Ukraine: Jung&Naiv-Interview mit dem Russland-Experten Alexander Rahr
Ein bisschen Hintergrund zum Thema Ukraine schadet nicht… Tilo Jung hat für Jung&Naiv den Russland-Experten Alexander Rahr interviewt. Lang aber sehenswert.
(Direktlink: http://youtu.be/RQuJxq8N1Dc)
Ein paar interessante Aussagen Rahrs:
Jung: Sollte die NATO Russland aufnehmen?
Rahr: Ja. Das wäre ein Weg, in Europa endlich einen gemeinsamen Sicherheitsraum zu schaffen, neben eine gemeinsamen Wirtschaftsraum. Ein gemeinsamer Werteraum wird schwierig. Aber im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur, denke ich, könnten wir in der Tat uns gemeinsam gegen potenzielle Feinde verteidigen. Ich will nicht sagen, dass es sie schon gibt, aber den 11. September haben wir alle in Erinnerung. Es geht um Extremismus, nicht nur aus dem Islam. Es geht um den globalen Dschihad nur als Beispiel. Es gibt auch andere Herausforderungen, gegen die wir uns stemmen müssen: gegen Rohstoffkrisen, gegen Energiekrisen. Man muss die Migration in der Welt ordnen. Wir sind heute sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten. In 50 Jahren werden wir neun Milliarden sein. Neun Milliarden wo sollen die denn alle leben? Doch nicht in Afrika oder in Südamerika.. Es wird eine Völkerwanderung geben, eine schleichende. (…)
Die Ukraine heute in die EU aufzunehmen wäre völlig unmöglich. Das Land ist nicht reformiert, zu groß, und ich weiß nicht, ob die EU die Ukraine auch wirklich aufnehmen will. Aber eine Assoziierung bedeutete, dass praktisch die Ukraine schon fast nach den Gesetzen der EU leben musste. Jetzt kommt Russland ins Spiel. Die Russen haben gesagt: „Wir akzeptieren halbwegs, dass ihr da Richtung Europa marschiert, Richtung Europäische Union, aber ihr müsst natürlich darauf schauen, dass ihr genauso Richtung Russland orientiert bleibt.“ Weil Russland natürlich mit dem Osten der Ukraine, wo die Schwerindustrie und die alten Werkstätten aus der Sowjetunion den russischen Markt beliefern, und nicht deneuropäischen Markt. (…)
Noch einmal, wie ich die russische Position verstehe ist es so, , dass die Russen nichts gegen sehr gute wirtschaftliche Beziehungen zwischen EU und Ukraine haben. Das wollen sie doch selbst auch. Aber sie wollen nicht, dass die Ukraine Teil der NATO wird. Wie mir immer wieder Russen sagen: Es kann nicht sein, dass irgendwann mal durch die Assoziierung oder durch zu große Nähe mit derEuropäischen Union die Ukraine stillschweigend in die NATO schlüpft. Und dann stehen amerikanische Raketen in Charkow. Das sind 500 Kilometer bis Moskau. Das ist jetzt die Sprache der Militärs, die ich hier nicht verwenden möchte, aber nur zum Illustrieren dessen, was ich sagen will. Eine Atomrakete bräuchte dann nur eine Minute, um Moskau zu treffen nach heutigem technischen Stand. In dieser einen Minute kann sie nicht abgeschossen werden. Moskau wäre wehrlos.
Das ist die Sprache der Militärs. Ich sage nicht, dass eine NATOMitgliedschaft der Ukraine einen Krieg mit Russland provozieren würde, aber die russischen Militärs… (…)
Die Russen machen jetzt Ernst und wollen eine Eurasische Union gründen, eine Ost-EU, die nicht gegen die EU gerichtet sein wird, aber einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Kasachstan und Weissrussland als Ziel hat. So, und plötzlich sind diese zwei Blöcke aufeinander geprallt. Die EU hat den Fehler gemacht, das nicht zu sehen. Die Russen haben den Fehler gemacht, zu glauben, dass die Europäische Union zu schwach ist, was die Ukraine angeht. Das war ein Riesenfehler. Der hat dazu geführt, dass ein geopolitischer Kampf um die Ukraine stattfindet. Der Westen sagt: „Wir wollen auf keinen Fall, dass die Ukraine nach Russland geht.“ Und die Russen sagen: „Wir wollen auf keinen Fall, dass die Ukraine nach Westen geht.“ Da muss irgendwie ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, dass die Ukraine sich nach beiden Seiten orientieren kann und soll. Sie hat ja keine andere Wahl sie muss sich nach beiden
Seiten orientieren. Sonst sehe ich für die Zukunft dieses Landes nur schwarz. Es muss keine Entweder-Oder-Lösung, es muss beides sein. Dazu kommt: Die Revolution hat sich aufgeschaukelt, weil der Janukowitsch einfach zwischen alle Räder geriet. Die Russen glaubten ihm nicht, weil er immer wieder sagte: „Ich laufe vielleicht doch zurück nach Brüssel und unterschreibe.“ Die Europäische Union glaubte ihm nicht, weil man trotzdem immer sah, dass er bei Putin auf dem Schoß saß. Und die Europäer und die Russen fanden nicht zueinander. Die deutsche Politik hat das ja versucht, den Europäern auch zu sagen: „Lasst uns mit Russland reden.“ Aber es gibt sehr viele Staaten in der Europäischen Union, die sagen: „Wir reden mit den Russen nicht über die Ukraine. Die Ukraine ist Teil Europas, die kommt schneller rein als Russland. Russland soll Asien bleiben, wenn es nicht will.“
In dem Auszug steht viel Zutreffendes, was Positionen, Politik und Potenziale angeht. Russland jedoch in die NATO aufzunehmen, scheint mir recht abwegig. (Und der Nordatlantikrat würde es sicher verhindern – dazu reicht ja eine Stimme nur eines kleinen Mitgliedslandes.) Die Konsensfindung in der NATO ist ja an sich schon nicht immer leicht. Sich nun einen weiteren Staat in die Runde zu holen, der die blockierende Hand heben könnte, daran besteht sicher kein Interesse auf Seiten der NATO. Soll heißen: ihrer Mitgliedsstaaten – siehe Syrien und UN-Sicherheitsrat. Ein (sic) Beitritt zur NATO wäre für Russland insofern ausgeschlossen, als es sich nicht dem „Gegner aus alten Tagen“ würde anschließen wollen, weil darin eine Unterordnung gesehen werden könnte. Wenn überhaupt etwas in der Richtung, dann die Formung eines neuen Bündnisses „from scratch“ oder massive Umgestaltung der OSZE. Dafür jedoch möge man einmal die nötigen Partner finden …
Die Stunde Video hat sich rentiert !
Herr Rahr hat viel Hintergrundwissen zu dem Gesamtkonflikt und den russischen Befindlichkeiten erläutert. Dies ist insbesonders sehr hilfreich um die Kommentare in dem Beitrag „Ukraine-02.03.2014“ zu einzuordnen und zu bewerten. Danke
Ich habe noch ein paar Rahr-Zitate für die Nichtgucker:
„Die drei Institutionen: Zar, Kirche, Armee, spielen in der Mentalität der Russen eine größere Rolle als Parlament, als Opposition, als Zivilgesellschaft, als Partei. Wobei die Russen eine Zivilgesellschaft haben – die nennen sie bloß anders. Eine Bürgergesellschaft. Die entwickelt sich nur anders.“
„Ob das [Anti-Homosexuellen-]Gesetz jetzt hundertprozentig durchgesetzt wird, und welche Strafen darauf stehen, das ist eine ganz andere Sache. In Russland werden die Gesetze auch nicht befolgt. Aber dieses Gesetz war damals geschaffen, um einem gewissen ultraliberalen Weltbild aus dem Westen einen Riegel vorzuschieben, um zu sagen: „Wir sind das andere Europa. Wir sind nicht so weit. Wir wollen das traditionell haben. Für uns sind eure Werte Utopie, absolute Utopie. Die lehnen wir nicht vollkommen ab, aber wir gehen einen anderen Weg.““
„Pipelines zwischen Ost und West schaffen Verbindungen, das hält zusammen und man ist voneinander abhängig – aber in einem positiven Sinne. Im Grunde genommen – jetzt rede ich wie ein Politologe oder Historiker- wünsche ich mir, dass Sibirien langfristig Europa ist und europäisch bleibt. Sibirien gehört zu Europa, genauso wie der ferne Osten mit seinen Rohstoffen. Und irgendwann mal – hoffentlich – werden auch Europäer sich in Sibirien ansiedeln, wie früher Westeuropäer nach Amerika gegangen sind.“
„Stell dir vor, morgen fänden wir heraus, dass wir nicht alleine in diesem Kosmos sind und irgend ein Alien wird beweiskräftig fotografiert, der um uns kreist. Wir wissen nicht, was er vorhat.
J&N: Dann halten wir alle zusammen. Dann sind wir eine Welt.
Ja, ich will nicht sagen, dass wir jetzt auf die Aliens warten müssen, damit wir zusammen halten. Aber ich will nur das Bild skizzieren, wie wichtig es ist, dass man erkennt, dass man manchmal auch eine Herausforderung hat, vor der wir alle zusammenstehen, auch zusammenstehen können.“
„Russland stellte natürlich Forderungen: „Keine Assoziierung mit der Europäischen Union!“ Noch einmal, wie ich die russische Position verstehe ist es so, , dass die Russen nichts gegen sehr gute wirtschaftliche Beziehungen zwischen EU und Ukraine haben. Das wollen sie doch selbst auch. Aber sie wollen nicht, dass die Ukraine Teil der NATO wird. Wie mir immer wieder Russen sagen: Es kann nicht sein, dass irgendwann mal durch die Assoziierung oder durch zu große Nähe mit derEuropäischen Union die Ukraine stillschweigend in die NATO schlüpft. Und dann stehen amerikanische Raketen in Charkow. Das sind 500 Kilometer bis Moskau. Das ist jetzt die Sprache der Militärs, die ich hier nicht verwenden möchte, aber nur zum Illustrieren dessen, was ich sagen will. Eine Atomrakete bräuchte dann nur eine Minute, um Moskau zu treffen nach heutigem technischen Stand. In dieser einen Minute kann sie nicht abgeschossen werden. Moskau wäre wehrlos.Das ist die Sprache der Militärs.“
„Manche glauben, wenn die Ukraine zerfällt, dann nicht in zwei, sondern vielleicht in vier oder fünf Teile. Die Krim als eigenständiger Staat, die ganz östlichen Regionen dann als sehr Russland-naher Staat, die westlichen Regionen als anti-russischer Staat gingen sofort in die NATO. Und Kiew – wohin gehört Kiew? Das ist eine Frage, die völlig unklar bleibt. Es gibt drei Optionen. Die erste Option ist, dass alles beim Alten bleibt und die Regierung sich jetzt wirklich dran macht, in der Ukraine Reformen durchzuführen, mit Hilfe des Westens, aber auch mit sehr guten Beziehungen zu Russland und keine Fehler der Orangenen Revolution vollführt. Die zweite Option ist, dass die Ukraine in ein Jugoslawien-Szenario hineinschlittert. Dann haben wir vielleicht bürgerkriegsähnliche Unruhen. Die Krim spaltet sich ab. Dann wäre der Worst Case da. Dann wird ein Teil des Landes auf Russland hoffen und der andere Teil auf Hilfe der NATO und der Europäischen Union. Wie es in Jugoslawien passiert ist. Das ist der schlimmste Fall, den man sich vorstellen kann, aber so ganz utopisch war der in den letzten Tagen auch nicht, obwohl die Lage sich eher ein bisschen stabilisiert hat. Und das dritte Szenario ist ein friedliches Auseinandergehen zwischen Ost- und West-Ukraine, wohlorganisiert, nachdem Referenden durchgeführt worden sind im Osten und Westen des Landes- wie nach dem Szenarium des Zerfalls der Tschechoslowakei vor zwanzig Jahren.“
„Tymoshenko hat eine große Chance jetzt Präsidentin zu werden, aber der Westen wird sie nicht mögen. Er wird sie nicht mögen, weil sie eine frühere Oligarchin und damit Teil des Problems ist, weshalb in der Ukraine keine Reformen vorankamen. Wenn man jetzt machtpolitisch denkt, ist Frau Timoschenko eine Politikerin aus dem Osten und nicht aus dem Westen des Landes. Das heißt, sie wird mit der russischsprachigen Bevölkerung eine gemeinsame Sprache finden, vielleicht auch Vertrauen aufbauen. Sie kommt aus Dnjepropetrowsk, einer typischen Industriehochburg im Osten des Landes. Sie wird auch mit Putin eine gute Beziehung aufbauen können. Die beiden hatten eine blendende Beziehung, als sie diesen Gas-Deal ausgearbeitet haben.“
„Wir haben es weltweit mit einer globalen Revolution der bürgerlichen Klasse zu tun, der Mittelklasse. Ob in Ägypten, oder in Syrien, wo es falsch läuft, in Tunesien, vielleicht auch irgendwann einmal in Europa, wenn die sozialen Unterschiede größer werden, aber tatsächlich auch im post-sowjetischenRaum, und in Asien, wie wir in Thailand sehen. Die Menschen haben keine Angst mehr vor dem Staat. Sie können die modernen Instrumente vonTwitter, und von Google, alles Mögliche sehr gut nutzen, um sich sehr sehr schnell zu versammeln, um Losungen von sich zu geben, und auch die Machtfrage zu stellen. Das ist ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, und die Herrscher können damit nicht umgehen. Ich glaube auch nicht, dass europäische Herrscher damit umgehen können, oder europäische Politiker, wenn es dann ernst wird. Aber das ist das Phänomen unserer Zeit. Niemand kann solche Bewegungen bändigen. Man gegen sie gewaltsam vorgehen. Man kann sie einbinden, aber sie sind da.“
„Ich glaube, dass Russland vielleicht in der Zeit ist, wie wir damals in den 60er Jahren, zwanzig Jahre nach der Stunde null – für Deutschland ’45, für Russland 1991. Genau da muss man Russland auch sehen – in den 60er Jahren, wo auch in Deutschland über Notstandsgesetze gesprochen wurde, wo Studenten niedergeprügelt wurden von der Polizei. Wir sind dabei. In zehn Jahren kommen in Russland die 70er Jahre, und das wird dann unter einem anderen Präsidenten sein, nicht mehr Putin.“
‚Die Russen haben dern Fehler gemacht zu galauben dass die EU zu schwach ist…‘
Und sie haben Recht, die EU ist zu schwach, ua weil ueber 60% der Mitglieder ganz andere Sorgen und Notwendigkeiten haben als die Ukraine!
Nur die direkten – oder fast- Anrainer, Polen, Baltikum und DL sind ‚betroffen‘. Fuer IT,E, IR N usw koennte die Ukraine auf dem Mond liegen. – Im Gegenteil, alle EU-Gelder die in die Ukraine floessen, gingen I,P,E,F, KR usw ab!
Das wahr wirklich das beste Interview zu dem Thema, das ich bisher gesehen habe!
Das Beste ist diese wunderbar unaufgeregte Gesprächsatmosphäre, die Tilo auch dieses mal wieder etabliert, die mit seinen Gesprächspartner aus dieses Mal wieder ermöglicht hat ganz frei aus der Schule zu plaudern und dabei eine glaubhaft persönliche Einschätzung herauszulassen.
Dass Russlands Beitritt zur Nato, Verbrüderung bei Alieninvasion, die REgierung Russlands durch Angela Katarina und eine deutsche Putinkratie utopische Gedankenspielereien sind, ist klar. Aber beim Ausschmücken dieser Visionen kommen so viel mehr an Zwischentönen und tiefliegenderen Einschätzungen rüber, die bei der seriösen Selbstbeschränkung üblicher Politinterviews völlig auf der Strecke bleiben.
Aber auch auf der Faktenseite tut es wirklich gut, die Entwicklung in die jetzige Krise mal von einem echten Kenner der Lage umfassend erzählt zu bekommen.
So Nebensätze wie „ich weiß nicht was KLitschko will – aber ein Politiker muss doch dem Volk erklären können, was er vorhat“ oder „man muss der Ukraine ermöglichen, sich nach Westen und Osten gleichzeitig auszurichten“ machen mich sehr nachdenklich.
Ich kann dieses Interview nur weiterempfehlen.
Nochmals Danke Tilo!
Ich finde Rahr nicht schlecht, uns auch Jung nicht, und trotzdem tradiert das Interview das westliche Schema:
Der Russe auf der Anklagebank, der sich rechtfertigen muss. Warum so defensiv`, Towarischtch Rahr? Angesichts der Entwicklung in Südeuropa gibt es doch wesentlich offensivere Antworten zu der Frage warum Russland nicht der EU beitreten will, und zur sogenannten Wertegemeinschaft EU, die die Griechen grade auf den Müllbergen Athens suchen.
Die Postmoderne will den Eindruck erwecken, als wären die materiellen Fragestellungen (auch der Geopolitik!) schon gelöst. Es ist die Lebenslüge der EU.
Danke!
Ein sehr unaufgeregtes und gutes Interview. Trotzdem hätte ich mir etwas mehr zur russischen Invasion der Krim gewünscht – wird es da einen Nachschlag geben?
Und weil es nicht wirklich in die tagesaktuellen Ukraine-Posts posts paßt, hier mal der Verweis die Ten things you should know about Crimea von Andrew Wilson vom European Council on Foreign Relations.