Sammler zum NATO-Gipfel: Gemeinsames Kommuniqué, Merkel

Den NATO-Gipfel in Brüssel, den ersten mit US-Präsident Joe Biden, habe ich nur von Berlin aus beobachtet – deshalb von mir keine Fern-Berichterstattung aus Brüssel, sondern nur ein Sammler mit zwei Mal Lesestoff:

• Die recht umfangreiche gemeinsame Gipfelerklärung* – immerhin 79 Punkte – enthält die inzwischen bekannten grundlegenden Punkte: Eine deutliche Positionierung gegen Russland als potenziellen Gegner (Russia’s aggressive actions constitute a threat to Euro-Atlantic security) und China, etwas zurückhaltender, als systemischen Rivalen (China’s stated ambitions and assertive behaviour present systemic challenges to the rules-based international order and to areas relevant to Alliance security).

Aber auch die Zusicherung der Allianz, (vorerst?) keine eigenen nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren (We have no intention to deploy land-based nuclear missiles in Europe) und, das ist nicht unbedingt selbstverständlich, die Zusicherung, an der NATO-Russland-Grundakte festzuhalten (die unter anderem die Stationierung von Nuklearwaffen in den früheren Ländern des Warschauer Vertrags ausschließt).

Sowohl ein hybrider Angriff als auch ein massiver Angriff auf IT- und Kommunikationssysteme, also ein Cyberangriff, wird von den NATO-Mitgliedern als möglicher Bündnisfall gesehen – der dann auch mit konventionellen Waffen beantwortet werden könnte: In cases of hybrid warfare, the Council could decide to invoke Article 5 of the Washington Treaty, as in the case of an armed attack. und We reaffirm that a decision as to when a cyber attack would lead to the invocation of Article 5 would be taken by the North Atlantic Council on a case-by-case basis. Allies recognise that the impact of significant malicious cumulative cyber activities might, in certain circumstances, be considered as amounting to an armed attack.

Die nukleare Abschreckung bleibt für die Allianz unverzichtbar – und dazu gehört nach der gemeinsamen Erklärung auch die nukleare Teilhabe mit Trägerflugzeugen europäischer Mitgliedsländer: NATO’s nuclear deterrence posture also relies on United States‘ nuclear weapons forward-deployed in Europe and the capabilities and infrastructure provided by Allies concerned. National contributions of dual-capable aircraft to NATO’s nuclear deterrence mission remain central to this effort.

Gleich mehrfach geht das Gipfeldokument auf die Verteidigungsausgaben ein – und eine zentrale Rolle spielt dabei die eingegangene Verpflichtung aller Mitgliedsländer, einen Anteil von zwei Prozent der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt anzustreben.

Damit empfiehlt sich ein Blick auf die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel – in denen sie auch auf dieses Zwei-Prozent-Ziel eingeht:

Merkel: Guten Tag, meine Damen und Herren! Der Nato-Gipfel ist zu Ende. Es war, denke ich, ein wichtiger Gipfel – erst einmal, weil wir doch ein neues Kapitel mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Joe Biden aufschlagen konnten, der ja schon von Beginn an sehr deutlich gemacht hat, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich klar zur Nato und zum Artikel 5 bekennen.
Natürlich kann die Nato als ein wirklich wichtiges und einzigartiges transatlantisches Bündnis nur funktionieren, wenn wir uns nicht nur auf unsere gemeinsamen Werte besinnen, sondern jeder auch seinen Beitrag leistet. Das bedeutet für Deutschland, dass wir uns auch zu den Zielen und Vereinbarungen der Nato bekennen. Dazu gehört natürlich auch das Zwei-Prozent-Ziel, das will ich ausdrücklich sagen.
Wir haben einen Reflexionsprozess hinter uns, an dem auch unser früherer Verteidigungsminister Thomas de Maizière sehr intensiv mitgearbeitet hat. Dieser Reflexionsprozess hat dazu geführt, dass jetzt eine Agenda 2030 vom Generalsekretär vorgelegt wurde und mit uns allen beraten wurde, zu der wir uns auch bekennen.
Ich habe heute auch noch einmal deutlich gemacht, dass es angesichts der veränderten Sicherheitslage auf der Welt richtig ist, dass ein neues strategisches Konzept entwickelt wird, das dann auf dem nächsten Nato-Gipfel in Spanien 2022 verabschiedet wird. Diese veränderte Sicherheitslage ist heute auch immer wieder dargestellt worden.
Das hat auf der einen Seite mit der Tatsache zu tun, dass Russland die Nato nicht als Partner betrachtet – so jedenfalls die übereinstimmende Meinung derjenigen, die hier heute an dem Gipfel teilgenommen haben -, sondern dass Russland die Nato – leider, muss ich sagen – auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges als Gegner auffasst. Dennoch – dafür habe ich mich heute auch wieder ausgesprochen – ist der doppelte Ansatz, also auf der einen Seite Abschreckung und eigene Verteidigung und auf der anderen Seite Gesprächsbereitschaft, sehr wichtig, wie überhaupt die Agenda 2030 als einen wichtigen Pfeiler hat, mehr politische Gespräche zu führen.
Wir sehen auch außenpolitisch zum Teil ein sehr gutes und abgestimmtes Zusammenwirken von China und Russland – ich denke da zum Beispiel an den UN-Sicherheitsrat und an gemeinsame militärische Operationen. Natürlich verfolgen wir auch die hybriden Aktionen sowohl von Russland als auch von China und sehen darin auch neue Herausforderungen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns politisch mehr abstimmen. Wie ich eben schon sagte, ist dies auch Teil des Konzeptes 2030.
Ich habe heute noch einmal zu dem Thema Afghanistan Stellung genommen. Die Operation in Afghanistan war eine langjährige Operation der Nato, und es war der erste Fall, in dem Artikel 5 angewendet wurde. Wir sollten – dafür habe ich geworben – auch nach dem militärischen Abzug aus Afghanistan und nach unserem Bekenntnis, uns auch politisch weiter zu kümmern, doch noch einmal darüber sprechen, was in Afghanistan gelungen ist und was uns nicht so gelungen ist, wie wir uns das vielleicht vorgestellt hatten. Ich habe dazu heute gesagt, dass es eben doch sehr viel schwieriger ist, ein politisch stabiles Staatswesen aufzubauen, als wir uns das vielleicht vorgestellt haben. Ich denke aber, auch angesichts der Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben verloren hatten, sollten wir, wie gesagt, noch einmal überlegen, was die gelungenen und was die weniger erfolgreichen Seiten dieser Mission waren.
Hinsichtlich der Fragen, die unsere Sicherheit betreffen, habe ich natürlich auch das Thema Ukraine, die Situation in Belarus, die nicht gelösten Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan, die Situation in Georgien und natürlich auch das Thema Libyen genannt.
Im Anschluss an die Berliner Konferenz wird in Berlin in der nächsten Woche noch einmal eine Konferenz zu Libyen auf der Außenministerebene stattfinden. Wir sehen ja, dass es doch Schritte zu einer erfolgreicheren Entwicklung in Libyen gibt, aber die Entwicklung ist natürlich noch nicht da, wo sie hinkommen soll. Die nächsten Schritte sind Wahlen und der Abzug der ausländischen Truppen aus Libyen. Hier ist also noch viel Arbeit zu tun. Auch das hat ja mit Aktivitäten der Nato zu tun und mit unserem Ziel, aus militärischen Aktionen dann auch wirklich politisch stabile Prozesse zu machen.
Was die Bekämpfung von Terrorismus betrifft, so geht gerade von Libyen immer noch große Gefahr in Richtung des Südens von Libyen, in Richtung der Sahelzone aus, auch was die Aktionsräume für terroristische Aktivitäten und die Destabilisierung dieser Region anbelangt.
Insgesamt war dies also ein wichtiger Nato-Gipfel, der jetzt einen klaren Arbeitsauftrag hin zu einem neuen strategischen Konzept gibt und der, wie ich finde, auch einen neuen Anfang dokumentiert hat. Ich habe für Deutschland gesagt, dass wir auch in Zukunft bereit sind, unseren Beitrag für die Nato zu leisten.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, das Thema China ist in Watford, in Großbritannien, vor etwas mehr als einem Jahr das erste Mal wirklich auf der Tagesordnung gewesen. Jetzt ist China schon eine systemische Herausforderung. Ist den Europäern wirklich bewusst, worauf sie sich da einlassen? Welche Risiken gibt es da? Ist Ihnen ein bisschen mulmig angesichts dieser Geschwindigkeit, in der sich ein Militärbündnis jetzt Richtung China orientiert?

Merkel: Ich will einmal sagen: Heute ist in der Diskussion sehr klar herausgekommen, dass in der ganzen Herausforderung vor allen Dingen auch Russland eine große Herausforderung ist. China spielt eine zunehmende Rolle, wie der ganze indopazifische Raum eine Rolle spielt. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, natürlich auch die transatlantischen Partner insgesamt, auch eine pazifische Nation sind. Hier ist der ökonomische und auch der militärische Aufstieg von China natürlich ein Thema.
Das heißt aber jetzt nicht, dass wir sozusagen alle unsere Bündnisverpflichtungen, die wir erst einmal auch im Innern und in unserer Nachbarschaft haben, nach hinten verschieben. Das sage ich auch immer wieder ausdrücklich. Aber wenn man sich die Cyberbedrohungen, die hybriden Bedrohungen, anschaut, wenn man sich die Kooperation von Russland und China anschaut, dann kann man nicht einfach China negieren. Insofern darf man das aus meiner Sicht jetzt auch nicht überbewerten. Wir müssen da also die richtige Balance finden.
China ist in vielen Fragen Rivale, und China ist gleichzeitig Partner für viele Fragen. Das haben wir ja gerade gestern bei G7 noch einmal deutlich gemacht. Ich finde es ganz wichtig, ähnlich wie wir das bei Russland machen, immer auch das Angebot zu einem politischen Gespräch, zu einem politischen Diskurs, zu machen, um zu Lösungen zu kommen. Aber da, wo es auch Bedrohungen gibt – ich sagte ja, im hybriden Bereich sind sie da -, muss man eben als Nato gewappnet sein.

Frage: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin. Ich würde gern zu den Ausgaben fragen. Sie sagten ja gerade, dass sich die Bundesregierung zu dem Zwei-Prozent-Ziel bekennt. Nun wird das ja offensichtlich nicht, wie in Wales beschlossen, bis 2024 erreicht. Wenn Sie sich dazu bekennen, wann denken Sie, dass Deutschland dieses Ziel erreichen wird? Ist eigentlich der US-Präsident nur im Ton konzilianter, was die Forderungen der USA danach betrifft, oder auch innerlich konzilianter als sein Vorgänger?

Merkel: Das müssen Sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika fragen. Wir haben ja immer deutlich gemacht, dass wir bis 2024 1,5 Prozent erreichen wollen. Wir waren in Wales unter 1,2 Prozent, und wir haben gesagt, dass wir aus unserer Sicht in Richtung 2030 dieses Zwei-Prozent-Ziel erreichen können. Wir haben ja in Wales nicht beschlossen, dass wir das schon im Jahre 2024 erreicht haben, sondern wir haben gesagt „towards“, also in Richtung zwei Prozent. Das tut Deutschland. Damit haben wir unseren Verteidigungshaushalt natürlich ganz massiv erhöht. Aber es gibt viele Länder, die das Zwei-Prozent-Ziel bereits erreicht haben. Das muss man ganz neidlos zugestehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, noch eine Frage zu China. Diese Schlusserklärung hat ja zwei Teile. Der zweite Teil sagt, dass die Nato einen konstruktiven Dialog mit China aufrechterhalten soll. Nun gibt es ja bis jetzt überhaupt keinen Dialog zwischen der Nato und China, anders als mit Russland. Da sich Deutschland auch sehr für diese Formulierung eingesetzt hat, können Sie uns erklären, wie die Nato Ihrer Vorstellung nach künftig als Organisation mit China in Dialog treten soll?

Merkel: Das wäre für mich eine Frage für die Ausarbeitung des strategischen Konzepts. Wenn man jetzt neue Herausforderungen identifiziert, dann muss man eben auch versuchen, diesen doppelten Ansatz, wie wir ihn auch mit Russland haben, mit Leben zu erfüllen. Das gibt es bis jetzt nicht. Vor etlichen Jahren wären solche Gespräche vielleicht auch noch sehr weit entfernt erschienen. Aber wenn wir das ernst meinen, dann muss mit China genauso gesprochen werden. Ich bin eine große Verfechterin dieses Zwei-Säulen-Ansatzes. Genau diesem Thema muss man sich in dem strategischen Konzept dann noch einmal widmen.

*Die Abschlusserklärung als Sicherheitskopie:
20210614_NATO_Brussels_Summit_Communique

(Foto: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis beim Gipfel – Foto NATO)