Targeting und gezielte Tötungen in Afghanistan – die deutsche Position zum Nachlesen
Das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und nicht zuletzt der (deutsche) Sprecher von ISAF haben sich in jüngster Zeit mehrfach zum Thema gezielte Tötung gegnerischer Kämpfer in Afghanistan geäußert. Jetzt gibt’s das Ganze in gesetzten offiziellen Worten zum Nachlesen auf der Bundeswehr-Seite: Zum Thema „gezielte Tötungen“ im Rahmen eines nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes
Kernsatz für die deutsche Position:
Zugriffsoperationen, bei denen deutsche Kräfte die Verantwortung für die Anwendung militärischer Gewalt haben, die Ausführung übernehmen oder an denen sie sich beteiligen, erfolgen ausschließlich mit dem Ziel, die Person festzusetzen.
(Foto: UPI/Nicholas Pilch/U.S. Air Force/Newscom via picapp)
Und grundsätzlich gilt:
In einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt dürfen die Regierungstruppen und die sie unterstützenden Truppen feindliche Kämpfer gegebenenfalls auch außerhalb der Teilnahme an konkreten Feindseligkeiten auf der Grundlage des humanitären Völkerrechtes gezielt bekämpfen, was auch den Einsatz tödlich wirkender Gewalt einschließen kann. Das humanitäre Völkerrecht setzt Grenzen, in denen sich die Bekämpfung feindlicher Kämpfer bewegen muss.
Ob bestimmte Handlungen dem Völkerrecht entsprechen, kann nur im Einzelfall bei Kenntnis aller relevanten Tatsachen von den dazu berufenen Stellen entschieden werden.
Damit gibt’s jetzt über die Äußerungen in Bundestag, Pressekonferenzen und Interviews hinaus eine schriftlich festgelegte deutsche Position.
Das heisst jedoch nicht, dass „gezielte“ Toetungen ausgeschlossen sind. Es kommt nur darauf an, wie die Einsatzkraefte im Nachhinein die Toetung begruenden. Ich stelle es mir relativ einfach vor, eine Notwehr- bzw. Verteidigungssituation zu konstruieren und so die Toetung zu rechtfertigen. Dieses Position, dass nur gefangen genommen wird, ist rein politisch und geht an den militaerischen Realitaeten vorbei.
Naja, mir ists gleich. Hauptsache die Oeffentlichkeit ist beruhigt und reinen Gewissens..
Dalli
Ja, das habe ich auch im ersten Moment gedacht. Eine Notwehrsituation wird man im Nachhinein nicht nachprüfen können.
Aber wenn ich das richtig sehe, sind mit solchen Satzungen wie den obigen Einsätze mit Scharfschützen und dem gezielten Einsatz von Raketenfeuer durch Drohnen ausgeschlossen. Das ließe sich definitiv nicht einfach als Notwehr deklarieren. Aber man möge mich bitte verbessern, wenn ich da falsch liegen sollte ;-)
Wie verhält sich nun GenMaj Fritz, Kommandeur RC Nord, als Vorgesetzter gegenüber den unterstellten Amerikanern seines Kommandobereiches, wenn er von vorgesetzten ISAF-Kommandobehörden den Auftrag erhält, „gezielte Tötungen“ durch die ihm unterstellten Amerikaner vorzunehmen zu lassen? Oder werden „gezielte Tötungen“ nur auf einem Kommandostrang der „Willigen“ durchgeführt? Dann hätten die Deutschen zwar nach außen das Kommando, nach innen aber nur noch eingeschränkte Befehlsgewalt. Ob das alles zur militärischen Effizienz beiträgt, muss erheblich bezweifelt werden.
Man beachte
„Im Rahmen der deutschen Mitwirkung am ISAF-Targeting-Prozess wird ausschließlich die Handlungsempfehlung „Festnahme“ gegeben.“
– Jetzt. Im Moment. Kann sich auch ändern.
– Ob die anderen sich an diese Empfehlung halten, bleibt diesen überlassen.
„Zugriffsoperationen … erfolgen mit dem Ziel, die Person festzusetzen.“
– Steht da eigentlich was davon,dass andere Arten von Operationen verboten sind?
Nein? Interessant …
– Ziel =/= Ergbnis, vgl. Notwehrargument meiner Vorredner …
„Der Kommandeur des deutschen Einsatzkontingents ISAF … ist für die Einsteuerung deutscher Zielvorgaben in den ISAF Targeting-Prozess verantwortlich …Abschließend entscheidet der Kommandeur der ISAF sowohl über die Ziel-Nominierungen der Regionalkommandos und anderer zur Nominierung berechtigter ISAF-Elemente als auch über die Zuständigkeit für die Zielverfolgung.“
M.A.W., wenn die Amis einen Taliban-Kommandeur lieber tot sehen wollen bzw. ein Zugriff zwecks Festnahme nicht möglich ist, gibt die ISFA Zentrale den entsprechenden Auftrag an nicht-deutsche Einheiten, und wir müssen unsere Hände nicht schmutzig machen. Ähnliches gilt ja jetzt schon bei der Luftunterstützung (Tornados, die nur mit der Kamera schiessen dürften). Pontius Pilatus lässt grüßen.
P.S. @TW:
Eine Preview-Funktion wäre toll. Geht das auf dem neuen Blog technisch auch nicht?
Es scheint eine urdeutsche Eigenschaft zu sein Probleme zu sehen wo keine sind.
Im Zweifel laufen die „Target Killing Operations“ über den Strang OEF, da kann GM Fritz eh nur zuschauen. Im übrigen siehe Kommentare von dallis & hekto, im Zweifel lautet der Auftrag festnehmen und dann lässt der sich das eben nicht und wird erschossen.
Frage an alle @
Welches könnten die Gründe sein, die den Bundesminister der Verteidigung veranlasst haben, bei und in Zugriffsoperationen, bei denen deutsche Kräfte die Verantwortung für die Anwendung militärischer Gewalt haben, die Ausführung übernehmen oder an denen sie sich beteiligen, ausschließlich mit dem Ziel erfolgen , die Person festzusetzen.
Da aus dem Wortlaut keine direkte oder indirekte Begründung erkennbar ist ,lädt dies gleichsam dazu ein, Vermutungen anzustellen.
Und, warum liefert der Bundesminister der Verteidigung nicht selbst die Begründung (nach)?
Da bin ich mal gespannt und harre der Einträge dazu.
@J. König
Die Regierung hat Angst vor der öffentlichen Diskussion, die es zwangsweise geben würde. Ein z.B. von den Aufständischen verbreiteter Vorwurf, dass nicht Mullah XY und zehn seiner Kämpfer getroffen wurden, sondern eine Horde harmloser Koranschüler, würde völlig ausreichen, um Panik in Deutschland zu erzeugen. Man sieht das auch an den Folgen des Tanklaster-Vorfalls: Obwohl dieser vor Ort keine negativen Folgen hatte und völkerrechtlich kein Problem war, ist man in Deutschland bis heute mit seiner Bewältigung beschäftigt.
@StFwdR,
die Zeit der Obergefreitenlösungen „auf der Flucht erschießen“ ist vorbei. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass eine Regierung großkotzig vom Krieg schwafelt, aber ihren Soldaten den offensiven Kampf untersagt und ihnen den Kampf erst dann erlaubt, wenn sie sich bereits in Hinterhalten, taktisch also wenig aussichtsreichen Lagen befinden. Damit ordnet die Politik indirekt das Prinzip „Präsentierteller“ an, drückt sich vor der Verantwortung von Kriegsfolgen, belastet die eigenen Soldaten durch unzumutbare Handlungseinschränkungen im Kampf und gefährdet sie dadurch in hohem Maße. Das nenne ich eine bodenlose Sauerei! Gegenüber den eigenen Soldaten grenzt das an Verrat und gegenüber den Bündnispartnern, denen Deutschland die „Schmutzarbeit“ zumutet, zu der es selbst nicht bereit ist, ist das eine grobe Verletzung der Bündnissolidarität.
Per Danger Room: http://www.wired.com/dangerroom/2010/08/petraeus-campaign-plan/
/zitat/
According to information provided to Danger Room by Gen. David Petraeus, the top NATO commander in Afghanistan, in just the past 90 days these elite units have captured or killed 365 militant leaders, detained 1,335 insurgent foot soldiers and killed another 1,031 insurgents on top of that.
(ende-zitat/
Trotz des Titels des Danger Room Artikels „Drones Surge, Special Ops Strike in Petraeus Campaign Plan“ ist das ja weder neu noch auf Petreaus Mist gewachsen. .
Diese „targeted killings“ sind seit 2002 permanent im Gange.
Die Frage ist nicht mal ob die „berechtigt“ sind. Die Frage ist ob sie dem Einsatzziel nutzen.
Das tuen sie nach meiner Kenntnis nicht.
a. Obwohl „targeted killing“ seit 8 Jahren permanent eingesetzt wird hat sich der Widerstand gegen ISAF in dieser Zeit ganz erheblich ausgebreitet und in keiner Weise reduziert.
b. Es sind alle ein, zwei Wochen Berichte in glaubhaften Quellen zu lesen das in solchen Aktionen Zivilpersonen in erheblichem Maße zu Schaden kommen und das diese Schäden massiv zu einer negativen Meinung gegen die ISAF Truppen in der Bevölkerung beitragen. Jetzt auch in Jalalabad: (http://english.aljazeera.net/news/asia/2010/08/2010818102118648839.html) wo es zuvor relativ ruhig war.
Wer glaubt denn wirklich das die Infomationslage in Afghanistan zuverlässig genug ist das in drei Monaten nur von Special Ops 1,400 Leute als „Gegner“ zuverlässig erkannt und getötet werden können und nochmal die gleiche Zahl gefangengenommen werden kann?
Können die militärischen Dienste und Geheimdienste in Afghanistan tatsächlich31 Leute pro Tag eindeutig als am Widerstand Beteiligte identifizieren? Wie?
Oder sind das nicht eher „Ziele“ die aufgrund sehr unzuverlässiger Informationen von diesem oder jenem Interessierten (Nachbar, Rivale, Erbe, tajikisch unterwanderter NDS …) ausgeschaltet werden?
Zusammenfassend:
a. Die meisten der „Ziele“ des „kinetic targeting“ sind völlig unzureichend als solche identifiziert.
b. Die dadurch unvermeintliche Tötung von Unbeteiligten/Nichtschuldigen hat über die Jahre hinweg den Widerstand verstärkt, nicht vermindert.
„Kinetic targeting“ ist damit ein ungeignetes Einsatzmittel und gehört gestrichen.
@ sipol
„ist man in Deutschland bis heute mit seiner Bewältigung beschäftigt.“
Mir scheint das ausgestanden zu sein.
Die bislang vorliegenden Entscheidungen sowohl in der Causa Klein als auch in der Angelgenheit Untersuchungsausschuss und Gegenüberstellung geben nicht mehr viel her für eine mediale Aufarbeitung; es sei denn sie wäre mit politischem Kalkül rückwärtsgewandt.
Aber dies läßt sich in einer medial vernetzen weltweiten Kommunikation eh nicht vermeiden, Im Gegenteil, das ist ja auch ein Gewinn, denn jeder halbwegs reflektierte User kann unterscheiden.
Sorge machen mir eher die Einlassung: „Die Regierung hat Angst vor der öffentlichen Diskussion…“ Mag es sein, dass demokratisch gewählte Parlamente und die daraus resultierenden Regierungen nach dem Oportunitätsprinzip entscheiden?
Wär ja wohl nicht gut, meine ich, hinzufügen zu dürfen.
@ J. König
Den Grund für das Vorgehen der Regierung (nur Festnahme keine gezielten Tötungen) sehe ich in der Unsicherheit des Zielauswahlprozesses (neben der schon erwähnten öffentlichen Empörung).
Wie kommt denn eine Zielzuweisung zustande ?
Meiner Meinung nach geben lokale Informanten und lokale Regierungsvertreter, Gouverneure, Bürgermeister usw. Tipps welche Personen gegnerische Kämpfer sind. Dabei kommt es sicherlich öfters zu gezielten Falschaussagen zum eigenen Vorteil.
In AFG tobt ein Bürgerkrieg, im Norden versucht der Gouverneur von Baghlan z.B. gezielt ethnische Vertreibungen durchzusetzen.
Wer kann nach einer gezielten Tötung noch feststellen, ob es tatsächlich Aufständische waren oder nur unliebsame Nachbarn, dessen Landbesitz der Gouverneur sich einverleiben wollte ?
Auf der anderen Seite sind Festnahmen wierderum wirkungslos. Durch entsprechendes Schmiergeld oder der Ankündigung die Regierungsseitte unterstützen zu wollen, also die Seiten zu wechseln, wird der Betreffende wieder freigesetzt.
Wer soll für solche Aktionen noch das Leben der eigenen Soldaten riskieren ?
Wenn man davon ausgeht, dass in AFG Krieg herrscht und die Bw auf einer Seite der Bürgerkriegsparteien mitkämpft, gibt es nur eine wirkungsvolle Lösung und die heißt nachgewiesene gegnerische Kämpfer zu töten, wo immer man sie zu fassen kriegt.
Interessanterweise hat der Kommandeur der KSK neulich im Interview der Bw-Zeitschrift “ Y “ gesagt, das es eine Besonderheit seiner Kommandosoldaten sei ,Töten zu müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, das er dies auf einer theoretischen, abstrakten Ebene meinte.
@Georg
Es soll bei Verbündeten Fälle gegeben haben, wo einzelne Informanten („XY hat meine Hühner geklaut und ist übrigens auch ein wichtiger Al-Qaida-Operateur“) solches Vorgehen ausgelöst haben soll. Wie die diversen Veröffentlichungen andeuten ist das Vorgehen von ISAF aber aktuell deutlich ausgefeilter und beruht auch nicht auf Einzelmeldungen dieser Art.
Ist die Frage, ob die Bundewehr gezielt töten sollen darf nicht eh akademisch?
Dass sie dazu in der Praxis zu inkompetent ist hat sie doch bei der Kunduz-Tanklaster-Bombardierung unter Beweis gestellt, als sie nur wenige Kilometer vom Feldlager weg, über mehrere Stunden, auf offener Fläche ja nur ein paar Dutzend Nicht-Kombatanten „übersehen“ hat. Warum sollte das unter schwierigeren Bedingungen besser werden?