Wehrdienst aus nordischer Sicht: Die Rückkehr der Wehrpflicht und der Gesellschaftsvertrag

In der laufenden Debatte über eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland gibt es fast immer einen Hinweis auf die Wehrdienst-Praxis in den nordeuropäischen Ländern (hier im Blog haben dazu bereits der schwedische und der finnische Verteidigungsattaché in Deutschland das Nötige gesagt). Die finnische Politikwissenschaftlerin Minna Ålander weist in ihrem Gastbeitrag auf eine Besonderheit des Nordens (und des Baltikums) hin: Wehrpflicht ist dort ein Teil des Gesellschaftsvertrags – eine andere Sichtweise als hierzulande üblich.

Die Rückkehr der Wehrpflicht und der Gesellschaftsvertrag

Westeuropa versucht derzeit, den militärischen Aufbau nachzuholen, der in den vergangenen drei Jahren seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erstaunlicherweise weitgehend vernachlässigt wurde. Warum die Verteidigungsproduktionskapazitäten nicht unmittelbar nach, wenn nicht sogar vor der vollständigen Invasion der Ukraine ausgebaut wurden, ist eine Frage, die so ziemlich alle in der sicherheitspolitischen Gemeinschaft beschäftigt.

Die Wahrheit ist, dass sich zwar die Wahrnehmung der Ukraine und damit auch ihre Stellung in Europa durch den Krieg entscheidend verändert hat, die Wahrnehmung der russischen Bedrohung jedoch nie ganz Europa erreicht hat. Erst Trumps Comeback hat Westeuropa zum Handeln bewegt. Für die Nordosteuropäer war Russland historisch gesehen immer die größte Bedrohung, und die vollständige Invasion der Ukraine hat diese Bedrohungswahrnehmung sofort aktiviert. Für Westeuropa blieb die Bedrohung jedoch eher fern und in gewisser Weise auch abstrakter oder unwahrscheinlicher.

Die transatlantische Partnerschaft ist jedoch seit der Gründung der NATO im Jahr 1949 der Eckpfeiler der westeuropäischen Sicherheit. Die Bedrohung, die Trump für das Bestehen des Bündnisses darstellt, wird in Westeuropa ebenso akut wahrgenommen wie die russische Bedrohung im Nordosten Europas. Nun sind wir also endlich alle mehr oder weniger auf dem gleichen Stand.

Die kleinen Berufsarmeen Europas wieder auf eine Größe auszubauen, die für die Übernahme der vollen Verantwortung für die europäische Verteidigung ausreicht, ist jedoch eine schwierige Aufgabe.

Der schwierigste – und langsamste – Teil davon ist die Erhöhung der Truppenstärke. Mehrere kleinere europäische Länder haben beschlossen, das Problem durch eine Wiedereinführung der Wehrpflicht zu lösen. Die Rückkehr zur Wehrpflicht findet vor allem im nordisch-baltischen Raum statt, wo alle acht Länder über eine Form des verpflichtenden Wehrdienstes verfügen: Finnland, Estland und Norwegen haben ihre Wehrpflicht nach dem Kalten Krieg beibehalten, während Lettland, Litauen und Schweden die Wehrpflicht ausgesetzt hatten und Island keine Armee hat. Dänemark (6 Millionen Einwohner) hat die Wehrpflicht für Männer beibehalten, aber die Dauer auf nur vier Monate und die Zahl der Wehrpflichtigen pro Jahr auf 4.200 reduziert. Im Vergleich dazu hat Litauen (knapp 3 Millionen Einwohner) die Wehrpflicht 2015 wieder eingeführt und bildet jährlich etwa die gleiche Anzahl von Wehrdienst Leistenden aus. Auch in Norwegen ist die Zahl der tatsächlich Wehrdienst Leistenden nach dem Ende des Kalten Krieges relativ gering geblieben und liegt derzeit bei etwa 9.000. Schweden (10,5 Millionen Einwohner), das die Wehrpflicht 2017 nach einer Aussetzung im Jahr 2010 wieder eingeführt hat, kann derzeit etwa 8.000 Wehrpflichtige pro Jahr ausbilden. Lettland hat erst 2023 den „nationalen Verteidigungsdienst” wieder eingeführt, der zur freiwilligen Wehrpflicht ermutigt. Nur Finnland (5,5 Millionen Einwohner) hat eine bedeutende Reserve (bis zu 870.000) aufrechterhalten und bildet jährlich etwa 22.000 Wehrpflichtige aus.

In Ländern mit geringer Bevölkerungszahl ist die Wehrpflicht oft der beste Weg, um sicherzustellen, dass das Militär über ausreichende personelle Ressourcen verfügt. Gleichzeitig fehlen in einem reservistenbasierten System wie dem finnischen mit nur kleinen aktiven Streitkräften die Reservisten in Friedenszeiten nicht in der Arbeitswelt. Ein reservistenbasiertes System ist daher eine kostengünstigere Möglichkeit, eine große Truppenstärke für Kriegszeiten aufrechtzuerhalten, als eine Berufsarmee (auch wenn die tatsächlichen Kosten eines Wehrpflicht-Systems nur schwer zu beziffern sind).

Bedeutsamer ist jedoch, dass in den nordischen Ländern mit Wehrpflicht-Tradition der Militärdienst Teil eines Gesellschaftsvertrages ist. Der Staat garantiert die Verteidigung der territorialen Integrität, während die Bürger ihren Beitrag zum Vertrag durch ihren Militärdienst leisten. Als Norwegen 2015 als erstes NATO-Land den Wehrdienst für beide Geschlechter verpflichtend einführte, bezeichnete die norwegische Regierung die Wehrpflicht ausdrücklich als „ein wichtiges Prinzip im Gesellschaftsvertrag zwischen Bürgern und Staat”.

Ein Gesellschaftsvertrag mit Wehrpflicht basiert auf einem Ansatz, der die Bevölkerung als Ressource betrachtet. Um den Bürgern ihren Teil der Vereinbarung akzeptabel zu machen, muss der Staat dafür sorgen, dass der Militärdienst keine schreckliche Erfahrung ist, und Wege finden, die Bürger zu motivieren, einen Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Dies hat sogar Auswirkungen auf die Befehlskultur, in der den Wehrpflichtigen und Reservisten wichtige Rollen und Aufgaben übertragen werden – schließlich machen sie einen bedeutenden Teil der Gesamtstreitkräfte aus.

Die Debatte über die Wehrpflicht wird mittlerweile auch in Westeuropa geführt, vor allem in Deutschland. Die (Wieder-)Einführung der Wehrpflicht in einen Gesellschaftsvertrag, in dem die Bevölkerung eher als potenzielles Problem denn als Ressource betrachtet wird, ist jedoch nicht einfach. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist auch nicht die Wunderwaffe, als die sie oft dargestellt wird – würde die Wehrpflicht heute in Deutschland wieder eingeführt, wären die anfänglichen Zahlen so gering, dass es Jahre dauern würde, bis Ergebnisse sichtbar würden.

Die Umwandlung eines Militärsystems, das auf die Bedürfnisse einer Berufsarmee zugeschnitten ist, in ein System, das über die personellen Ressourcen, das Know-how und die Einrichtungen zur Ausbildung von Wehrpflichtigen verfügt, ist nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen. Die Beispiele Schwedens und Norwegens zeigen, wie langwierig der Prozess der Aufstockung der Zahlen ist: Schweden strebt an, die Zahl der jährlich ausgebildeten Wehrpflichtigen bis 2035 auf 12.000 und Norwegen bis 2036 auf 13.600 zu erhöhen.

Jedes europäische Land muss einen Weg finden, seine Streitkräfte auf eine Weise zu vergrößern, die wirtschaftlich machbar ist und mit dem bestehenden Sozialvertrag vereinbar ist. Es gibt keine Einheitslösung, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Maßnahmen die gesellschaftliche Akzeptanz nicht überstrapazieren.

Minna Ålander ist Associate Fellow beim Chatham House Europe Programme, Non-Resident Fellow beim CEPA Transatlantic Defense and Security Programme und Senior Fellow beim Stockholm Free World Forum. Zuvor arbeitete sie am Finnish Institute of International Affairs und an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind nordeuropäische und arktische Sicherheit, die nordische Verteidigungszusammenarbeit, die NATO sowie die europäische Sicherheit im Allgemeinen. Ihr Fachwissen umfasst auch die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – und sie spricht fließend deutsch. 
Der Text erschien zuerst hier auf Englisch.
(Archivbild September 2021: Schwedische Soldaten bei einer Verbandsübung – Antonia Sehlstedt/Försvarsmakten)