Atalanta ohne Vorbehalte
Zum auslaufenden Wochenende noch der Nachtrag: Am (gestrigen) Samstag hat Deutschland erstmals seit Bestehen der EU-Antipirateriemission Atalanta den Posten des Force Commanders übernommen. Flotillenadmiral Thomas Jugel wird bis Anfang Dezember von der deutschen Fregatte Bayern als Flaggschiff den Einsatz am Horn von Afrika kommandieren. Während die Deutsche Marine die Führung der Operation vor Ort innehat, wird das deutsche Atalanta-Kontingent ab Anfang September durch eine zweite Fregatte, die Köln, verstärkt.
Flottillenadmiral Thomas Jugel übernimmt das Kommando vom amtierenden Befehlshaber, Commodore Alberto Manuel Silvestre Correia aus Portugal. (Foto: Bundeswehr/PIZ Marine Djibouti via flickr unter CC-Lizenz)
In seinem ersten Interview hat der neue Kommandeur – erwartungs- und mandatsgemäß – den Schwerpunkt der Atalanta-Mission auf die Absicherung der Schiffe des Welternährungsprogramms für Somalia gelegt. Interessanter finde ich allerdings eine andere Aussage des Flotillenadmirals:
Die Einsatzregeln sind innerhalb der Europäischen Union abgestimmt. Das heißt, die Mitgliedsstaaten, welche Einheiten oder Flugzeuge schicken, haben diesen Regeln zugestimmt. Ich freue mich sehr sagen zu können, dass es keine abweichenden Einsatzregeln gibt, die mich in der Erfüllung meines Auftrags behindern würden.
Ein wenig überraschend – in einem multinationalen Einsatz, sei es unter NATO- oder EU-Kommando, findet sich praktisch immer für eine oder mehrere Nationen ein Vorbehalt bei den Einsatzregeln, ein sogenannter caveat: Sei es, dass eine Nationen für ihre Soldaten nächtliche Boardings ausschließt oder gewaltsame Geiselbefreiungen. Nach den Worten Jugels gibt es also bei Atalanta jetzt kein einziges solches caveat. Was eine Nation kann, können alle. Da scheint mir eine recht ungewöhnliche Möglichkeit für einen Kommandeur.
(Gespannt bin ich übrigens immer noch auf Details der schon vor längerem angekündigten Überarbeitung des Operationsplans.)
Neinneinnein… der Wortlaut des Admirals sagt keinesfalls aus, dass es keine caveats gibt – aber was soll er sonst auch im Radiointerview sagen? Dass die Einsatzregeln seinen Auftrag unmöglich machen oder erschweren?
Wenn man die Aussage des zitierten Abschnitts wörtlich nimmt, eröffnet sich eine gewisse Subtilität – das ist schon fast politisch:
„Die Einsatzregeln sind … abgestimmt“: das heißt nicht, dass sie einheitlich sind – nur „abgestimmt“.
„… Mitgliedsstaaten … haben diesen Regeln zugestimmt“: Das gilt auch, wenn es caveats gibt und die Einsatzregeln nicht einheitlich sind; die werden trotzdem mit Sicherheit vor „Zustimmung“ „abgestimmt“ (sonst wäre die Führung des Verbands ja noch viel schwieriger – mit uneinheitlichen, unabgestimmten ROEs!)
„… keine abweichenden Einsatzregeln gibt, die mich … behindern würden“: Dieser Satz ist, wörtlich genommen, äquivalent zu: „Die Einsatzregeln behindern die Auftragserfüllung nicht“. (Das Wort „abweichenden“ hat eigentlich keine Bedeutung – abweichend wovon?) Das ist eine Feststellung über die Einsatzregeln, die aber über die Eigenschaften dieser Regeln nichts aussagt. (Eine vollständige Aufstellung der Folgerungen aus dem Satz würde noch die Möglichkeit von nicht-abweichenden Einsatzregeln lassen – und der Satz trifft über diese gar keine Aussage…)
Diese Auslegung läßt natürlich immer noch die Möglichkeit offen, dass es tatsächlich einheitliche ROEs für alle teilnehmenden Einheiten gibt – was zu wünschen wäre. Die Wahrscheinlichkeit hierfür halte ich für eher gering.
H. Wilker
Sollte ich den Admiral so missverstanden haben?
Das weiß ich nicht – wie gesagt, es kann tatsächlich so sein, wie es klingt. Ich habe den O-Ton nicht gehört, sondern nur das Transkript gelesen. Wenn der O-Ton „frei von der Leber“ gesprochen ist, steigt die Wahrscheinlichkeit dafür. Wenn der Admiral aber ein guter Politiker ist, dann kann er solche Klauseln mit Vorsatz auch im freien Vortrag sauber ins Mikro sprechen.
Hoffentlich haben die auf der Bayern noch ein paar Kabinen für Juristen und Sprachwissenschaftler frei.
hwilker | 15. August 2011 – 9:37
caveats?
ROEs?
ROE steht für „rules of engagement“, also die Einsatzregeln: Darf überhaupt geschossen werden? Falls ja, nur zur Selbstverteidigung oder auch bei der Verfolgung eines Gegners usw.
Caveat bedeutet Vorbehalt, d. h., einer oder mehrere der Verbündeten behalten sich vor, sich nur in begrenztem Rahmen an einem bestimmten Einsatz zu beteiligen und bestimmte Handlungsweisen von vorneherein für sich auszuschließen.
Bei einem Anti-Pirateneinsatz könnte das z. B. bedeuten, es abzulehnen, auf Piraten zu schießen und sie allenfalls abzudrängen.
@Stefan: Tschuldigung, habe vergessen, dass die Abk. besser ausgeschrieben werden sollten :) Ich gelobe Besserung.
@chickenhawk: Danke! Könnte man direkt ins Glossar übernehmen…?
Und die Sprachwissenschaftler braucht Admiral Jugel doch offenbar gar nicht. Ich bin bei solchen Äußerungen mit der Zeit sehr empfindlich für diese Art der Wortklauberei geworden – rein zur Verteidigung. Schließlich hängen sich an solchen Dingen später Skandale und Wahlverluste auf…
Gutes Training dafür ist m. E. die Lektüre von Transkripten der Bundespressekonferenz über einschlägige Themen (der Luftangriff bei Kunduz ist ein gutes Beispiel). Ich frage mich manchmal, ob die Journalisten auf der einen Seite und Politiker bzw. Pressesprecher auf der anderen sich bewußt sind, wie dämlich sich diese Art des Informationsübermittlungsverhinderungsversuchs im Quelltext darstellt.
Ach, und noch einer: Kleine Anfragen aus dem Bundestag an die Bundesregierung und deren Antworten sind ähnlich amüsant.
So wie ich das verstanden habe, sind ROE nach deutschem Verständnis nicht Regel, die die Anwendung von abgestuften Formen der Gewalt erlauben, sondern sie einschränken. d.h. solange ich keine einschränkende ROE habe, kann ich alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, was natürlich im Fall der etwas verworrenen Rechtslage ind Bezug auf ATALANTA etwas schwer ist. Im amerikanischen Verständnis ist es so, wie Stefan es beschrieben hat.
@chickenhawk Davon, dass der CTF einen Rechtsberater dabei hat, würde ich mal ausgehen. Sprachmittler könnte sein, aber vermutlich eher nicht.
@Koni: ROEs sollen und erfuellen beides. Sie erlauben Gewalt und/oder beschraenken sie. Ansonsten kann/darf ich nur im Rahmen der (erweiterten) Selbstverteidigung agieren!
Bezgl. der Sprachmittler ging es hier sicher nicht um einen, der Somali kann, sondern sich in der politischen korrekten verwirrenden verklausulierten Gedankenwelt eines politisch denkenden Admirals auskennt…
@hwilker:
Vielen Dank für Exegese.
Unsere Admirale und Generale wollen halt ganz bewußt mißverstanden werden.
Durch zweideutige Formulierungen erweckt man beim „Empfänger“ (Öffentlichkeit, Medien, Parlament) ein allgemeinsprachlich nachvollziehbares Verständnis und sagt aber in Wahrheit etwas Anderes.Die hohe Schule der Bürokratie.
Insbesondere die Formulierung „keine abweichenden Einsatzregeln gibt, die mich in der Erfüllung meines Auftrags behindern würden.“ hat ja schon öfters als Begründung herhalten dürfen. Z.B. bei Aufstellung der QRF waren die seit SFOR unveränderten ROE angeblich auch kein Problem.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Nachtrag:
„Was ich feststellen darf, ist, dass die Regeln robust genug sind. Dass wir, ich sage mal vom Telefongespräch mit den Piraten bis hin zu robusteren Maßnahmen, also Warnschüssen und dergleichen alle Mittel zur Verfügung haben, um Piraten abzuschrecken, um Angriffe zu verhindern, also da fühle ich mich sehr wohl.“
Naja, wenn derlei defensive Maßnahmen schon robust sind.
Interessant wäre, ob sich nun alle Staaten – insbesondere Deutschland – an der Aufbringung von Mutterschiffen beteiligen.
Man kann ja einem OPLAN zustimmen und dann Klarstellungen hierzu beifügen..
Bei ISAF hatten wir ja – offiziell – auch keine caveats, sondern Klarstellungen, die den Einsatz – nach Aussage der Kommandeure – nicht behinderten…
@Memoria
der von Ihnen angesprochene Effekt der „konstruktiven sprachlichen Ambiguitaet“ bei Flag-level-PAO ist einfach die Folge der politischen Realitaet bei robusten internationalen „security“ Operationen an der Schnittstelle zwischen military action und law enforcement.
Wenn man einmal einen abgestimmten und von den Nationen gebilligten CONOPS/OPLAN mit daran angehaengten ROE, Technichal Arrangements wie MOU, SOA etc hat, dann macht man ihn besser nicht mehr auf. Warum ? Nun, die Erfahrung zeigt, dass die UNITY of Operational CONTROL waehrend der laufenden Operation auseinanderbricht, denn wenn man einen abgestimmten item erneut zur Debatte stellt, dann geht der ganze Abstimmungsprozess von Vorne los…..so geschehen z.B. bei der UNIFIL MTF. Deswegen tut sich auch die die VN so schwer, Mandate sowie CONOPS und OPLAN bei UN-Peace Keeping Operations der Lageentwicklung anzupassen.
Man nennt das den systemic, built-in mission creep effect.
@ Klabautermann:
Zu den Zwängen in internationalen Einsätzen gebe ich Ihnen Recht, aber das das war nicht mein Thema. Meine Kritik bezog sich nicht hierauf oder auf PresseOffze/ PAO, sondern auf unsere militärische „Elite“, die vor lauter Opportunismus nicht mehr in der Lage ist die Dinge so anzusprechen wie sie sind. Diese interne und externe Schönrednerei ist in Teilen unverantwortlich.Ausbaden muß dieses Duckmäusertum jedoch jeden Tag die kämpfende Truppe – mit teilweise erheblichen Folgen.
Noch ne allgemeine Frage: Sind sie von der Luftwaffe oder einfach zu lange bei der NATO..? ;o)
@Memoria
viel schlimmer: ich bin Marine……;-))
….und ich gehoehre G.s.D. nicht der „Elite“ an, die qua Dienstgrad und/oder Kommando (also von Amts wegen) dazu verpflichtet ist, auch politisch zu denken und sich zu aeussern….das ist uebrigens ein internationaler Standard und kein typisch deutscher…
Ob ich zu lange dabei bin? Vielleicht…….;-)
@klabautermann:
Was heißt da viel Schlimmer?
Vor der Marine hat man doch Respekt – im Gegensatz zur… :-)
Zurück zum Thema: Sich öffentlich zurückhaltend zu äußern ist das Eine.
Aber intern und ggü. der Politik die Dinge anzusprechen wie sie sind ist das Andere – und genau daran fehlt es. Nach meinem Eindruck auch im internationalen Vergleich. Da wären wir wieder bei der Null-Fehlerkultur. Die muss aber von ganz oben (IBuK) aufgebrochen werden, denn zum Lügen gehören bekanntlich immer zwei. Nur wenn man jetzt den Planungstab endgültig auflöst, dann will man wohl auch angelogen werden.
Das es auch anders ging zeigten Struck/ Borkenhagen oder noch früher der Erfinder des Planungsstabes (H. Schmidt). International hat aus meiner Sicht Gates gezeigt, dass man den Apparat nicht alleine laufen lassen darf und muss.
Etwas „Yes Minister“ schauen oder Max Weber lesen könnte der Leitung des BMVg sicherlich nicht schaden.
@memoria
der von Ihnen angesprochenen „Null-Fehler“ Kultur Bonner Provinienz ist imho auch eine Folge der sehr starken Zentralisierung der militaerischen Fuehrungsstruktur der Streitkraefte und die Einbettung der „wahren“ strategisch/operativen Fuehrungsspitze in den Politzirkus der Regierung in Berlin. Aber wer hat denn unter den Stichworten „Fuehrung aus einer Hand“ und „Staerkung der Position des GI“ diese Un-Kultur herbei gefuehrt ?? Insofern stimme ich Ihnen zu: zum Anluegen gehoeren immer 2 ;-)…..Insofern erhoffe ich mir durch die Auslagerung der Inspekteure aus dem BMVg wieder die Abkehr von einer ultra-hierarchischen, zentralistischen und politisch korrekten Fuehrungsstruktur zu einer moderen, sach-/fachlich orientierten Heterarchie der militaerischen Fuehrungsstruktur, die eben nicht nur von der Delegation nach oben lebt.
@Klabautermann und @Memoria
Schön ist die Vorstellung, dass mit der geographischen Entfernung der Führungskommandos vom Politzirkus eine Besserung und eine Wiedereinkehr von Realismus kommen könnte. Aber ich stelle mir mehr ein Herumreisen der jeweiligen „Befehlshaber“ vor mit dem Wunschziel, im politischen Berlin in der Wartehalle des Paul-Löbe-Hauses sitzen zu dürfen und den Damen und Herren im Ausschuß militärische Nachhilfe zu geben. Kurzum: Echte Aussicht auf Besserung ist ein Wunsch, aber keiner, der so einfach in Erfüllung gehen wird. Leider.