65 Jahre Bundeswehr: Steinmeier betont „Bringschuld“ gegen „freundliches Desinteresse“

Die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland existieren jetzt seit 65 Jahren, und die Würdigung dieses Ereignisses ist, durch die Coronavirus-Pandemie bedingt, deutlich kleiner ausgefallen als eigentlich geplant. An die Stelle des großen öffentlichen Gelöbnisses vor dem Reichstag in Berlin trat ein kleines Gelöbnis mit einer Abordnung vor dem Berliner Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten. Und Frank-Walter Steinmeier hat zu diesem Anlass eine Rede gehalten, die vor allem wegen des darin formulierten Anspruchs an die Gesellschaft auffällt.

Natürlich fanden sich in dieser Rede – im Wortlaut hier nachzulesen – die Aussagen, die von einem Staatsoberhaupt zu diesem Jahrestag erwartet werden: Die Bedeutung des Staatsbürgers in Uniform, die Zusage an die Soldatinnen und Soldaten, dass sie Anspruch auf bestmögliche Ausrüstung haben. Aber eben auch Anforderungen, die Frank-Walter Steinmeier an die Gesellschaft richtete:

Ihr Dienst ist wichtig für unser Land, für Freiheit und Demokratie. Doch wissen das auch die Staatsbürger ohne Uniform?
Es scheint paradox: Die Bundeswehr übernimmt heute mehr Verantwortung als je zuvor, ist aber im Bewusstsein, im Alltag der allermeisten Deutschen fast unsichtbar geworden. (…)
Doch wie viel von dieser Realität nehmen die Deutschen eigentlich wahr? Wer erfährt davon, wer interessiert sich dafür? Es droht ein freundliches Desinteresse, eine Gleichgültigkeit, die dem Vertrauen zwischen Bundeswehr und Gesellschaft nicht dient.
Und das ist nicht die einzige Herausforderung: Krieg, Gefecht, Tapferkeit, Verwundung, Trauma, Tod, bewaffnete, gar kämpfende Deutsche in anderen Ländern – das verdrängen wir gern, darüber sprechen wir nur ungern oder vor allem kritisch. Das macht es den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht leicht. Ich weiß, wie schwer es für viele Soldaten ist, über prägende Erlebnisse aus dem Einsatz zu sprechen, der auch zur Wirklichkeit der Bundeswehr heute gehört. „Das will keiner hören“, sagen sie. Oder: „Das können sowieso nur die verstehen, die so was selbst erlebt haben“. Das ist eine Herausforderung für viele Soldatenfamilien. Das ist eine Herausforderung für die Bundeswehrführung. In dieser Sprachlosigkeit liegt aber auch die Gefahr einer gegenseitigen Verständnislosigkeit von Soldat und Gesellschaft, die wir nicht einfach hinnehmen können.
Denn für uns muss weiter gelten, was vor 65 Jahren Maxime der neugegründeten Bundeswehr war: Armee und Gesellschaft dürfen sich in einer Demokratie niemals fremd werden!
In diesem Anspruch steckt eine Verpflichtung für beide Seiten. (…)
Ihre Kämpfe sind auch unsere Kämpfe, auch wenn, ja gerade weil bei uns zuhause Frieden herrscht. Das ist unserer Gesellschaft nicht nur zumutbar, das muss unserer Gesellschaft wichtig sein. Diese Anteilnahme, dieses Interesse ist es, was die Gesellschaft Ihnen schuldet.

Steinmeier griff damit die Formulierung vom freundlichen Desinteresse auf, die der damalige Bundespräsident Horst Köhler bereits 2005 gebraucht hatte:

Gewiss, die Bundeswehr ist gesellschaftlich anerkannt; aber was heißt das eigentlich genau? Die Deutschen vertrauen der Bundeswehr, mit Recht, aber ein wirkliches Interesse an ihr oder gar Stolz auf sie sind eher selten. Noch seltener sind anscheinend der Wunsch und das Bemühen, den außen- und sicherheitspolitischen Wandel zu verstehen und zu bewerten, der da auf die Bundeswehr einwirkt.
Natürlich lassen sich für dieses freundliche Desinteresse Gründe angeben: Die Deutschen sind nach 1945 ein wirklich friedliebendes Volk geworden und halten gern vorsichtige Distanz zu allem Militärischen. Die Wehrpflicht hat in der Praxis fast den Charakter der Freiwilligkeit angenommen, das verringert für viele Bürger die lebenspraktische Bedeutung der Bundeswehr. Zugleich fördert es die Fehleinschätzung, Soldaten seien eine Berufsgruppe wie andere, und wenn sie freiwillig im Ausland unterwegs seien, dann auf eigene Gefahr und außerdem ja auch zu höheren Tagessätzen. Auch das Bedrohungsgefühl hat sich auseinander entwickelt: Früher drohte den Bürgern in Zivil und den Bürgern in Uniform dieselbe Kriegsgefahr, heute scheinen die Heimat friedlich und die Einsatzorte der Bundeswehr weit.

Eine wirkliche Antwort darauf, wie dieses freundliche Desinteresse überwunden und der Anspruch auch an die Gesellschaft realisiert werden kann, dass sich Armee und Gesellschaft in einer Demokratie niemals fremd werden dürfen – diese Antwort hat auch der heutige Bundespräsident nicht. Aber er ermahnt zumindest Politik und Parlament, sich nicht vor der Frage wegzuducken, was die Bundeswehr warum leisten soll:

Wer dem Staat und der Gesellschaft seine Bereitschaft beweist, das eigene Leben für unsere Sicherheit, Demokratie und Freiheit einzusetzen, der hat aber auch einen Anspruch auf eine überzeugende Antwort auf die Frage: Wofür wird die Bundeswehr gebraucht? Wofür diene ich?
Die Antwort auf diese Frage ist die Bringschuld von Parlament und Politik gegenüber den Soldaten. Es ist ihr Beitrag dazu, dass wir uns nicht fremd werden. Ich selbst habe über viele Jahre hinweg Einsatzmandate formuliert und im Bundestag eingebracht, deshalb weiß ich: Mit einem Bundestagsbeschluss nach kurzer Debatte allein ist es nicht getan.

Und noch ein wichtiger Punkt stach aus Steinmeiers Rede heraus: Die eindeutige Absage an rechtsextremistische Haltung unter Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr:

Den Nationalsozialisten diente sich ein großer Teil der militärischen Elite an. Die Wehrmacht verübte unfassbare Verbrechen im Vernichtungskrieg und hinter der Front. Geschützt durch deutsche Soldaten, oft mit ihrer direkten Beteiligung, wurde der systematische Völkermord an den europäischen Juden geplant und ausgeführt.
Die Bundeswehr steht nicht in dieser Tradition. Das freiheitlich-demokratische Fundament der Bundeswehr ist stattdessen geprägt durch die Ideen der Inneren Führung und das Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“. Diese Republik kann der Bundeswehr vertrauen!
Begründen Sie dieses Vertrauen jeden Tag aufs Neue, wenn Sie Ihren Dienst tun. Seien Sie mutig auch gegen Feinde und Verächter der Demokratie, gegen Rechtsextreme in den eigenen Reihen. Wer die Demokratie hasst, der kann ihr nicht dienen.
In unserem Land gibt es Soldatenehre nur als freiheitliche, als demokratische Ehre.

Gerade der letzte Satz richtet sich wohl kaum an die Rekrutinnen und Rekruten, die zum Gelöbnis vor dem Schloss Bellevue angetreten waren. Sondern in die Bundeswehr hinein.

(Foto: Gelöbnis in kleinem Rahmen vor dem Schloss Bellevue – Felix Zahn/photothek.net)