AWACS, ein deutsches Schicksal

Was ist wohl das umstrittenste Waffensystem der jüngeren deutschen Militärgeschichte? Welches System, an dem Bundeswehrsoldaten Dienst tun, führte in den vergangenen 20 Jahren zum heftigsten Streit bis hin zu mehrfachen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts? Vielleicht Kanonen oder Raketen, weitreichende Artillerie oder sicherlich die Tornado-Jagdbomber der Luftwaffe mit der Ausrüstung zum Abwurf von (amerikanischen) Atombomben?

Weit gefehlt.

Den meisten Streit gab es um eine unbewaffnete Flugzeugflotte mit Luxemburger Zulassung, die nicht von der Luftwaffe betrieben wird und für das Soldaten (und Soldatinnen) in deutscher Uniform nur einen Teil der multinationalen Besatzungen stellen: Das Airborne Early Warning and Control System (AWACS) der NATO, stationiert auf dem Flugplatz im deutschen Geilenkirchen bei Aachen, direkt an der Grenze zu den Niederlanden. Und so ziemlich das einzige System, über das die NATO selbst verfügt und das nicht einem der Bündnispartner gehört, auch wenn Deutschland maßgeblich zur Einsatzbereitschaft dieses ganz besonderen Verbandes beiträgt.

Boeing E-3A NATO LX-N90451 appr ETNG

Boeing E-3A NATO-AWACS (LX-N90451) approaching Geilenkirchen Air Base, Germany (ETNG). (Foto: Arcturus/Wikimedia commons unter CC-Lizenz)

Schon 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht über eine Klage der FDP, damals auch Mitglied der Regierungskoalition, und der SPD-Opposition gegen einen AWACS-Einsatz: Seit Oktober 1992 waren die Überwachungsflugzeuge im Einsatz, um das Flugverbot über Bosnien-Herzegowina zu kontrollieren. Diese AWACS-Mission und der deutsche UN-Einsatz in Somalia waren die ersten bewaffneten Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets – und die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts führte dazu, dass dem Bundestag das Recht zugesprochen wurde, in jedem Fall über diese Missionen zu entscheiden. (Das Urteil selbst ist leider nicht online, da das Internet-Archiv des Verfassungsgerichts nur bis 1998 zurückreicht; der Tenor ist hier zu finden.)

2003 klagte die FDP erneut – über die Entsendung der AWACS-Flotte in die Türkei. Zwar innerhalb des NATO-Bündnisgebiets – aber am Rande des Krieges der USA gegen den Irak. Das Verfassungsgericht lehnte damals zwar die von den Liberalen verlangte einstweilige Anordnung ab, mit der die Oppositionspartei sicherstellen wollte, dass der Bundestag über diesen Einsatz entscheiden muss. Doch 2008 entschied das Karlsruher Gericht: Der Bundestag hätte für diesen Einsatz gefragt werden müssen. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte greift ein, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist.

Das ist Geschichte? Von wegen. Das unbewaffnete Überwachungssystem scheint sich so gut wie kein anderes militärisches System für den politischen Dauerstreit in Deutschland zu eignen. So auch ganz aktuell: Vergangene Woche beschloss der NATO-Rat – erneut – den Einsatz der fliegenden Radar-Plattformen über Afghanistan. Der Beschluss fiel, wie in diesem Gremium nicht anders möglich, einstimmig – also mit dem deutschen Votum. Allerdings: die deutschen Besatzungen, also rund ein Drittel der Personalstärke des AWACS-Verbandes, soll nicht dabei sein. Was, naturgemäß, die Einsatzmöglichkeiten ein wenig reduziert.

Wie kommt es zu diesem etwas merkwürdigen Vorgehen? Dazu erst ein kurzer Rückblick. Schon im Sommer 2008 lag der Wunsch der ISAF-Verantwortlichen vor, zur Überwachung des immer dichteren – militärischen wie zivilen – Flugverkehrs am Hindukusch die AWACS der NATO einzusetzen. Das wurde in Berlin erst mal mit sehr, sehr spitzen Fingern angefasst: kam doch sofort die Verbindung zur möglichen Steuerung von Kampfjets, von Bombardierungen und ähnlichem in die Diskussion. 2009 gab es dann doch, rechtzeitig vor der parlamentarischen Sommerpause, die Zustimmung des Bundestags zu einem solchen Einsatz – doch jetzt verbockte es die NATO: Auf Seiten des Bündnisses lagen nach langem Ringen unter anderem um die Finanzierung alle Beschlüsse vor, dummerweise fehlte die Zustimmung von ein paaer zentralasiatischen Republiken, die auf dem Weg nach Afghanistan überflogen werden sollten. Die Flugzeuge wurden also nicht in Marsch gesetzt, und das dazugehörige Bundestagsmandat verfiel ohne Verlängerung.

Jetzt macht die Allianz nun den neuen Anlauf, und den macht sie erst mal ohne die deutschen. Denn hier zu Lande gilt, wie schon 2008 erkennbar war: Es geht wieder mal nicht um Außen- und Bündnispolitik, sondern in dem von der afghanischen Realität entkoppelten Paralleluniversum um innenpolitische Befindlichkeiten. Müsste man doch mit der Verlängerung des ISAF-Mandats im Januar, die schwierig genug ist, womöglich eine Aufstockung (!) der Truppen-Obergrenze beantragen, um die rund 300 Mann für den Flugbetrieb der AWACS in dem Mandat unterzubringen. Und dann, auch das noch: Die Flugzeuge werden voraussichtlich auf der türkischen Basis Konya stationiert, also noch auf NATO-Territorium. Doch dann fliegen sie über den Irak, an der Grenze des Iran entlang, durch die Straße von Hormus – das ist ja fast so schlimm wie über den zentralasiatischen Republiken, die ein Ausspionieren durch die Radarflieger befürchteten: NATO-Flugzeuge! Datensammler! An der Grenze des Iran! Das kann in Deutschland keiner wollen!

(Mal ganz davon abgesehen, dass die Flugzeuge über Afghanistan etwa acht Stunden on station wären. Nach erheblich längerer An- und Abreise inklusive Luftbetankung.)

Also alles erledigt? Mitnichten. Den der AWACS-Streit hat schon seine angekündigte Verlängerung: Erst mal wird die Bundesregierung kein neues Mandat für die deutschen Besatzungsmitglieder beschließen. Ganz im Sinne des Außenministers. Der Verteidigungsminister sieht aber schon ein späteres Mandat, möglicherweise. Wie sein Haus den Abgeordneten im Verteidigungsausschuss schrieb (Hervorhebung von mir):

Der NATO-Generalsekretär hat dem Nato-Oberbefehlshaber Europa (Supreme  Allied Commander Europe / SACEUR) den Einsatz von NATO-AWACS im  Rahmen der ISAF für zunächst 90 Tage freigegeben. Gleichzeitig wurde das  Nato-Hauptquartier Europa (Supreme Headquarters Allied Powers Europe /  SHAPE) beauftragt zu prüfen, ob danach der militärische Bedarf in anderer  Form besser gedeckt werden kann. Deutschland hat gegenüber der NATO  angekündigt, sich zunächst nicht an einem solchen Einsatz zu beteiligen. Die  Bundesregierung wird diese Position im Lichte der operativen Erfahrungen der ersten 90 Tage, die auch eine Überprüfung einer weitergehenden, tatsächlichen  Notwendigkeit des Einsatzes umfassen und insbesondere auch der Ergebnisse  des Prüfauftrages SHAPE einer erneuten Bewertung unterziehen. Dies gilt  insbesondere auch angesichts der beim NATO-Gipfel in Lissabon entschiedenen  Ausrichtung der ISAF-Strategie auf die Übergabe der Sicherheitsverantwortung  an die afghanische Regierung mit einem Schwerpunkt bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte.

Das heißt doch wohl: in drei Monaten reden wir noch mal drüber. Vielleicht auch über ein neues Mandat.

Jenseits der aktuellen Diskussion zeigt dieser Streit übrigens, wie hohl das Gerede der Politik über Multinationalität, Bündnisfähigkeit und militärische Gemeinsamkeiten in der Allianz und in Europa ist. Wenn schon eine unbewaffnete Radar-Überwachungsflotte (die, zugegeben, natürlich dafür vorgesehen ist, den Einsatz von Kampfflugzeugen zu steuern) als einziges wirkliche NATO-gemeinsame Einrichtung durch einen schlichten deutschen innenpolitischen Streit quasi lahmgelegt werden kann – sollte man dann nicht die hehren Sprüche von so etwas utopischem wie gemeinsamen europäischen Kräften einfach einstellen?