‚Unser Land ist keine Insel‘ – Bundespräsident plädiert für mehr internationales Engagement Deutschlands

Bei der zentralen Feier zum Tag der deutschen Einheit am heutigen 3. Oktober in Stuttgart hat Bundespräsident Joachim Gauck sich (auch) zur deutschen Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik geäußert. Das dürfte noch interessante Debatten geben; hier zur Dokumentation aus der veröffentlichten Rede die Passage dazu:

Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten eine starke Rolle Deutschlands, andere wünschen sie. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung geht nicht länger, an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen.

Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: „Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.“ Deutschland hatte Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen.

Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen?

Es gibt natürlich Gründe, dieser Auffassung zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren.

Trotzdem mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste finden sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, stärker für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik einzutreten. Er sieht Deutschland durchaus in einer Vorbildrolle.

Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zum verlässlichen Partner wurden. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische und militärische Ordnung gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen – das ist unser wichtigstes Interesse.

Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten und am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenmächte als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen?

Und wenn wir einen ständigen Platz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen?

Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.

Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Ich mag mir aber genau so wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei den Nachbarn auf Misstrauen stoßen.

Nachtrag: Ob der Gouverneur der nordafghanischen Provinz Balkh, Mohammed Atta Noor, Gaucks Rede gelesen hat? Bei der Feier zum Tag der deutschen Einheit im deutschen Konsulat in Masar-i-Scharif sagte der Gouverneur laut TOLO News:

You should not forget Afghanistan, do not repeat the mistakes of 90s. Stay by the Afghans and accompany them. Help Afghanistan to stand up on its own feet. You along with your allies should cooperate with the Afghans during and after 2014.

Bei der Feier in MeS sprach übrigens auch ein Yorg Fulmar. Der ist wohl Kommandeur dort…

(Archivbild: Der Bundespräsident beim Besuch der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg am 12. Juni 2012 – Bundeswehr/Tefke via Flickr unter CC-BY-ND-Lizenz)