Petraeus: 300 Terror-Chefs in drei Monaten angegriffen
For the record: ISAF-Kommandeur David Petraeus und der zivile NATO-Repräsentant in Afghanistan, Mark Sedwill, haben gestern in London ausführlich zum Einsatz am Hindukusch Stellung genommen. Petraeus‘ Informationen waren für einige Schlagzeilen gut, zum Beispiel Special forces eliminate 300 Taliban and al-Qaeda leaders oder Nato-Truppen ermöglichten Besuch von Taliban in Kabul.
Zum Nachlesen/Hören gibt es die Aussagen von Petraeus und Sedwill auf der Website des britischen Royal United Services Institute.
Das Problem von ISAF war noch nie, dass man nicht genug Feind getötet hat. Das Problem ist die mangelnde Kontrolle der Bevölkerung, und für die ist die Zahl getöteten Feinds für sich genommen kein guter Indikator.
COIN ist out, „Bodycount“ wie in Vietnam und massiver Airforce-Einsatz sind zurück.
Das ist nicht gut, aber anscheinend gilt jetzt raus um jeden Preis.
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Network hat einige lesenswerte Anmerkungen zu diesem Strategiewechsel: A back somersault in the US strategy: Lower aims, higher risks
Die Taliban behaupten übrigens weiterhin steif und fest das keine Verhandlungen mit Kabul stattfinden. Statement of the Islamic Emirate of Afghanistan Regarding the Baseless claims and futile Propaganda
Wem die NATO da denn sicheres Geleit gegeben hat ist unklar. Ob das wirklich relevante Leute waren muss sich erst noch herausstellen.
@b
„Ob das wirklich relevante Leute waren muss sich erst noch herausstellen.“
Genau das ist der Punkt. Hier wären Ihre Bemerkungen bzgl. „Propaganda“ m.E. durchaus angebracht. Wenn es wirklich relevante Verhandlungen auf hoher Ebene gäbe, würden diese streng geheimgehalten werden. Die Führer der Aufständischen in Pakistan haben ihre Glaubwürdigkeit so eng an eine totale Verweigerungshaltung geknüpft, dass sie kaum eine andere Wahl haben, als Verhandlungen zu leugnen, selbst wenn diese stattfinden würden. Wenn Ergebnisse vorliegen, würde man diese dann als bilaterale Übereinkunft zwischen Karzai und Aufständischen dargestellen, nach der die NATO erklären könnte, dass man erfolgreich die Bedingungen dafür geschaffen habe, bevor man abzieht.
Die aktuelle Darstellung lässt mich stark vermuten, dass es keine relevanten Verhandlungen gibt.
Es ist für die Führung der Aufständischen angesichts des Erfolgs ihres Vorgehens auch kaum ein Motiv für Verhandlungen bzw. Konzessionen erkennbar. Allenfalls wäre dies bei nachgeordneten Führern zu erwarten, die lokal unter Druck geraten sind. Allgemein sind Konzessionen aber nur soviel wert wie die Machtverhältnisse am Boden, und mit dem Beginn des Rückzugs der NATO wären eventuelle Verhandlungsergebnisse somit hinfällig.
Was die getöteten Aufständischen angeht, so wäre es interessant zu wissen, wo hier die Schwerpunkte liegen. Zeitweise vermuteten Beobachter, dass die Amerikaner vielleicht versuchen würden, das Haqqani-Netzwerk zum Ausscheren aus der Aufstandsbewegung zu zwingen, nachdem die Pakistanis dies entweder nicht veranlassen konnten oder wollten.
P.S. Ruttings m.E. exzellenter Text verweist auf eine entscheidende Meldung: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/10/07/AR2010100704600.html
Marjah galt als Modell für die neue Strategie. COIN ist wohl tatsächlich endgültig tot, nachdem zunächst spekuliert worden war, dass die Strategie vielleicht mit etwas Zeitverzug doch noch greifen könnte.
War eigentlich auch nur eine Frage der Zeit. Das Gewinnen von „hearts and minds“ in einem Land in dem nur Stärke bewundert wird, kann doch eigentlich gar nicht funktionieren. Das vernichten des Feindes war schon immer der Kern des militärischen Handelns.
Interessant wird die Frage sein, wie anfällig die INS gegenüber starken Verlusten sind. In der Vergangenheit haben sie keinerlei Abnutzungserscheinungen gezeigt. Was aber denke ich auch an der totalen Propaghandaüberlegenheit liegt. Wenn deren Netzwerke zusammenbrechen, wird dies sehr plötzlich und ohne große Vorwarnung geschehen. Davor werden die INS versuchen so viel Stärke wie möglich zu demonstrieren.
War nicht die Israelische Taktik des gezielten tötens von Hamas Führern dafür verantwortlich das die Hamas die Raketenangriffe auf Israel eingestellt hat, weil der Druck auf die Hamas zu groß wurde?
Aber vielleicht bin ich ja auf dem Holzweg. Strategie und Taktik ist nicht mein Gebiet. Das überlasse ich lieber den Profis.
@Bang50
Die Hamas hat sehr gut auf die Tötung hochrangiger Führungsmitglieder 2003-2004 angesprochen und sogar Selbstmordanschläge dauerhaft eingestellt, um den Druck zu reduzieren.
In Afghanistan sind die Bedingungen aber anders. Die Führung der Taliban sitzt in Pakistan und wird weder von den USA noch von Pakistan angetastet, und die Aufstandsbewegung ist weniger hierarchisch organisiert als die Hamas.
Für beide gilt (wie für jeden politischen Akteur) aber der Grundsatz: Konzessionen geht man nur in Phasen der Schwäche ein, während man in Phasen der Stärke angreift.
Es gibt tatsächlich Erkenntnisse, dass insbesondere das Ausschalten von mittleren Führungskadern zunehmend zu einer Schwächung der Netzwerke führt. Die Nachwuchsgewinnung der INS auf entsprechenden „Dienstposten“ leidet nachgewiesenermaßen erheblich, wenn jeder neue Kommandeur befürchten muss nachts Hausbesuch zu bekommen.
Das allerdings in Kapital bei Verhandlungen umzumünzen ist eine andere Geschichte.
@R.L. – „Es gibt tatsächlich Erkenntnisse, dass insbesondere das Ausschalten von mittleren Führungskadern zunehmend zu einer Schwächung der Netzwerke führt. “
Hätten Sie mal einen Link dazu. Ich habe trotz Suche keine Arbeit gefunden die diesen Schluss zulässt.
Es gibt hingegen viele Indizien die darauf hinweisen das dieses Behauptung Humbug ist und das Ausschalten mittlerer Kader zu jüngem Nachwuchs und zur Radikalisierung beiträgt. In Somalia ist da z.B. deutlich. Die Kader der IMU wurden nachdem sie die Oberhand gewonnen hatte und halbwegs Frieden herrschte von den USA und Hilfstruppen aus Etiopien ausgeschaltet. Die Nachfolge trat die erheblich radikalere und jüngere Al-Sabah an.
Thomas Ruttig, einer der besten deutschen Afghanistankenner und oft vor Ort, schreibt in dem oben verlinkten Text: „At the same time, the gaps created by ‘killing or capturing’ mid-level commanders are filled by younger, much more radical ones.“
Jetzt bitte ich Sie Grundlagen für ihre Behauptung zu liefern.
@b
Bezüglich des israelischen Beispiels gibt es zahlreiche Studien, deren Kern meist ein Verweis auf den deutlichen Rückgang (bis zum faktischen Erliegen) der Zahl der von Palästinensern initiierten Sicherheitsvorfälle parallel zur Ausweitung von Tötungen und Festnahmen durch die Israelis ist. Die 2000 gestartete Intifada brach um 2004 u.a. unter dem Druck israelischer Tötungen und Festnahmen zusammen. Damals wurde auch gewarnt, dass dieses Vorgehen nur Radikalisierung fördere. Tatsächlich setzte auch in der palästinensischen Bevölkerung eine gewisse Erschöpfung ein, während den militanten Organisationen schlicht die Fähigkeiten ausgingen und deren Führern die Risiken zu hoch wurden. Ich zitierte bereits das Beispiel der Einstellung von Selbstmordanschlägen durch die Hamas nach der Tötung Scheich Yassins, Rantisis etc. um 2004.
Auf Afghanistan ist diese Erfahrung jedoch nur sehr begrenzt übertragbar, weil die Situation völlig anders ist. Auch bei den Israelis war dieses Vorgehen z.B. nur eine flankierende Maßnahme u.a. zu vollständiger Kontrolle der Fläche und tiefer Durchdringung der Araberpopulation sowie Eskalation des Vorgehens bis auf Führungsziele.
Wissenschaftliche Studien können m.E. darüberhinaus wenig zur Diskussion beitragen, da der Kern des Problems für offene Wissenschaft kaum zugänglich ist. Mehr als Vorfälle zählen und über Korreletionen spekulieren kann man da nicht, und eine dieses Jahr erschienene Studie über angebliche Radikalisierungswirkung durch Kinetic Targeting in Afghanistan weist diesbezüglich schwere methodische Fehler auf.
Diejenigen, die im Einzelfall vielleicht noch belastbare Aussagen darüber machen können, wie sich Tötung und Festnahme auf ein bestimmtes Netzwerk auswirken, dürfen sich leider nicht dazu äußern.
@b
Radikalere Nachrücker sind übrigens unter Umständen eine positive Wirkung. Sie werden meist von der lokalen Bevölkerung weniger akzeptiert und gehen größere Risiken ein, die ihre Netzwerke verwundbarer machen. Der „moderate“ feindliche Anführer ist nur dann wünschenswert, wenn er zu den geforderten Konzessionen bereit ist und diese auch in seiner Organisation/seinem Netzwerk durchsetzen kann. Ansonsten sind es gerade die „moderaten“ Anführer, die z.B. durch Verzicht auf Durchsetzung extremster Vorstellungen der Taliban-Ideologie in der afghanischen Bevölkerung an Beliebtheit gewinnen, besonders gefährlich und deshalb im Idealfall prioritäre Ziele.
> In Somalia ist da z.B. deutlich. Die Kader der IMU wurden nachdem sie die Oberhand
> gewonnen hatte und halbwegs Frieden herrschte von den USA und Hilfstruppen aus
> Etiopien ausgeschaltet. Die Nachfolge trat die erheblich radikalere und jüngere
> Al-Sabah an.
Die islamischen Gerichte hatten zum Zeitpunkt ihrer Vernichtung bereits begonnen das halbwegs stabile Puntland und die Nachbarstaaten zu destabilisieren.
Ihre Nachfolger sind zwar radikaler, haben aber nichtmal die Macht über Mogadishu und werden sie wegen ihrer Radikalität wohl auch nicht bekommen. Sie sind ein lokaler Warlord unter mehreren.
Aus einem internationalem Konflikt wurde ein kleinregionaler Konflikt.
So, hab mir jetzt auch mal den Bericht angeschaut.
Irgendwie wollen die Blog-Kommentare hier nicht so ganz dazu passen. Die gezielten Tötungen kommen praktisch nicht vor und wurden vermutlich erst im Frage-und-Antwort-Teil aufgebracht. Stattdessen nehmen die „zivilen“ Erfolge wohl den Großteil des Vortrags ein.
Seine drei wesentlichen Punkte sind wohl:
– Die letzten 18 Monate wurden darauf verwandt, Strukturen und Prozeduren anzupassen. Ob hier ISAF oder US gemeint ist wird leider nicht klar, und in Deutschland wurde darüber auch kaum berichtet. (Erwähnt wird das aber im wohl nicht unparteiischen Afghan Quest: Trending Positive)
– Die Sicherheitslage um Kandahar und in Zentral-Helmand hat sich verbessert (Schwer zu verifizieren, auch hierzu gibt es in den deutschen Medien kaum etwas. Is Kandahar Safer, Or Isn’t It, Taking on the Taliban in Kandahar , bzw. Battle for the upper hand in Marjah continues) Interessant ist dabei der Hinweis, dass in Helmand mehr afghanische Sicherheitskräfte als ISAF eingesetzt sind.
– Der zivile Aufbau geht voran und ist meßbar. Der Schwerpuntk seiner Aufzählung liegt dabei auf Medizin, Bildung und Wirtschaft.
Aus seinen Äußerungen eine Abkehr von COIN herauszuhören erscheint mir sehr gewagt.
@J.R. – Also das die Special Forces ihr Op-Tempo erheblich erhöht haben und angeblich ständig Taliban Senior Leader eleminieren ist ja vielen Berichten der ISAF zu entnehmen. Das die Zahl der Lufteinsätze sich von knapp 300 auf 700 pro Monat erhöht. Das COIN jetzt als „out“ gilt ist den einschlägigen U.S. Medien zu entnehmen.
Und was die angeblichen Erfolge angeht gibt sich selbst die Washington Post skeptisch. Das ist wohl mehr eine politische Aussage als Realität: U.S. military, civilian officials claim progress in Afghan war
—-
Der wöchentliche Insider Blick von Swoop hat einige interessante Anmerkungen zum Strategiewechsel:
@S.W. – man weiss also nicht ob die Eleminierung mittlerer Kader einen Effekt hat. Man versucht es einfach und nimmt die unvermeitlichen Kollateralschäden dabei in Kauf. Von der fragwürdigen moralischen Qualität abgesehen, bezweifele ich das das im Sinne des Einsatzziels ist.
Ich warne auch davor fragwürdigen Methoden die Israel zur gewaltsamen Kolonialisierung fremden Bodens anwendet auf ander Länder zu übertragen. Gerade in Afghanistan würde das die Taliban-Propaganda, die behauptet das eben dieses das „westliche“ Ziel sein, nur bestätigen.
@C.S. –
“ Die islamischen Gerichte hatten zum Zeitpunkt ihrer Vernichtung bereits begonnen das halbwegs stabile Puntland und die Nachbarstaaten zu destabilisieren.
Ihre Nachfolger sind zwar radikaler, haben aber nichtmal die Macht über Mogadishu und werden sie wegen ihrer Radikalität wohl auch nicht bekommen. Sie sind ein lokaler Warlord unter mehreren.
Aus einem internationalem Konflikt wurde ein kleinregionaler Konflikt.“
Interessant das zu erfahren. Der „kleinregionaler Konflikt“ besteht darin das die Amerikaner die Ethiopier lang bezahlt haben um die von der UN aufgestellte anti-IMU „Regierung“ zu unterstützen. Nach zwei Jahren hatten die Ethiopier eine blutige Nase und die Schnauze voll und zogen ab. Dann hat die AU UN Truppen zur Verfügung gestellt. Die sind jetzt quasi die einzigen Unterstützung der „Regierung“ und zeichnen sich insbesondere dadurch aus das sie gerne auch mal mit schwerer Artillerie in dicht besiedelte Gebiete (Bakera Markt) schiessen. Bezahlt werden die Truppen von den USA und der EU.
Nachdem die UN jetzt ihren Bericht zur ugandischen Beteilung an Massakern und Massenvergewaltigungen im Kongo unterdrückt hat, hat sich Uganda auch bereit erklärt, gegen entsprechende Zahlungen der USA und EU, auf bis zu 20,000 Truppen aufzustocken. Die somalische „Regierung“ setzt jetzt zudem fragwürdige „westliche“ Söldnerfirmen ein um ihr Überleben zu sichern.
Al-Sabah hat immer noch 80% von Mogadishu und alle umliegenend Gebiete unter Kontrolle.
Das „halbwegs stabile Puntland “ und Somaliland sind u.a. Piratenhochburgen wegen derer ca 20 internationale Marinen Schiffe vor Somalia einsetzen.
Also wenn sie bei dieser massiven internationale Beteiligung an dem Konflikt den als „kleinregional“ bezeichnen was wäre dann ein großregionaler Konflikt?
Ich denke mit der IMU wäre man da wesentlich besser gefahren als mit den derzeitigen anarchischen Zuständen. Man hätte dann wenigsten einen verantwortlichen zentralen Partner gehabt der auch Kontrolle über sein Gebiet ausübt. Die ganze Pirateriesache hätte sich dann erledigt gehabt.
@ b
Sie müssen zugeben, als Beleg für einen Strategiewechsel ist das schon etwas mager.
Die höhere Zahl an Spezialkräfte-Missionen und Luftschlägen sagt ja erstmal nichts aus. Wenn man sich die Truppenerhöhung und die Zahl der ISAF-Offensiven dieses Jahr anschaut (Marjah, Baghlan, Kandahar), dann war ein Anstieg schlicht zu erwarten.
Dass das Thema Spezialkräfte natürlich dankbares Medienfutter ist braucht man glaub nicht zu diskutieren. Aber entscheidend dürfte sein, was sich drumherum abspielt (Schutz der Bevölkerung, Eröffnen von Perspektiven). Und da siehts derzeit halt so gar nicht nach der „Bomben und sonst nix“-Strategie aus, die eigentlich immer schon populärer als COIN war. Auch gerade in der deutschen Presse um die armen Bundeswehrsoldaten, die nur noch größere Waffen und weniger Skrupel brauchen, und alles wird gut. ;)
Petraeus Präsentation klingt halt sehr wie die Bundeswehr um 2006, bevor man sich erst einigelte und dann die Anwendung von Gewalt in den Vordergrund stellte (sorry, das muss ja in Neusprech heissen: „bevor man den Schwerpunkt auf das kinetische Vorgehen legte“).
Wenn man es ernst meint, dann wird entscheidend sein, ob man die Bevölkerung vor Bewaffneten schützen kann, und irgendwann Strukturen aufbaut die dergleichen auch ohne ISAF-Präsenz sicherstellen.
Ob man es ernst meint ist eine andere Frage. Gerade die Regierung Obama kommt da teils nicht sehr überzeugend rüber. Liegt aber auch teils auch wieder an der Berichterstattung. Spezialkräfte kommen halt interessanter rüber als ziviler Aufbau, in den die USA ja derzeit Milliarden pumpen.
Und dann ist man wieder bei der Gretchenfrage: Was kommt davon eigentlich vor Ort an, wie wirkt es sich dort aus? Und dazu liest man halt sehr wenig.