Kein Mord im ISAF-Einsatz (oder: Die Staatsanwaltschafts-Statistik)
Seit dem Jahr 2013 ist die Staatsanwaltschaft in Kempten im Allgäu bundesweit zentral für Ermittlungsverfahren zuständig, die gegen Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz eingeleitet werden. Mögliche Strafaten eines deutschen Soldaten, so die damalige Überlegung, sollten von Staatsanwälten bearbeitet werden, die sich in die Materie Streitkräfte eingearbeitet haben – und nicht wie zuvor von Staatsanwälten, die keine Ahnung von der Bundeswehr haben und sich um ein Verfahren nur deshalb kümmern müssen, weil der Beschuldigte in ihrem Zuständigkeitsbereich wohnt.
Auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Ulrike Gote im bayerischen Landtag hat nun das Bayerische Staatsministerium der Justiz eine Statistik der bisherigen Arbeit dieser Schwerpunktstaatsanwaltschaft mitgeteilt. Zusammengefasst: Vom 1. April 2013 bis 30. Juni 2016 wurden insgesamt 49 Ermittlungsverfahren gegen 51 Bundeswehrangehörige in besonderer Auslandsverwendung (so die offizielle Formulierung) eingeleitet. Damit waren neben ihren anderen Geschäftsaufgaben drei Oberstaatsanwältinnen und Oberstaatsanwälte sowie vier Staatsanwältinnen und Staatsanwälte als Gruppenleiter befasst. Die konkret für diese Verfahren aufgewendeten Arbeitskraftanteile werden nicht erhoben, teilte das Ministerium mit; mit anderen Worten: Wie aufwändig das ist und ob die Einrichtung dieser zentralen Staatsanwaltschaft sinnvoll war, lässt sich aus der Statistik nicht ablesen.
Die Statistik für die einzelnen Jahre seit Arbeitsbeginn 2013 unten, aber zuvor noch ein Hinweis. Als ich vergangene Woche diese Statistik bekam, hat mich natürlich ein dort genanntes Verfahren im Jahr 2014 aufgeschreckt: Für das Einsatzgebiet Afghanistan steht dort lapidar 1 Mord.
An einen Mordfall im deutschen Afghanistan-Kontingent konnte ich mich nicht erinnern, deshalb bin ich dem mal nachgegangen. Nach mehreren Telefonaten mit der Staatsanwaltschaft Kempten und der Staatsanwaltschaft Kiel, an die das Verfahren mit dem entsprechenden Aktenzeichen abgegeben wurde, stellte sich das ganze als, äh, Büroversehen heraus: Da hatte jemand das Häkchen in der Statistik falsch gesetzt. Bei dem entsprechenden Verfahren handelte es sich um eine Anzeige im Zusammenhang mit dem Tod der Offizieranwärterin Jenny Böken auf der Gorch Fock; die Ermittlungen wurden eingestellt.
Hier die Kemptener Statistik:
(Archivbild März 2013: Feldjäger schützen die Delegation des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey beim Besuch der Ali Chapan High School in Mazar-e Sharif – Bundeswehr/Sebastian Wilke)
Man möge mir bitte mein fehlendes juristisches Wissen verzeihen…: Sind das alles Anklagepunkte aus dem, ich sag mal, „Binnenverhältnis“ der Bundeswehr und der Kameraden untereinander? Wie der zitierte „tätliche Angriff auf Vorgesetzte“. Oder sind das auch Anklagepunkte bei Fehlverhalten ggü. nicht-Bundeswehr-Angehörigen?
Gibt es Näheres zu 2015 „Beihilfe zum Mord“?
Es geht dabei generell um Straftaten von Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz, jedenfalls um die Vorfälle, die dem deutschen Strafgesetzbuch unterliegen (also eben nicht, wenn es z.B. um militärische Handlungen in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt wie in Afghanistan geht, die dem Völkerstrafgesetzbuch unterliegen und damit in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft fallen).
@Dieter Arndt
Nachdem es mich schon ne Woche gekostet hat, dem scheinbaren Mordfall nachzugehen, habe ich das andere Vefahren glatt verschlampt…
Was ist wenn eine „Bw-interne“ Straftat wie Gehorsamsverweigerung oder tätlicher Angriff auf Vorgesetzte im normalen Betrieb in Deutschland passiert? Ist dann doch der örtlich zuständige Staatsanwalt in der Pflicht? Wenn ja müsste er sich ja ebenfalls erst in die Materie „Bundeswehr“ einarbeiten, womit der beabsichtigte Experten-Effekt in solchen Fällen wegfallen würde.
Wenn das zutrifft heißt es im Umkehrschluss, dass man offenbar nur bei den Verfahren im Auslandseinsatz mittels besonderer Expertise Fehler vermeiden möchte; während Fehler bei Verfahren in Deutschland „nicht so schlimm“ sind. Die Vermutung liegt nahe, dass dies der höheren Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit bei Auslandseinsätzen geschuldet ist.
Ich habe von irgendwann in grauer Zellen Erinnerung, dass diese Schwerpunktstaatsanwaltschaft ursprünglich einmal in Potsdam aufgrund der räumlichen Nähe zum Einsatzführungskommando eingerichtet werden sollte. Was ja auch bzgl. kurzer Aktenwegen, Nachfragen u.ä. durchaus Sinn gemacht hätte. Wie um alles in der Welt kam man denn nun auf Kempten im Allgäu (nichts gegen die dort ggf. tief in die Materie nun eingestiegenen Staatsanwälte und ihre aufgebaute Kompetenz)???
Das hört sich doch alles nach sinnvoller Struktur und business as usual an. Etwas gewundert hat mich die doch eher geringe Zahl an Vorkommnissen, mit denen sich diese Schwerpunktstaatsanwaltschaft beschäftigen musste. Aus dem Bauch heraus hätte ich mit mehr Fällen und auch mit qualitativ schlimmeren Sachen gerechnet.
Man scheint Ordnung und Disziplin bei Auslandseinsätzen also im Großen und Ganzen im Griff zu haben.
@Fux
Im Vorgriff auf eine einheitliche bundesweitere Regelung hat der Freistaat Bayen zum 01.03.2010 die Staatsanwaltschaft Kempten als Schwerpunktstattsanwaltschaft für alle Fälle festgelegt, die Sodlaten betreffen, die aus Bayern stammen,
Dieses Vorpreschen hat ein wenig die Richtung gelegt und Vorexpertise geschaffen. Das wurde dann im Koalistionsvertrag übernommen.
Sinn und Zwecke wird in diesem NDR-Talk „Streitkräfte und Strategien“ beleuchtet (habe nur noch diese Abschrift gefunden: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Bundeswehr1/justiz.html
Grundsätzlich ist diese Talk-Reihe alle 14 Tage sehr häufig echt interessant.
http://www.ndr.de/info/podcast2998_page-1.html
@Flieger
Danke für die Erklärung.
Da ich die Anfrage noch nicht gesehen habe stelle ich die Stellungnahmen des Bayerisches StMin der Justiz mal im Original ein.
http://www.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Stellungnahmen/AwBayerischesStMinJustiz20161031.pdf
@Fux
Ein „Gerücht“ aus dieser Zeit:
das Land Brandenburg war wohl zunächst nicht bereit, für eine Bundesbehörde finanzielle und personelle Ressourcen frei zu machen.
Bayern hat die Chance erkannt und sich somit vlt einen StO gesichert…
Zum Thema Kempten:
Ganz zu Anfang lag die Zuständigkeit in Koblenz wg. Nähe zum EinsFüKdo. Folgerichtig sollte dann später auch die Zuständigkeit nach Potsdam umziehen.
Da aber die SFJg/StDst (Schule für Feldjäger und Stabsdienst) damals noch in Sonthofen war, und das eigentlich „die“ Truppenschule mit dem höchsten Anteil an Rechtsthemen war, lag es nahe, die für diesen StO zuständige StA auszuwählen.
Just als man dafür die Weichen gestellt hatte, wurde der Umzug der Schule nach Hannover entschieden…
Fuer acht (2015) bzw 6 (2016) Ermittlungsverfahren eine wahrlich angemessene Truppe, wenn man dazu den Tross an Gehilfen der Staatsanwaelte betrachtet…(tongue in cheek)
Gramm | 21. November 2016 – 11:22
„während Fehler bei Verfahren in Deutschland „nicht so schlimm“ sind. Die Vermutung liegt nahe, dass dies der höheren Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit bei Auslandseinsätzen geschuldet ist.“
Kurzfassung hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rgericht#Bundesrepublik_Deutschland
und wegen des Rechts auf einen gesetzlichen Richter
https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetzlicher_Richter
können Sie den Gerichtsstand nicht einfach verschieben, ohne größere Fässer zu öffnen. Bei der „enormen“ Zahl der Fälle (die Bw ist halt diszipliniert) lohnt sich das auch nicht, kommen noch die „Verhinderung eines Staats im Staate“ und sonstige theoretische Fragen dazu.
Der Fehler im Verfahren wäre die willkürliche Verlegung des Gerichtsstands.
Es ist also definitiv keine „inkompetente Behandlung“ von Soldaten das Ziel, und auch keine Mauschelei durch Streuung der Zuständigkeit quer durchs Bundesgebiet.
Also soll das heißen das man bei Straftaten im Ausland genauer ermittelt um die Soldaten härter bestrafen zu können? Oder gibt’s da andere Erkenntnisse?
Ehe hier merkwürdige Vermutungen und Spekulationen auftauchen, vielleicht mal nachlesen, warum diese Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet wurde. Bevor es sie gab, war hier alles voller Klagen, dass wegen der für den Wohnort zuständigen Staatsanwaltschaft Leute mit den Verfahren befasst waren, die von der Materie keine Ahnung hätten. Dann wurde das geändert, und jetzt wird vermutet, das diene dazu, Soldaten härter zu bestrafen…
Also: mal lesen. Soll bilden.
Dass das so ist, wie es ist, ist gut.
@sensemann, (Man scheint Ordnung und Disziplin bei Auslandseinsätzen also im Großen und Ganzen im Griff zu haben.) zum Glück kann keiner den Teppich hochheben und druntergucken. Da würds bleed schaugn