Und es geht weiter: Tote bei Protesten gegen Koran-Verbrennung
Gestern habe ich schon versucht, es deutlich zu machen: Die gewalttätigen Proteste gegen die Verbrennung von Exemplaren des Koran auf einer Müllhalde vor dem ISAF/US-Stützpunkt Bagram in Afghanistan haben ihre Auswirkungen auf ISAF – der religiöse Hintergrund und die Frage, ob hier geschickt ein Anlass genutzt wird, ist dabei erst mal zweitrangig. Heute hielten die Proteste an, mindestens vier, vermutlich mehr Menschen kamen dabei ums Leben.
Gestern hatten sich bereits ISAF-Kommandeur John Allen und US-Verteidigungsminister Leon Panetta dafür entschuldigt; heute brachte das der stellvertretende US-Verteidigungsminister Ashton Carter bei einem (ohnehin geplanten) Treffen mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karzai ebenfalls zur Sprache.
(Foto: Präsidentenpalast Afghanistan)
Interessant zur Einordnung finde ich den Kommentar von Turan Saheb hier:
Das Problem ist nicht eine nicht sensibel genug durchgeführte Entsorgung von Alt-Koranen, sondern die Kombination aus absoluter Machtlosigkeit der Afghanen im eigenen Land (gefühlt und echt) und Vorkommnissen wie diesem, die als Katalysator dienen. Die Frustration über das sich langsam dem Ende nähernde westliche Experiment ist in weiten Teilen der Bevölkerung enorm hoch, auch unter unseren eifrigsten Unterstützern. Wir erinnern uns, wie frustriert hier die meisten Kommentare sind, wenn mal ein, zwei oder drei Deutsche in Afghanistan umkommen – dagegen ist es ganz natürlich, dass ständig Afghanen in Afghanistan getötet werden. In die Luft gesprengt von Taliban, erschossen an einer Straßensperre der afghanischen Polizei, bei einem ISAF-Drohnenangriff aus Versehen oder aufgrund schlechtem Intel aus dem Leben befördert… Und “die kharejis (Ausländer)” sind nun einmal nicht nur optisch die prägende Macht des Landes, die dann dafür verantwortlich gemacht wird.
@Roman
„Muslimische Bomber haben Europa bomardiert. Madrid, Köln und London schon vergessen?“
Für die zunehmende Ablehnung islamischer Zuwanderer durch europäische Bevölkerungen ist das ein eher nachrangiger Faktor. Wichtiger ist die Wahrnehmung ausbleibender Integration, mangelnden Respekts für die Gastgesellschaften, ethnischer Verdrängungsprozesse, Gewalt und Kriminalität und ähnliche Erscheinungen. Diese Erscheinungen sind v.a. in Großstädten für eine wachsende Zahl von Menschen direkt erfahrbar. Die religiöse Dimension wird dabei gerne in den Vordergrund gestellt, weil sie besonders gut greifbar ist, aber die weltanschauliche Ebene ist nur eine von vielen, auf der sich ethnische und identitäre Konflikte äußern. Die für die Unruhen in London 2011 hauptverantwortlichen Täter waren z.B. vorwiegen nichtmuslimische Schwarze karibischer Herkunft, die mit Masse ebensowenig integriert sind wie der Großteil der muslimischen Pakistaner in UK oder Nordafrikaner in FRA. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Polarisierung direkte sicherheitspolitische Relevanz bekommt bzw. In eurpäischen Bevölkerungen radikale Reaktionen hervorruft. Das Thema wird uns noch lange begleiten, und es wird nicht einfacher werden.
@ Roman – ja: nichstaatliche Akteure. Dabei sind einige Dutzend oder vielleicht auch hundert Menschen ums Leben gekommen. Das ist gerade mal ein winziger Bruchteil von dem was westliche, demokratisch legitimierte Regierungen an Blutzoll von den Menschen in Beirut, Gaza, Fallujah, Kabul und in der Zukunft vielleicht noch dem Iran gefordert haben, ohne dass wiederum irgendein Akteur auf dieser Welt in der Lage wäre, sie vor den Armeen und Luftwaffen des Westens zu beschützen bzw. eine wirklich spürbare Rache zu nehmen.
Dabei geht es mir nicht um ethische Bewertungen, das ist nicht mein Fachgebiet und ich halte es für irrelevant: hier geht es um ganz subjektive Empfindungen von Menschen, deren Wahrnehmung genauso selektiv und bruchstückhaft sind wie die vom BILD-Leser in Castrop-Rauxel, der sich nicht mit großer Politik auskennt, auskennen will und es vielleicht auch nicht mal könnte, wenn er wollte. Aber wir sollten jedenfalls in der Lage sein zu erkennen, dass ziemlich viele Menschen so frustriert sind, dass wir es sowohl auf der groß-strategischen Ebene (wie gestalte ich meine Politik) als auch auf der taktischen (verbrenne ich ein paar Korane) in unsere Planungen einbeziehen sollten.
Was mir in der ganzen Diskussion – nicht nur hier – fehlt, wäre einmal die Aufklärung, wie denn eine „religionskonforme Entsorgung“ einer heiligen Schrift zu erfolgen hat? Muss die von einem Imam vorgenommen werden, dass Buch quasi entsegnet werden? Dies soll keinen Sarkasmus, sondern wirklich eine pragmatisch orientierte Frage sein.
Dass eine angedachte/ durchgeführte Verbrennung das Potential zur Eskalation besitzt, leuchtet mir ja vor dem kulturellen Hintergrund ein und war einfach bescheuert, aber wie um Gottes Willen (im Wahrsten Wortsinne) soll man das denn nun anstellen?
Wir sprechen hier aber auch von Terroristen, welche von Staaten aktiv unterstützt wurden. Sei es als Waffenlieferanten, der Zuweisung von Zielen, die Beheimatung von Ausbildungslagern oder der Zuverfügungstellung von Rückzugsgebieten.
Dass es keinen Schutz vor westlichen Armeen gibt, ist ja wohl tropfende Propaganda – sorry. Diese Affinität zu den Diktaturen dieser Welt, kann ich nicht teilen.
Die von Ihnen angesprochene Frustration, sollte man auch uns und unseren Verbündeten zugestehen. Das gebetsmühlenhafte, ständige Wiederholen gewisser Medien und Gruppierungen der Zuordnung unserer Gesellschaft, als zB nur in der Bringschuld stehend, wird nicht nur mir ziemlich zuwider sein.
@ mwk, es geht um Wahrnehmungen in einem Teil der Welt in dem wir nur sehr begrenzt eigene Interessen haben. Und den wir seit Jahren versuchen, nach eigenen Vorstellungen durch Waffengewalt umzugestalten. Der Unterschied Diktatur oder Demokratie ist da – sorry – Fliegenschiss an der Wand für die Leute, die betroffen sind. Faktisch unterliegt die westliche, unbegrenzte Macht keiner Kontrolle außerhalb des Westens. Die indirekte Kontrolle durch Popularitätswerte im Westen sind da ein kleiner Trost wenn man auf der potentiellen Empfängerseite unserer Waffen steht, und das tun die Leute, von denen wir reden nun einmal. Gegen das, was wir an Blut in dieser Weltregion vergossen haben und in den kommenden Jahren wohl weiterhin vergießen werden ist diese ganze Terrorismus-Kiste bei uns nun wirklich nur aufgehypet. Da hätte ich auch gar kein Problem mit – es ist, wie schon Herr Broder so schön sagte, immer besser Täter als Opfer zu sein. Die Frage ist nur, ob es überhaupt im eigenen Interesse ist, überhaupt irgendwie involviert zu sein; da würde ich ganz klar sagen dass der Freiluftversuch „Wir ändern mal eben die muslimische Welt“ ganz gewaltig nach hinten losgegangen ist und wir uns ins eigene Fleisch geschnitten haben. Wir sollten aber so schlau sein, dass ggf. ganz nüchtern und unaufgeregt zu erkennen, zu registrieren und zu überlegen, ob wir unsere Politik anpassen (oder ebenso nüchtern und unaufgeregt zu einer anderen Beurteilung der Lage zu kommen), statt uns aufzuregen. Letzteres steht uns nach objektiver Bewertung der Fakten nun gerade wirklich nicht an – und unproduktiv ist es auch noch. Warum also aufregen?
Wer sagt denn, das es nichtstaatlich Akteuere waren? Klar, sie haben keinen Dienstausweis, so wie wir uns das vorstellen, aber die Organisation, Waffenlieferung, Witwenversorgung funktioniert schon als staatsähnliches Gebilde. Zumal das Aufrechnen der Toten nicht sinnvoll ist. Wer Wind säht, kann Sturm ernten. Das hätte den Akteueren vom 11. September bewusst sein sollen und war es dann wohl auch. Die Terroristen in Syrien, die diesen Bürgerkrieg angefangen haben, machen diese Erfahrung auch gerade. Wenn ein Staat sich anfängt zu wehren und nach und nach die moralischen Schranken fallen, da man immer weniger zu verlieren hat und kaum noch von heute auf morgen zur Normalität zurückkehren kann, dann ist der Bodycount ungleich größer auf der Seite der staatlichen Akteure. Und zurecht.
Zurecht oder zuunrecht ist sicherheitspolitisch keine Kategorie. Die Frage ist, was wir wollen und wie wir dahinkommen (und ob es das dann wert ist). Eskalieren ist nicht immer im eigenen Interesse – klar können wir das machtpolitisch, von mir aus auch moralisch (ich halte es da mit unsere demokratische Vorvätern aus Athen: „Wir glauben nämlich vermutungsweise dass das Göttliche, ganz gewiss aber dass alles Menschliche allzeit nach dem Zwang seiner Natur soweit es Macht hat herrscht.“) und genau das wollten die Jungs von al-Qaida ja auch. Den Gefallen haben wir ihnen getan und rückgängig können wir es nicht machen (umgekehrt ist sicher auch nicht alles so gelaufen, wie die es sich gedacht haben). Jetzt gehts für uns ums Hier und Jetzt sowie die Zukunft.
Und dabei gilt: Wir sind im Krieg. GUT ist alles, was uns hilft diesen Krieg zu gewinnen. Gewonnen wird er bekanntlich nicht konventionell durch das Zerschlagen von strukturierten gegnerischen Kräften, sondern durch Mobilisierung von Menschen. Und zwar vor allem den Betroffenen vor Ort, in Afghanistan. Wenn wir es schaffen, mehr Leute mit höherer Motivation und Opferbereitschaft für uns zu mobilisieren und vor dem Gegner zu schützen als der Gegner mobilisieren und vor uns schützen kann, werden wir gewinnen. SCHLECHT ist umgekehrt alles, was dem Gegner hilft, Leute für seinen Zweck zu mobilisieren. Nicht zu wissen, was bei der Mobilisierung für oder gegen uns eine Rolle spielt, ist eine Bankrotterklärung; dann können wir zwar noch ein paar assets des Gegners kaputt machen, sind aber weitgehend irrelevant für den Ausgang des Krieges. Und dann müssen wir mal ernsthaft durchrechnen, ob sich die Kosten noch lohnen.
@T.Wiegold, @Orontes hat es bereits gesagt, es ist natürlich unsinnig, ein derartiges Thema zu „anzureißen“, eine Diskussion über die politischen Zusammenhänge aber zu verweigern. Leider verfahren Sie häufig so. Wenn die Diskussionen „unangenehme“ Themen berühren, verweisen Sie auf den thematisch engen Rahmen Ihres Blogs.
Am 11.Jan 2011 hat Helmut Schmidt vor der Max-Planck-Gesellschaft gesagt:
Vor anderthalb Jahrzehnten hat der Amerikaner Samuel Huntington die Gefahr eines „clash of civilizations“ beschrieben. Heute müssen wir erkennen: Diese Gefahr ist real. Sie besteht insbesondere für das Verhältnis zwischen dem Westen insgesamt und den islamisch geprägten Staaten (etwa ein Viertel aller Staaten der Welt).“
Diese „reale Gefahr“ hat natürlich auch sicherheitspolitische Dimensionen, die man nicht mit dem Kampfbegriff der „Islamophobie“ zudecken und die deshalb auch in Ihrem Blog zur Diskussion stehen sollte.
Warum ist es für deutsche Politiker und Medien so verpöhnt, über unsere eigenen Interessen zu sprechen ?
Naja – „die Änderung der muslimischen Welt“ (die es Gott sei Dank so nicht gibt),, ist mM etwas zu groß angesetzt. Der Westen hat sich primär im Sinne der Selbstverteidigung, um terroristische Regime „gekümmert“. Leider wurde das teilweise, auch bei unseren Politikern, nicht als Bestrafung von Tätern, sondern als Aufgabe einer besseren Gesellschaftsform gesehen, die dortigen Völker mit unseren Ansichten von Richtig und Falsch zu bekehren. Ich wage zu behaupten, dass es anfangs bei dem AFG-Feldzug, nur um die Bestrafung der Hintermänner und Vernichtung von Tätern ging. Erst als die Medien die „armen Leute“ als Aufhänger für ihre Berichte über AFG fokussierten, wurde der Sinn dieser Aktion in die des „Nationrebuildings“ pervertiert.
Das innerstaatliche Problem hat sich in all den Jahren nicht geändert : wir könnten unsere Truppen nach Hause holen (können wir das ?) – auf die Intensität der allgegenwärtigen Gewalt in AFG hätte das keinen Einfluss.
Wir sollten auf den alten Pfad zurückkehren, den der Selbstverteidigung – was eine Befähigung zum Erstschlag nicht ausschließen muss.
Und vor allem : unsere Interessen und Handlungsgrundsätze klar definieren.
Ist natürlich Auslegungssache :
Da unten herrscht ein kriegsähnlicher Zustand und wir haben Kampftruppen im Einsatz die in Gefechte verwickelt werden. Im Krieg sind wir nicht. (oops).
Sonst würden wir ein Ziel haben und dies mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgen.
Ist es nicht vielmehr so, dass unser Aufenthalt in diesem Land, von der dortigen Regierung erwünscht ist, doch unsere Lager, unsere Patroullien angegriffen werden und unsere Aktionen mehrheitlich als defensiv angesehen werden können ?
Bei all den Schuldzuweisungen auf unserer Gesellschaft, Regierungen und Militärs..
Hat sich eigentlich einmal jemand ausgemalt, wie die Welt aussehe, wenn wir die gleiche groteske Empfindlichkeit und offen zur Schau getragene Aggressivität an den Tag legen würden ? Und dies im Kontext unserer militärischen Fähigkeiten ?
@mwk: dann sind wir uns in einem Teil einig – es geht um (unsere) Interessen und nicht um Schuldzuweisungen. Das so weit wie mögliche Vorhersehen von Reaktionen Betroffener liegt aber dabei ganz klar in unserem Interesse. Und da ist es meiner Meinung nach nun wirklich nicht fern liegend, dass man als ganz klar Schwächerer, der nunmal fast ausschließlich den Blutzoll zu tragen hat in Einzelfällen „grotesk empfindlich“ und „offen aggressiv“ reagiert. Wer sich in der Defensive fühlt und klar unterlegen ist wird immer empfindlicher reagieren als jemand, der im Bewusstsein seiner eigenen Stärke über Kleinigkeiten wie eine Koranverbrennung hinwegsehen kann. Wie sie schon sagen, wir haben militärische Fähigkeiten, die wir zum Einsatz bringen können, wenn es mal wieder nötig wird – und damit können wir jedes aufgeklärte Ziel vernichten, so lange wir es nachher vor der eigenen Presse rechtfertigen oder verstecken können. Dieses beruhigende Bewusstsein haben Afghanen nun mal nicht, die haben weder gegenüber der eigenen Regierung noch gegenüber den Taliban noch gegenüber der Polizei noch gegenüber den lokalen Kommandeuren noch gegenüber uns irgendwelche echten Optionen außer demütig alles hinnehmen. Was die meisten Afghanen ja entsprechend sogar bei toten Angehörigen machen, einen aber auch schon mal ziemlich fuchsig machen kann. Da bleibt uns nur diese gewisse angestaute Wut aufmerksam zu registrieren und zu vermeiden, den Talibs ne Propaganda-Steilvorlage zu liefern. Also, keinerlei Schuldzuweisung an unsere Gesellschaft, Regierung und Militärs, aber in diesem Krieg sich nicht darum zu scheren wie die Afghanen ticken ist so wie in nem herkömmlichen Krieg nen Leo nicht von nem T72 unterscheiden zu können und auch noch stolz drauf zu sein.
@Politikverdruss
Diese Diskussion haben wir schon ad nauseam hier geführt. Komischerweise kommt dieser Vorwurf immer dann, wenn es um Themen unter dem Oberbegriff clash of civilisations geht (bei so was wie Finanzkrise, die ja auch sicherheitspolitische Implikationen hat, dagegen praktisch nie). Jedem steht es frei, zu seinem Thema in diesem Netz eine Diskussionsseite aufzumachen. Belehrungen, was in den Rahmen dieses Blogs gehört und was nicht, mag ich nicht mehr so gerne.