Nach Todesfall auf dem Marsch: „Individuelle Unversehrtheit hat Priorität“

Aus den fatalen Folgen eines Eingewöhnungsmarsches in Munster, bei dem am 19. Juli vergangenen Jahres ein Offizieranwärter starb und drei weitere zum Teil schwer erkrankten, hat das Heer Konsequenzen gezogen. Fordernde körperliche Ausbildung müsse immer dann beendet werden, wenn ein Lehrgangsteilnehmer klar mache, dass er nicht mehr könne, wies der Kommandeur des Heeres-Ausbildungskommandos in Leipzig, Generalmajor Norbert Wagner, die Truppe an. Die individuelle persönliche Unversehrtheit müsse Vorrang haben.

Wagner begründete diese Anweisung in seinem Mitte März versandten Kommandeurbrief 02-2018 mit der Fürsorge nicht nur für die auszubildenden Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die Ausbilder. Bei schwerwiegenden Folgen einer körperlich fordernden Ausbildung, vor allem Schädigungen oder Krankenhausaufenthalten, müssten die Ausbilder sonst damit rechnen, dass gegen sie wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung ermittelt werde.

Der Generalmajor verwies dazu ausdrücklich auf die Ermittlungen zu dem Marsch in Munster: Das rechtsmedizinische Gutachten für die Staatsanwaltschaft Lüneburg gehe davon aus, dass die Symptome des Hitzschlags, den die vier Soldaten erlitten, von den Ausbildern hätten erkannt werden müssen. Ähnliche Fälle habe es in Hammelburg und Pfullendorf gegeben.

Die von Wagner erlassenen vorsorgenden Regelungen:

Fordernde körperliche Ausbildung ist unverzichtbar zum Erreichen/Erhalt der individuellen Einsatzbereitschaft. Dieser Forderung steht die individuelle körperliche Unversehrtheit als ein besonders schützenswertes Gut gegenüber. Im Zweifelsfall ist der individuellen persönlichen Unversehrtheit immer Priorität einzuräumen. Das heißt konkret, dass fordernde körperliche Ausbildung immer dann einzustellen/zu beenden ist, wenn der Lehrgangsteilnehmer zu verstehen gibt, dass er nicht mehr kann. Auch entsprechende körperliche Symptome der Auslastung/Überlastung müssen zum Abbruch der Belastung führen, selbst wenn der Einzelne sich „durchbeißen“ möchte und dies klar zum Ausdruck bringt. Hier hat die Fürsorgeverantwortung des Ausbilders Priorität.
Es gilt die individuellen Belastbarkeitsgrenzen noch mehr zu beachten, insbesondere durch Bilden von differenzierten Leistungsklassen, und die Anzeichen von Gesundheitsbeeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen.

Zugleich verwies der Kommandeur darauf, dass das kein Freibrief sei für das Vermeiden körperlicher Belastung:

Wir müssen aber auch an die Eigeninitiative und den Leistungswillen der Soldaten appellieren. Daher ist der Trainingsteilnehmer darauf hinzuweisen, dass es bestimmte Voraussetzungen gibt, die er erfüllen muss, um die geforderten Laufbahnziele zu erfüllen.

Der Stab des Ausbildungskommandos soll jetzt die verschiedenen Ausbildungsinhalte und Trainingstypen auf körperlich belastende Inhalte überprüfen, die zur Erreichung der Ausbildungsziele zwingend nötig seien und beibehalten werden müssten: Diese Mindestanforderungen gilt es klar zu definieren und frühzeitig darüber zu informieren.

(Vorsorglich zwei Hinweise: Die zu diesem Thema bisher recht emotionale Debatte sollte bitte möglichst sachlich bleiben. Und: Der Kommandeurbrief ist nicht eingestuft; es ist also kein ‚Geheimpapier‘.)

Nachtrag: Nach zahlreichen Anfragen hier zur Ergänzung die einleitenden Absätze des Kommandeurbriefs:

Im Zuge der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in der Causa Munster wurde ein rechtsmedizinisches Gutachten eingeholt. Darin wird festgestellt, dass aus medizinischer Sicht bei einer ganzheitlichen Betrachtung der Umstände (Außentemperatur, körperliche Belastung, Bekleidung usw.) die körperlichen Symptome für einen Hitzschlag von den Ausbildern im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht und Verantwortung hätten erkannt werden können. Es ist zu vermuten, dass die ermittelnde Staatsanwaltschaft dies ihrer strafrechtlichen Bewertung zugrunde legt. Zwei ähnliche Fälle sind derzeit in Hammelburg und in Pfullendorf bekannt.
Bei fordernder körperlicher Ausbildung, bei der körperliche Zusammenbrüche/Ausfälle von Soldatinnen/Soldaten zu verzeichnen sind und bei denen eine „schwerwiegende Folge“ (körperliche Schädigungen, aber auch bereits kurze Krankenhausaufenthalte) eintritt, wird regelmäßig gegenüber den verantwortlichen Ausbildern der Verdacht der „fahrlässigen Körperverletzung“ angenommen und zunächst entsprechende straf- und disziplinarrechtliche Ermittlungen aufgenommen.

(Archivbild November 2016: Rekruten mit leuchtender Marschsicherung absolvieren einen Nachtorientierungsmarsch im Rahmen der Allgemeinen Grundausbildung in der Marinetechnikschule Parow – Bundeswehr/Christian Rödel)