Lesestoff: Litauens Bedrohungsanalyse
In Litauen sind hunderte deutscher Soldaten stationiert: Im Rahmen der NATO-Rückversicherung für den Bündnispartner führt die Bundeswehr dort ein Bataillon im Rahmen der so genannten enhanced Forward Presence, der vorgeschobenen Präsenz der Allianz. Deshalb ist auch aus deutscher Sicht von Bedeutung, wie das kleine baltische Land seine Sicherheit und seine Bedrohung wahrnimmt – und dazu ist am (heutigen) Montag ein Bericht der litauischen Regierung veröffentlicht worden.
Die Bedrohungsanalyse und Bewertung der Situation (Threat Assessment) Litauens ist dabei eindeutig: Russland als wesentliche Bedrohung des Landes.
The major threat to the national security of Lithuania originates from Russia’s aggressive intentions and actions. Although in 2017 Russia tried to demonstrate an intention of positive dynamics in relations with the West, its strategic goals remained the same – to change the global power balance and dominate within its perceived zone of interests, including the Baltic region.
Measures undertaken by NATO nations to enhance their national and NATO security, in particular the enhanced Forward Presence (eFP), and overall increased Baltic States’ national and the Allied military capabilities deployed in the region, reduced the probability of Russia’s military aggression against the Baltic States.
Der gesamte Bericht (in englischer Sprache) zum Herunterladen hier:
NATIONAL THREAT ASSESSMENT 2018
(Archivbild September 2017: Deutsche Soldaten der Panzerpioniertruppe und litauische Soldaten der Infanterie üben gemeinsam beim Manöver Engineer Thunder auf dem Truppenübungsplatz Pabrade in Litauen – Bundeswehr/Jane Schmidt)
Wenn man die Verteidigungsanstrengungen Litauens mit seinen knapp 2 Millionen Einwohnern und seinem BIP von 53 Milliarden US$ bzw. 29.000 US$/Kopf mit Deutschland (83 Millionen Einwohner, 4,2 Billionen US$, 50.206 US$/Kopf) vergleicht, kann man sich eigentlich nur noch schämen:
Das kleine Litauen bietet 6.500 aktive Soldaten, 8.000 freiwillige Reservisten in der Nationalgarde und 3.000 weitere Reservisten.
Verglichen mit der Einwohnerzahl wären das in Deutschland 270.000 aktive Soldaten und 457.000 Reservisten – in der Realität findet die Bundeswehr für ihre lächerlichen 170.000 aktiven Soldaten und von den lächerlichen 64.000 Dienstposten in der Reserve ist nur die Hälfte besetzt…
Zur Ergänzung sei erwähnt, dass es in Deutschland rund 660.000 dienstleistungsüberwachte Reservisten gibt, von denen rund 607.000 verfügbar sind.
Das sind aber nur theoretische Zahlen. Aus dem Pool haben nur 168.000 Reservisten eine Freiwilligkeitserklärung abgegeben. Davon ist aber nur ein Bruchteil tatsächlich verfügbar, weil die Wehrersatzbehörden oftmals nicht mehr über die aktuelle Anschrift verfügen.
Auch diese Zahlen sind zu theoretisch – was zählt, sind die 34.000 besetzten Dienstposten.
Als Ehemaliger der Bundeswehr und gleichzeitig litauischer Staatsbürger bin ich tief betrübt, dass sich im Land meiner Vorfahren eine politische Kaste eingenistet hat, die blind der Blaupause US-strategischer Interessen und Einflüsterungen folgt.
@Andrenio
Durchaus neu, diese Auffassung. Ihr Vorschlag zu anderer Politik, im Baltikum/in Litauen unter Kenntlichmachung denkbarer Folgen lautet wie, bitte?
Klar, auch Sicht der Litauer ist das vollkommen korrekt: Russland ist die größte Bedrohung, schon allein deshalb, weil weit und breit keine sonstigen Risiken vorhanden sind. Ob man dies aber aus Sicht der Westens verallgemeinern kann, zugespitzt: „Litauen/Baltikum ist das nächste Ziel der Russen“ ist zumindest fraglich.
Ein verbreitetes Argument ist ja, Russland wolle die Kontrolle über Gastransit und Ostseehäfen im Baltikum. Aber spätestens mit dem neuen russischen Ostsee-Terminal im Ust-Luga für Eisenbahn-, Auto- Container- und Erdöl-Verladung sowie Nordstream I und II zeigt sich, dass Russland gerade nicht bestrebt ist, Kontrolle über die Transitstecken im Baltikum zu erlangen. Sondern die haben in den letzten Jahren an die 20 Mrd. USD investiert, um alternative Transportrouten ums Baltikum herum zu erschließen.
Angesichts der vielen andern Spannungsfelder, auf denen Russland die Auseinandersetzung mit dem Westen sucht, wie Ukraine/Donbass, Serbien/Kosovo, Moldavien/Transnistrien, Georgien mit Abchasien und Süd-Ossetien, Afghanistan mit den Taliban, Syrien, Iran und Nordkorea sowie Cyberwarfare ist das Baltikum aus Sicht der Russen angesichts deren Handlungen allenfalls ein Nebenschauplatz.
Aber da wird vom Westen überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit investiert – vielleicht wollen es ja die Russen gerade? ;-))
Es scheint ja gut zu sein für die Moral, ein gefestigtes Feindbild zu haben.
Der Marine gefällt es auch, Wellen zu machen mit grossen Manövern, Tag für Tag mit dem Schleppsonar den Ozean zu beschallen. Nur: passt das Feindbild noch? Die eigene Interessenzone dominieren zu wollen haben auch andere, denen Deutschland freundlich beisteht, und ob es die globale Macht-Balance gibt, ist doch fraglich: zuviel Bewegung in den letzten Jahren in viele Richtungen, politischer Wackelpudding in allen Erdteilen.
Welche aggressiven Aktionen Russlands gegen Litauen sind denn gemeint?
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages schreibt (WD 2 – 3000 – 010/17), Litauen habe 2011 mit einem neuen Bildungsgesetz „Litauisch als einzige Sprache für die landesweit einheitlichen Abschlussprüfungen der weiterführenden Schulen“ eingeführt. Das scheint sprachlich zwingender zu sein als die dänische Schule in Flensburg oder das sorbische Gymnasium in Bautzen. Andere baltische Staaten gehen noch konsequenter mit nationalen Minderheiten um.
Im Bericht des Bundestages findet sich eine andere Gefährdung der Existenz von Litauen: Abwanderung / Auswanderung.
„fast 60 Prozent aller Befragten sind sich zumindest nicht sicher,
Litauen niemals verlassen zu wollen“.
Kontinuierlicher Rückgang der Bevölkerung seit 1990.
Was wird denn passieren, wenn es so weitergeht?
Aufleben alter Fusionsideen eines national selbstbewussten Nachbarn, der sich auch an die Vergangenheit von Lemberg erinnert und Ideen zur Neugliederung fördert?
Deutschland sollte zu Deeskalation und multilateraler Zusammenarbeit beitragen, statt Waffen an die Grenzen zu schaffen.
Abschliessend schreibt der WD: „Insgesamt sind Fragen von Ethnizität und Identität in der Politik in Litauen aber deutlich weniger wichtig als in Estland und Lettland“.
Als Beispiel dessen, was in der genannten Studie als Bedrohung von russischer Seite angesehen wird, sei das „illegally built monument“ genannt, welches mit Foto auf S. 44 aufgelistet wird.
Das ist ein einfacher schwarzer Grabstein, kaum höher als 1m, auf dem die Namen von sieben Soldaten der Roten Armee (alles Mannschaftsdienstgrade) genannt sind, die dort im Juli 1944 gefallenen sind, dazu ein fünfeckiger Stern (auch schwarz, nicht rot).
Klar, die Rote Armee hat den Balten 40 Jahre Kommunismus gebracht. Aber sie hat auch etliche Juden aus den KZs befreit. Dass die Balten nun jegliche Erinnerung daran einseitig als „russische Bedrohung“ einstufen, hat nichts mit einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur gemein und spielt lediglich den russischen neo-imperialen Ambitionen in die Hände.
Schade.
Das muss jemand mal deutlich artikulieren. Auf die Russen werden Litauer nicht hören. Also müssen wir es tun – auch wenn es schwer ist.
@stups und Andrenio
Es ist ja nicht nur so, dass der Westen eine Bedrohung sieht. Es ist auch so, dass Russland bewusst eine antiwestliche Politik fährt, um seine innere Macht abzusichern.
Sicherlich haben die Amerikaner in den letzten 20 Jahren mit ihrer Politk dazu beigetragen, eine Konfrontation mit Russland zu heraufzubeschwören- erinnert sei nur an die idiotische Idee Georgien in die NATO aufzunehmen – aber die innenpolitischen Motive Putins sollte man nicht außer acht lassen.
In einer solchen Atmosphäre kann ich ein kleines baltisches Land gut verstehen, wenn es sein Potential mit demdes großen Nachbarn vergleicht, der übrigens gerade fremdes Gebiet annektiert hat, Cyberangriffe startet etc. Das ist ganz und gar verständlich.
Trotzdem tut Verständigung not.
Diese ganzen Themen hätte sich die NATO aber vorher grundsätzlich überlegen sollen.
@ Klauspeterkaikowsky | 26. März 2018 – 14:26
„Durchaus neu, diese Auffassung.“
Haben Sie die letzten Jahre der öffentlichen Diskussion verpasst, so dass diese Auffassung für Sie neu ist? ;-))
„Ihr Vorschlag zu anderer Politik, im Baltikum/in Litauen unter Kenntlichmachung denkbarer Folgen lautet wie, bitte?“
Das ist doch klar: Integration, nicht Exklusion der russischsprachigen Minderheit. Für Litauen mit 6% weniger relevant, für Estland und Lettland mit 28%-35% extrem wichtig. Denn diese Minderheit wird immer das Einfallstor russischer Interessen im Baltikum darstellten, solange sie nicht gleichberechtigt am politischen, wirtschaftlichem und kulturellem Leben teilnimmt.
Und man kann sich dann entspannt zurücklehnen, wenn die Russen dort so integriert sind, wie die Sorben in Sachsen/Brandenburg oder die Dänen in Schleswig-Holstein: kulturell selbstständig, aber mit eindeutigem Bekenntnis zum territorialen Staatswesen.
Tja, daher als „Vorschlag zu anderer Politik, im Baltikum“: Alter Wein in neuen Schläuchen ;-))
@Walter Eucken
Dann lesen Sie mal tweet davor.
„Blaupause US-strategischer Interessen und Einflüsterungen“ folgen. Unsinn, wer ruft wen zu Hilfe.
Inklusion befriedigt Putins Hunger?
Walter Eucken | 26. März 2018 – 16:22
Inwiefern werden die russischen Minderheiten denn systematisch und staatlicherseits benachteiligt? Integration erfordert übrigens den Willen beider Seiten. Und wenn ich mir den Vertreter der russischen Minderheit im unten verlinkten Video anschaue, dann bezweifle ich, dass von Seiten der russischen Minderheit (oder zumindest ihrer Vertreter) ein ernsthaftes Interesse und ernsthafte Bemühungen zur Integration bestehen – der Vertreter der russischen Minderheit spricht russisch, hat eine russische Flagge auf dem Schreibtisch und ein Bild von Stalin im Hintergrund. Das sollte genug sagen.
https://www.youtube.com/watch?v=nhQS48vUye0
@Klauspeterkaikowsky | 26. März 2018 – 16:35
„Blaupause US-strategischer Interessen und Einflüsterungen“ – tja, die USA haben aufgrund von mangelnder Osteuropa-Kompetenz das goldene Händchen, exakt das Gegenteil des Gewünschten zu erreichen.
„Inklusion befriedigt Putins Hunger?“ Putins Hunger? –unklar.
Aber: ordentliche Inklusion führt die Fähigkeit Putins zum Abbeißen gegen null – so wie bei den (slawischen) Sorben in Sachsen.
Mangelnde Inklusion dagegen lässt ganze Gebiete Putin in den Schoß fallen – so wie die Krim und Donbas, vorher Transnistrien, Ossetien und Abchasien.
Daher: Inklusion ist der Schlüssel zum Erfolg in hybriden Konflikten – und nicht Repression bzw. Exklusion, welche diese Konflikte erst befeuert.
Boots on the Ground | 26. März 2018 – 16:57
„Inwiefern werden die russischen Minderheiten denn systematisch und staatlicherseits benachteiligt?“
Sie kennen sich offenbar überhaupt nicht aus im Baltikum ;-)) Hier mal einige Zitate aus dem Spiegel von 2017:
„In Estland und Lettland werden Ex-Sowjetbürger systematisch benachteiligt, vor allem russischsprachige. Die „Nichtbürger“ stehen unter Generalverdacht, die Diskriminierung trifft auch Neugeborene.“
„Putin nutzt die Existenz der Nichtbürger-Regelung für seine hybride antiwestliche Propaganda, deshalb sollte die lettische Politik es neben allen moralisch-ethischen Aspekten auch als Problem der nationalen Sicherheit betrachten, dieses System abzuschaffen.“
(Artikel „Angst vor der russischen Minderheit“)
Wenn die russischsprachigen Bürger, die in der Mehrzahl schon zu alt zum Erwerb einer neuen Sprache sind, sich nicht mehr als „Nicht-Bürger“ diskriminiert sehen, wird der Zulauf zu solchen Typen mit Stalin-Bildern rapide abnehmen.
Stalin hat sie angesiedelt, um die russische Einflusssphäre dort nachhaltig zu festigen.
Es ist ja nicht so, als ob man ethnischen Russen die Staatsbürgerschaft verweigert; um sie zu erwerben, muss man einen Sprachnachweis in der offiziellen Landessprache erbringen. D.h. die ethnischen Russen können und wollen seit Jahrzehnten nur Russisch sprechen.
Das haben wir hier so nicht gehabt, abgesehen von dänischen Lehrern, die kein Deutsch sprachen.
Es liegt auf der Hand, dass sich Spannungen ergeben, wenn die spanische Minderheit in den USA Spanisch oder die albanische Minderheit Albanisch in Mazedonien als offizielle Sprache fordern, denn die Anerkennung hätte massive Auswirkungen.
@Walter Eucken
Sie haben sicher recht, wenn Sie diese Probleme in Estland und Lettland betonen, es ging aber gerade um Litauen. Und in Litauen besteht das Problem der Integration weitgehend gar nicht (insbesondere nicht in der in LV und EE heiklen Frage der Staatsbürgerschaft), zwar findet man Vertreter der älteren Generationen, die kein Litauisch sprechen, aber die jüngeren Leute erkennt man am Akzent nicht mehr. Es gibt polnische und russische Schulen, aber wie von stups korrekt angemerkt, ist das Zentralabi für alle einheitlich auf litauisch. Das Fach Muttersprache wird aber separat behandelt, so dass die Prüfung des Litauischen (2017 10% durchgefallen, und zwar Muttersprachler) für die Nichtmuttersprachler als Fremdsprache viel einfacher ist.
Das Pamphlet hat es auch in die litauischen Medien geschafft. Beim reichweitenstärksten Portal delfi PUNKT lt gab es dazu sehr schnell über 1000 Kommentare (die IP-Adresse ist ersichtlich, das Land wird angezeigt). Das reichte von den „abartigen asiatischen Horden“ über „der Staatsschutz outet sich als Informationszentrum Russland“ (denn litauische Probleme wie Migration, von 3,7 Mio 1990 auf jetzt 2,8 Mio, wurden überhaupt nicht erwähnt, gefühlt gins es nur um RUS und etwas BY), bis hin zu „hört endlich auf mit dem Schwachsinn ‚der Russe greift an‘, die Schlapphüte wollen doch nur mehr Kohle“. Wie man dem Text der Broschüre entnehmen kann, macht die sich für Kritik einfach unangreifbar, da ja jeder der Zweifel hegt, gleich als russischer Agent angesehen wird.
Ob der Sachverhalt der Nichtbürger in LV nun einfach nur Anlass und Angelpunkt für Propaganda ist oder doch eher berechtigte Kritik? Ich persönlich neige zu Letzterem. Auch die Bereitschaft zum Spracherwerb wird dadurch enorm gemindert.
In Lettland gab es am 22.03.18 in letzter Lesung eine parlamentarische Verabschiedung einer Vorlage, wonach Lettisch stufenweise als alleinige Unterrichtssprache eingefuehrt werden solle. Die bisherige gemischte Unterrichtung entfaellt somit.
Das RUS AM reagierte natuerlich kritisch und beklagte, das Lettland das „russiche Erbe“ eliminieren wolle. RUS- staemmige Gruppierungen kuendigten weitere Proteste an.
In Lettland stehen im Herbst Parlamentswahlen an.
US Praesident Trump trifft sich im April mit allen drei baltischen Staaten zu einem Gipfel.
In den USA rufen bereits einige, wonach man den Russen im Vorfeld zu den Wahlen nicht die Informationshoheit ueber die ethnischen Russen in Lettland ueberlassen duerfe. RUS wolle die Wahlen nutzen, um weitere Keile in NATO und EU zu treiben. – –
Ich denke, die bislang nicht einvernehmlich geloesten ethnischen Fragen im Baltikum werden Moskau immer einen Hebel bieten, um Druck in der Region und somit in Europa auszuueben. Dieses Potenzial unter einer gewissen Grundspannung zu halten ist fuer Moskau vielfaeltig nutzbar. Dass es in den baltischen Staaten fuer entsprechende Befuerchtungen sorgt, ist nachvollziehbar. Das russische Verhalten in der UKR und auf der Krim genuegt, um sich dessen bewusst zu sein.
Allerdings sollte man in Europa aufpassen, dass bspw. Hardliner wie der neue US- Nat. SichBer Bolton nicht zur weiteren Eskalation beitragen. Rechtskonservative Medien in den USA haben das Thema bereits aufgegriffen und bereiten das Setting in Washington.
Alle Beteiligten verfuegen ueber ein Drohpotenzial, das leicht ueberhitzen kann. Das gesamte EU-/ NATO – RUS Verhaeltnis ist zurzeit gereizt und anfaellig fuer weitere Verschaerfungen. Die weiter oben angesprochene Inklusion der RUS- Minderheit entspricht dem gemeinsamen EU- Ansatz. Inwiefern dieser bei den Zielgruppen Gehoer finden wird, mag bezweifelt werden. Aber hier hat die EU eine Pflicht, maessigend einzuwirken. – –
An ungeloesten ethnischen Fragen sind ueberdies schon ganze Imperien zerbrochen.
Russland hat überhaupt kein Interesse daran, eine Integration russischer oder russischstämmiger Bürger in den baltischen Staaten – oder sonstwo innerhalb seines beabsichtigten Einflussbereichs – zuzulassen. Die Option, zur „Rettung“ von „russischen Staatsbürgern“ großzügig Pässe auszuteilen, um Gründe für eine Intervention oder Unterstützung separatistischer Bestrebungen zu haben, besteht aus Sicht Moskaus ohnehin stets. Offen oder verdeckt.
Dass baltische Nationalisten die Sache möglicherweise gern auch anheizen, macht die Situation nicht besser, nur muss man sich auch vergegenwärtigen, dass Russland über die staatlich kontrollierte Medienlandschaft allen möglichen Unsinn weitgehend unwidersprochen in die Gehirne der russischsprachigen Minderheiten bläst. Vgl. beispielhaft für Deutschland nur die angebliche Vergewaltigung einer 13-jährigen Russlanddeutschen in Berlin-Marzahn. Es gibt immer noch Menschen in Deutschland, die die Räuberpistole für wahr halten!
Dass es durchaus auch Diskriminierung gibt, mag ja sein. Viel entscheidender ist die Tatsache, dass diese Diskriminierung mit Wissen und Wollen Russlands in der Propaganda völlig außerhalb jeder Proporz überzeichnet und verzerrt wird – um gerade einen Graben zwischen die Bevölkerungsgruppen in den baltischen Ländern zu ziehen.
Solange auch nur die abstrakte Gefahr droht, dass im Krisenfall plötzlich „kleine grüne Männchen“ oder „höfliche Leute“ im Baltikum auftauchen – und sei es nur als Ablenkung von anderen Schauplätzen – ist eine NATO-Präsenz vor Ort notwendig, die derartige Bestrebungen durch ihre bloße Anwesenheit im Keim erstickt und de facto ein offenes militärisches Commitment der russischen Armee erfordern würde.
Bislang schreckt Putin nämlich – noch – vor allzu offenem eigenem Engagement von Beginn an zurück. Die russische Propagatsya-Vorgehensweise ist bislang, jede eigene „offizielle“ Beteiligung unter Aufbieten selbst hanebüchenster Argumentationen zu leugnen, jedenfalls so lange, bis der Erfolg sich deutlich genug abzeichnet. Von „freiwillig“ „urlaubenden“ Soldaten (n.b. mit voller Ausrüstung) bis hin zur blanken Leugnung offenkundiger Tatsachen ist bei den Russen prinzipiell alles drin. Und die eigene russische und russischsprachige Bevölkerung im Interessengebiet kriegt bekanntermaßen ständig eine formveränderliche Realität über die Medien vorgebetet. Ist dann das Gelingen der Operation sichtbar, wie auf der Krim oder im Donbas, war man plötzlich immer schon dabei und hat auch nie etwas anderes behauptet. Das erinnert schon an Orwell.
Da sich Strategie nicht an der angeblichen Absicht des Gegners bemisst, sondern die vermutete Absicht rot sich an den gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten orientiert, muss man die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Sich auf einen militärischen Konflikt vorzubereiten, heißt dabei noch lange nicht, dass man ihn anstrebt.
Was viele Menschen in Deutschland nicht verstehen ist, dass es gar nicht darum geht, im Baltikum mit den dort stationierten Kräften einen eventuellen konventionellen russischen Angriff aufzuhalten – es geht lediglich darum, die bislang anderswo erkannte Strategie Moskaus politisch so zu verteuern, dass ihr mittelfristiger Nutzen für die dortigen Planer nicht mehr vertretbar erscheint.