVorfällen herrscht erst einmal das übliche “Chaos” an der Informationsfront. Das hat nichts mit Verschleierung oder Absicht zu tun.“
Da stimme ich Ihnen aus eigener Erfahrung zu 100% zu. Den Fall, dass absichtlich falsche Infomationen an die Medien herausgegeben wurden, habe ich nie erlebt. Man ist sich auch auf amerikanischer Seite vollkommen im Klaren darüber, dass die Probleme umso größer werden, wenn man hinterher falsche Meldungen erklären muss.
Was es hingegen immer wieder gab waren Fälle, in denen innerhalb der Organisation unzutreffend, wiedersprüchlich oder unvollständig informiert wurde. Hier mag es Fälle absichtlicher Falschmeldungen gegeben haben, aber in der Masse der unklaren Fälle hatten Soldaten vor Ort einfach nicht die entsprechenden Informationen. Manche westliche Beobachter stellen sich die Situation viel transparenter vor, als sie eigentlich ist und es besteht die Erwartung an die militärischen Medienleute, praktisch in Echtzeit jedes Details zu übermitteln. In diesem Fall mag es jedoch Wochen dauern, bis alle Informationen vorliegen.
Ein wie immer in verscheidenen Richtungen problematischer Vorgang.
Für mich sind aber an dieser Stelle einmal zwei Bemerkungen von zentraler Bedeutung, so dass ich sie hier niederschreibe:
1. Die mediale Berichterstattung ist gerechtfertigt und notwendig. Aber „gehängt“ wird der Soldat von einem Richter bitte schön!
2. Die US-SK werden hier in ihrer Historie und in ihrer Personalität medial als eine Bande von Kriegsverbrechern gebranntmakt. Das ist insofern unzulässig, als dass diese Verzerrung der diesbezüglichen empirischen Analyse innerstaatlicher/ innermilitärischer Juristikation nicht Stand hält.
Doch um diese Juristikation anzuwenden benötigt es Kläger, Verteidiger und Richter sowie: Zeit. Zeit zum Aufrollen dessen, was dort geschah.Viele haben sich heuer angewöhnt, dass im „Schnellverfahren“ erledigt wissen zu wollen.
Doch sei nochmals angemahnt: der für sich den Rechtsstaat aufs Schild hebt bzgl. des Rechts auf freie Meinungsäßerung und ähnlicher Grundrechte, der solle bitte im nächsten Schritt von einem Abwarten auf den Richterspruch bzgl. der US-Soldaten nicht Abstand nehmen.
Wir sind weder Ankläger, noch Verteidiger, geschweige denn zuständiger Richter-das verbietet nicht den Austausch über das Geschehene, das verbietet nicht die Analyse und das verbietet auch nicht Kritik. ABer es legt die Rolle fest, die Position aus derer man dies tun möge: die des Beobachters.
Bei solchenVorfällen herrscht erst einmal das übliche “Chaos” an der Informationsfront. Das hat nichts mit Verschleierung oder Absicht zu tun.
Vielleicht noch mal etwas über das Massaker von Haditha“ nach lesen? Oder über My Lai? Solche Vorfälle und ihre offizielle Verschleierung/Verheimlichung durch das U.S. Militär haben eine gewisse Tradition.
Was ich bei dem U.S. Militär kritisiere ist nicht Informationsunsicherheit sondern das Information von der ersten offiziellen Verlautbarung an als gesichert dargestellt und verteidigt wird, sich dann aber später als falsch oder schlimmer noch gefälscht herausstellt.
Oftmals wäre es klüger zu sagen „wir wissen noch nicht was tatsächlich geschehen ist“. Das hat man hier wieder einmal nicht gemacht. Statt dessen gab eine offizelle Verlautbarung über einen angeblich durchgedrehten Einzeltäter.
Das wird man angesichts der Zeugenaussagen bald zurücknehmen müssen. Dadurch wiederum verliert man Glaubwürdigkeit, sofern man noch welche hat, insbesondere in der afghanischen Bevölkerung.
Die wird dann auch die nächste offizielle Verlautbarung automatisch und mit Recht in Zweifel ziehen. Dem Auftrag wird durch solche übereilten Falschmeldungen geschadet.
@b
„Oftmals wäre es klüger zu sagen “wir wissen noch nicht was tatsächlich geschehen ist”. Das hat man hier wieder einmal nicht gemacht.“
Ja, genau, weil sich ja auch die Presse (insbesondere die US-amerikanische) mit solchen Aussagen zufrieden gibt.
In solchen Fällen werden dann immer und immer wieder die Gerüchte und/oder die (zumeist noch ungenaueren) Aussagen der lokalen ANP oder des AFG-Gouverneurs und/oder die Lügengeschichten der Taliban verbreitet.
D.h. der Druck eigene Aussagen veröffentlichen zu können ist immens.
„Statt dessen gab eine offizelle Verlautbarung über einen angeblich durchgedrehten Einzeltäter.“
Warten wir mal erst einmal ab, wie sich die Nachrichtenlage in den nächsten Stunden entwickelt…
@b
„“Oftmals wäre es klüger zu sagen “wir wissen noch nicht was tatsächlich geschehen ist”. Das hat man hier wieder einmal nicht gemacht.”“
Ein in einer militärischen Organisation für solche Dinge zuständiger Medienmensch hat mir das Problem mal aus seiner Sicht erklärt: Wer als erster mit irgendeiner Meldung an die Öffentlichkeit geht, bestimme die Wahrnehmung des gesamten Geschehens, unabhängig davon ob die Meldung zutrifft oder nicht. Wenn nun eine Meldung aus irgendeiner Quelle behauptet: „ISAF hat 100 Zivilisten massakriert“, dann sei man erst einmal in einer Situation, in der man praktisch nur verlieren könne. Die Aufmerksamkeit in westlichen Gesellschaften sei sofort hoch, und die Diskussion werde sofort emotional geführt. Wenn man nun sagt: „Wir prüfen noch“, dann werde dies als Bestätigung wahrgenommen, dass etwas an der extremen Version dran sei und ISAF dies vertuschen wolle. Wenn man nun auf Grundlage vorliegender Informationen sagt: „Es wurden 10 mutmaßliche Aufständische, bei einem Luftangriff getötet“, dann habe man, wenn man dies frühzeitig tut, zumindest extremer Desinformation einen Riegel vorgeschoben. Nun komme es leider zuweilen vor, dass die erste Meldung nicht zu 100% zutrifft, weil die Soldaten im Gefecht auch nicht immer den allwissenden Überblick haben und z.B. zunächst nicht wussten, dass im Haus, aus dem sie beschossen wurden, eine afghanische Familie drin war, deren Tod von den Aufständischen einkalkuliert wurde. Nach jedem entsprechenden Gerücht gegenüber der Öffentlichkeit zu erstmal zu erklären, dass es möglich sei dass dies zutrifft, kann aus naheliegenden Gründen jedoch auch nicht die ideale Lösung sein.
Akteure, für dies es keine Probleme nach sich zieht wenn sie Lügen verbreiten, können es sich leisten, sofort mit sehr weitreichenden Behauptungen an die Öffentlichkeit zu gehen und die andere Seite damit unter Druck zu setzen. ISAF kann so nicht agieren und ist deshalb ständig in der Informations-Defensive. Eine Auswertung von Aufständischenpropaganda zeigt am Beispiel der Bundeswehr, wie auf der anderen Seite gearbeitet wird: Verluste der Bundeswehr und zivile Opfer werden ca. um den Faktor 20-50 übertrieben, und soviele „Panzer“ und Hubschrauber wie die Aufständischen schon vernichtet haben wollen hat die Bundeswehr insgesamt nicht zur Verfügung. Manch westlicher Journalist freut sich dennoch wenn er etwas zu berichten hat, das er direkt von Hr. Mujahed bekommen hat.
Die Medienabteilungen innerhalb von ISAF müssenden ständigen Spagat zwischen Befriedigung des Bedürfnisses nach absoluter Transparenz und akkurater Information einerseits und militärischen Anforderungen an die Wirkung des gesagten andererseits überbrücken. Das scheint kein einfacher Job zu sein.
Wenn es sich nicht tatsächlich um mehrere Täter handelt, dann muss man sich über das afghanische Verteidigungsministerium wundern. Denn das würde ja damit direkt der Talibanpropaganda zuarbeiten. Jaja, ich ahne was mir jetzt geantwortet wird…
@Orontes:
zum Thema durchdrehen: 2009 hatten wir einen amerikanischen Kameraden der manisch depressiv war und damitzum Dienst an der Waffe nicht geeignet (zumindest zuhause). Er wurde aber mit seiner Einheit trotzdem nach Afghanistan verlegt und dort auch bewaffnet. Binnen einer Woche erschoss er sich vor seinen Kameraden und man schickte die ganze Truppe wieder nach Hause, da traumatisiert. Es gibt eine ganze Menge Leute, die einen Knacks „weghaben“ und trotzdem in den Einsatz gehen.
Dieses Verbrechen deckt meines Erachtens noch eine weitere Ebene der Narration auf. In vielen Erzählungen hat ja jeder Afghane mindestens ein AK-47 im Schrank, ist das ganze Land bis an die Zähne bewaffnet und wartet nur darauf, die Invasoren zu massakrieren. Sieht so aus, als sei das doch nicht so ganz war. Es gibt eine afghanische Zivilgesellschaft, die gegen die Gewalt der Taliban ebenso wehrlos ist, wie gegen die der ISAF.
@Sascha Stoltenow: Was spricht dagegen, den die Argumentation einen Schritt weiter zu führen? Die Geschichten über das „bis an die Zähne bewaffnete“ Land, das „nur darauf wartet, die Invasoren zu massakrieren“, liefern doch eine glatte Rechtfertigung: Der Soldat hat letztlich nur Feinde getötet, bevor die ihr AK 47 aus dem Schrank holen und auf ihn anlegen konnten. Was könnte daran falsch sein?
Die laufenden westlichen „Inf-Ops“ (heißen die wirklich so?) liefern doch wohl nichts anderes als die reine Wahrheit.
BBC schreibt in diesen Artikel
Das läßt weiter an der Behauptung es sei ein Einzeltäter gewesen zweifeln.
http://www.focus.de/politik/ausland/afghanistan/hirnverletzung-seit-irak-einsatz-us-amokschuetze-in-afghanistan-droht-todesstrafe_aid_723434.html
Der US Verteidigungsminister schließt die Todesstrafe für den Amokschützen nicht aus.
Wieviel da dran ist wird die Zukunft wohl zeigen.