Afghanistan: „Perhaps it’s time to leave“
Ein Lesetipp an diesem Wochenende (an dem zum Einen nicht wirklich was los ist, zu Glück; und an dem ich andererseits auch mit ganz anderen Dingen beschäftigt bin, deshalb die Ruhe auch hier): In der US-Ausgabe von Time schildert ein Marine seine Sicht auf den Afghanistan-Krieg. Und endet mit dem bedrückenden Fazit:
I think our country’s leadership would be well served to remember the Dalai Lama’s insistence that “in dealing with those who are undergoing great suffering, if you feel `burnout’ setting in, if you feel demoralized and exhausted, it is best, for the sake of everyone, to withdraw and restore yourself; the point is to have a long-term perspective.”
I’d say we’re demoralized and exhausted. When it comes to Afghanistan, perhaps it’s time to leave.
Sein Nachdenk-Stück: Why It’s Time to Leave
die nicht gerade üppige Reaktion der Aga-Blogger auf diesen thread zeigt, dass nicht nur die US Streitkräfte erschöpft sind….mental und systemisch.
@ klabautermann
Stimmt. Hoffentlich führt aber die mentale Erschöpfung nicht dazu, alles zu verdrängen, was falsch gemacht wurde. Nach dem Motto: Nichts wie raus, und dann möglichst schnell vergessen.
Afghanistan ist ein Paradebeispiel für die Erkenntnis, dass es ohne wirkliche „Vernetzung“ in einer vernetzten Sicherheitspolitik nicht geht. Die erlebten Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis in dieser Hinsicht müssen wir dringend verarbeiten – im Sinne einer Investition für die Zukunft.
@KeLaBe
Diese Verarbeitung muss zwar stattfinden – und hier habe ich bereits meine Zweifel, ob das in Deutschland auch nur ansatzweise der Fall sein wird. Aber auch klar sein muss, ein Einsatz wie der in Afghanistan oder zuvor im Irak mit dem Ziel des Nationbuilding bei gleichzeitiger Aufstandsbekämpfung wird es vermutlich nicht mehr geben.
Die Frage muss erlaubt sein, ob der Misserfolg des AFG-Einsatzes wirklich durch die unzureichende Vernetzung, der falschen Umsetzung des „Comprehensive Approach“, des mangelnden politischen Willens verursacht wurde, oder ob das Vorhaben selbst bei optimalen Bedingungen nicht zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.
Nicht nur aufgrund der gegenwärtigen Finanzkrise halte ich ein ähnliches Unterfangen in der absehbaren Zukunft (Syrien, Iran, vielleicht bald wieder Nordakfrika u.ä. böten ja genügend Motive für ein Eingreifen westlicher Nationen) für unwahrscheinlich, zumindest nicht in diesem Maßstab. Da aber selbst dieses massive Engagement der letzten Jahre Im Irak und Afghanistan, inzwischen kann man sogar den Balkan hinzuziehen, nicht langfristig zum Erfolg geführt hat, müsste man sich nun Gedanken dazu machen, wie man mit solchen Konflikten in Zukunft generell umgeht.
In der Bundeswehr ist das nach meiner Beobachtung überhaupt nicht passiert, die Neuorientierung bildet lediglich die eine oder andere AFG-Erfahrung ab. So ist z.B. das Heer vor allem für Stabiliserungsoperationen ausgerichtet, mit etwas mehr Infanterie als bisher. Ist das die Zukunft? Die Marine scheint sich ebenfalls (mit den neuen Korvetten und der F-125) eher auf Stabilsierungsoperationen mit niedriger Intensität auszurichten, gemäß vergangener, vergleichsweise bequemer, Erfahrungen im Mittelmeer und nun im „Wirken“ gegen Piraten.
Die NATO befindet sich in einer seit vielen Jahren andauernden Sinnkrise. Sie (eigentlich nicht „sie“, sondern ihre 28 Mitgliedsstaaten, von denen einige mehr, andere weniger Gewicht haben) hat vor einigen Jahren versucht, sich breit aufzustellen und den vernetzten Ansatz abzudecken, und steht mit AFG nun vor den Trümmern dieses Experiments. Nun besinnt sich die NATO mehr auf die Kernkompetenz der Verteidigung und verlässt aber diesen Pfad der Tugend wieder, in dem sie versucht, die Mitglieder beim Ausbau und der Verbesserung militärischer Fähigkeiten zu unterstützen. Aufgrund der dafür ungeeigneten Struktur und des Übergewichts der USA verläuft das eher unglücklich.
Die EU hat spätestens mit dem Libyeneinsatz bemerkt, dass es eigentlich überhaupt keine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt, abgesehen vom ebenfalls ambitionierten Versuch des Ausbaus und der Verbesserung militärischer Fähigkeiten in 26 der 27 Mitgliedsstaaten, und einiger weniger anderer Aktivitäten. Die Sicherheitsvorsorge hat aber in Zeiten eines Europas, welches aufgrund der Schuldenkrise auseinanderzufallen droht, gar keine Priorität, nicht mal eine vernünftige Lobby.
Und in Wahrheit sprechen wir bezüglich militärischer Fähigkeiten in Europa nicht über den Auf-/Ausbau oder die Verbesserung, sondern eher über die – bereits sehr aufwändige – Aufrechterhaltung der bescheidenen Fähigkeiten, die wir jetzt haben.
Das alles verdichtet sich zu den Fragen: Was wollen wir in Zukunft erreichen? Warum Auslandseinsätze? Warum also in Zukunft wieder Soldaten in so ein Land wie AFG schicken, mit welcher Begründung und welchen Erfolgsaussichten? Und falls diese Vorhanden sind, haben die Truppensteller noch die Unterstützung der eigenen Bevölkerung (vorausgesetzt, wir leben auch in Zukunft in Demokratien mit parlamenstarmeen)? Und haben sie dann noch die Kraft und die Luft im Sinne der militärischen Fähigkeiten und der finanziellen Ressourcen, um so etwas in Zukunft überhaupt stemmen zu können, wenn sie es denn wollten? Und sollte die Antwort eher negativ bantwortet werden müssen, wozu dann (verlegbare) Streitkräfte?
Und andersherum: Wer stellt unseren Zugang zu (zur Neige gehenden) Rohstoffen und zum Welthandel sicher, wer schützt unsere Grenzen, wie gehe ich mit Mangel an Trinkwasser und anderen Grundbedürfnissen in unserer Nähe um, mit religiösem Eifer, regionalen und kulturellen Minderwertigkeitskomplexen, Terror, Atommächten und Migration aus unterschiedlichen Motiven? Die Veränderung von Kriegen insgesamt (zunehmende Asymmetrie, zunehmendeUrbanisierung etc.) ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Das sind strategische Grundfragen, mit denen sich außer einigen wenigen Einzelkämpfern in Deutschland, darunter mit Sicherheit einige Leser dieses Blogs, keine Sau beschäftigt, und weshalb (1) solche strategischen Erwägungen kaum Einfluss auf die letzte Bundeswehr-Reform hatten (und die nächste, bestimmt stärker finanzpolitisch motivierte Reform werden wir bald erleben) – die VPR sind ja auch im quasi luftleerem Raum entstanden – und (2) auf der europäischen wie auch der transatlantischen Ebene zu wenig passiert, da EU (gerade im Bereich GASP und GSVP) und NATO ja auf die Inputs der Mitgliedsstaaten angewiesen sind, um etwas zu bewegen. Genau das hat zum Beispiel Deutschland überhaupt nicht verstanden und wartet ab, wie andere Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Zukunft gestalten, anschließende Verwunderung eingeschlossen.
Das also zum Thema „Investition in die Zukunft“.
Ben
Sie haben mit diesem prägnanten Beitrag den Nagel auf den Kopf getroffen!
Einen politischen oder gar öffentlichen Diskurs zu diesen Kernfragen der Sicherheitspolitik werden wir in dieser Bundesrepublik aber wohl nicht mehr erleben.
Bis es dann irgendwann zu spät ist und das Prinzip „Lernen durch Schmerz“ neu entdeckt wird.
Die immer stärkere Spezialisierung auf asymmetrische Konflikte und Stabilisierungsaufgaben – d.h. die Ausrichtung allein an den Aufgaben der jüngeren Vergangenheit – kann schnell dazu führen, dass die Fähigkeiten zum „Grundgeschäft“, nämlich dem konventionellen Konflikt immer stärker erodieren. Die Fähigkeiten hierzu werden ja bereits jetzt in Ausrüstung und Ausbildunga abgeschmolzen und teilweise ganz aufgegeben.
Wenn die Bundeswehr sich für die Zukunft zu einseitig an den Afghanistanerfahrungen ausrichten sollte, müsste sie wesentliche Grundbefähigungen noch weiter reduzieren. Dies wäre eine tragische Fehlentwicklung.
Die Georgier durften mit ihrer Bonsai Armee, die von US Ausbildern mit US Spielzeug (Drohnen etc.) für den Irak Einsatz primär zur asymmetrischen Kriegsführung ausgerichtet wurde, gerade schmerzhaft erfahren, dass das Hightech Spielzeug allein nicht gegen einen konventionellen Feind ausreicht, wenn dieser numerisch überlegen und „ganz old-school“ zum konventionellen Krieg bereit ist.
Was machen wir eigentlich wenn es auf dem Baltikum, oder and der Rumänischen Grenze oder in der Ukraine oder in Weißrussland knallt? …
(Wir ringen die Hände und unterzeichnen das Münchner Abkommen II )
@ Ben
Sehr schön auf den Punkt gebracht! Zeit für einen „Comprehensive Approach“ für uns selber.
@ Ben
Auch ich denke, Ihre Analyse trifft den Kern. In den meisten Punkten sprechen Sie mir aus der Seele:
– Ja, bei der Gestaltung unseres verteidigungspolitischen Grundansatzes rennen wir stets den Anforderungen der Gegenwart hinterher und lassen dabei strategische Visionen vermissen.
– Ja, die NATO befindet sich in einer Sinnkrise, die auch durch das Neue Strategische Konzept nur mariginal verringert wurde.
– Ja, die EU gibt mit ihren GSVP ein klägliches Bild ab, wobei es offenbar noch keinem Steuerzahler so recht aufgefallen ist, wieviel Geld durch mangelnde Koordination verbrannt wird. (Ich frage mich oft, welches grandiose Gewicht ein stärker geeintes Europa in der Welt zur Geltung bringen könnte.)
– Ja, es fehlen in unserer deutschen und europäischen Sicherheitspolitik strategische Ansätze, die diesen Namen wirklich verdienen. Sicherheitspolitik muss mehr sein als Durchwursteln.
– Ja, auch die Verteidigungspolitischen Richtlinien des BMVg hängen in der Luft. Es fehlt der Überbau im Sinne Sicherheitspolitischer Richtlinien, der auch die anderen sicherheitspolitisch relevanten Akteure (und das sind nicht wenige, allein in der Bundesregierung) halbwegs verbindlich in die Pflicht nimmt und das Ganze harmonisiert.
Das alles lässt sich sehr wohl auch auf den Afghanistan-Einsatz beziehen. Von daher brauchen wir gerade dort eine nüchterne, selbstkritische Aufarbeitung.
Zwei Aspekte, die Sie aufgreifen, möchte ich vielleicht etwas anders formulieren:
– Erstens: Ich halte es für deutlich zu früh, von einem Misserfolg des AFG-Engagements zu sprechen. Für ein wirklich fundiertes Urteil müssen wir wohl noch mindestens ein Jahrzehnt warten. Wenn dann AFG sich wieder zu einer Bedrohung für die internationale Gemeinschaft entwickelt haben sollte (über Al Qaida etc.), dann war es in der Tat ein voller Reinfall. In allen anderen Fällen werden wir eher von teilweisen, wenn auch mehr oder weniger zweifelhaften Erfolgen sprechen dürfen. Ich will damit sagen: Das Kernziel (Schutz unserer Bürger vor global wirksamem Terrorismus) steht im Vordergrund der Bewertung aus sicherheitspolitischer Sicht. (Dass es inzwischen zahlreiche andere „Afghanistans“ mit engen Kontakten zu international organisierter Kriminalität und zu Terrorgruppen gibt, steht freilich auf einem anderen Blatt.)
– Zweitens: Ein AFG-Einsatz wird sich nicht 1 : 1 wiederholen. Das ist klar. Aber ein Blick auf die einschlägigen Krisengebiete zeigt: Die Zahl der Länder, die vom Staatszerfall bedroht sind, nimmt eher zu als ab. Die Finanzkrise beschleunigt diesen Prozess zusätzlich. Nicht überall wird die westliche Welt eingreifen (können). Aber das eine oder andere Mal vielleicht doch – wegen vitaler eigener Interessen (z.B. Energie- und Rohstoffversorgung), wegen historischer Verpflichtungen oder auch aus ethischen Gründen (Stichwort Responsibility to Protect). Ob Deutschland immer in einer Beobachterrolle Akzeptanz findet und sich einem Mitengagement, das von der Staatengemeinschaft eingefordert wird, entziehen kann, bezweifle ich.
Aber umso mehr – und damit wieder zurück zur Ausgangsthese – brauchen wir mehr als je zuvor eine strategische Grundausrichtung: Was dürfen wir? Was wollen wir? Was wollen wir können? Und welche Rolle kommt dabei der Bundeswehr im Sinne einer sicherheitspolitischen Vernetzung zu?
Ohne eine stringente Beantwortung dieser Fragen werden wir auch weiterhin den uns gestellten Herausforderungen vergeblich hinterherlaufen.
@ KeLaBe:
Im Großen und Ganzen auch meinerseits Zustimmung – mein Kommentar ist natürlich spitz formuliert. Der Gradmesser des Erfolgs ist im Idealfall das anfangs gesetzte Ziel. Hier waren in Bezug auf AFG die Politiker im Nachhinein betrachtet nicht so dumm, sich allzu festzulegen (im Umkehrschluss heißt es leider nicht, dass sie besonders schlau waren). Ein paar Verantwortliche gab es natürlich schon, die extrem optimistisch als End-state die demokratische Republik Afghanistan sahen. Auch in zehn Jahren wird es schwierig sein, den Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes objektiv zu bewerten, zumal Fragen wie „was wäre passiert, wenn wir nicht nach AFG gegangen wären“ nicht zu beantworten sein werden. Im besten Fall haben wir Lehren aus dem Einsatz gezogen, die wir für die Zukunft umsetzen (!) können, und die Sicherheitslage verschärft sich in diesem Land nicht allzusehr. Wahrscheinlicher ist aber das Gegenteil, und „post-Afghanistan“ markiert vielleicht den Punkt, wo der Westen (für einige Nationen „mal wieder“) die Grenzen militärischen Engagements aufgezeigt bekam. Natürlich hat sich aufgrund der Einsatzerfahrungen bei Ausrüstung, Ausbildung, bei der multinationalen Interoperabilität etwas getan. (Wenn man sich alleine die inkompatiblen Kommunikationsmittel ansieht, erstaunlich wenig!) Aber trotzdem geht das transatlantische Bündnis nicht gerade gestärkt in das angebrochene Jahrzehnt. Vielleicht wissen wir erst Jahrzehnte später, ob auch dieses Ereignis eine Zäsur darstellte oder nicht, in Anlehnung an einen lesenswerten Welt-Artikel von heute („Was wäre, wenn Amerika wie Europa werden würde?“).
In Bezug auf die strategische Grundausrichtung schlage ich vor, die Fragen um eine weitere zu ergänzen: Was können wir wollen? (Rahmenbedingungen, Einschränkungen) Deutschland will ja immer viel, ohne sich mit der entscheidenden Folgefrage „wozu“ zu befassen.
Ich bin diesbezüglich auch sehr pessimistisch und traue es Deutschland nicht zu, sich mit einer umfassenden Sicherheitsstrategie zu befassen. Schade, denn die Errungenschaften, die wir täglich genießen, sind leider nicht naturgegeben.
@ Ben und @KeLaBe
Zustimmung meinerseits. Als Ergänzung: ein Comprehensive Approach der operativ-taktisch angelegt ist und nicht strategisch ist eben keiner.
Diese grundsätzlich bejahte, resignierte Haltung zu den Erfahrungen aus dem AFG-Einsatz verwundert mich schon ein bisschen.
Misserfolg gemessen an welchem Ziel? Welches Ziel war denn definiert?
Mag sein, das der öffentliche Diskurs nicht so laut war, wie vielleicht von vielen gewünscht. Mag sein, dass eine bundesrepublikanische Sicherheitspolitik immer noch nicht präzise definiert ist.
Aber ich habe gesehen, was diese Streitkräfte aus diesem Einsatz gelernt haben. Mit dem Hintergrund von mehr als 25 Dienstjahren und zwei kompletten Kontingenten in AFG im Abstand von drei Jahren.
Was in den letzten fünf Jahren aus AFG für die eigenen Streitkräfte mitgenommen wurde, ist im Vergleich der Bewegungsfähigkeit des Systems aus meiner Berufserfahrung geradezu phänomenal. Kongo hin, Balkan her – in den Köpfen war bis zum Beginn der Gefechte in AFG 2008/2009 nach wie vor der kalte Krieg. Dominiert haben die panzerlastigen Generalstabsoffiziere, die die taktischen Lagen eben aus dieser Ausbildung verinnerlicht haben.
Die Bewertung vom Wert einzelner Truppengattungen hat sich komplett geändert, die Zusammenstellung eines Verbandes dadurch natürlich auch. Fähigkeiten insbesondere zur Aufklärung und Nachrichtengewinnung, zur medialen Präsenz im Einsatzland und zur Kommunikation mit der Bevölkerung haben einen großen Fortschritt gemacht. Das Bewusstsein, auf welchen Feldern ich als Truppenführer agieren muss, ist ein völlig anderes geworden. Und nicht zuletzt hat die Leitung begonnen, nicht alles was nicht mit Brunnenbohren und Oderhochwasser zu tun hat, tot zu schweigen.
In AFG sehe ich mit einem Abstand von drei Jahren eine Stadt wie Mazar e Sharif mit Strom, fließend Wasser und Grünpflanzen. Eine ANA, die eigene Operationen plant und ein eigenes Selbstverständnis hat und Krankenhäuser mit jungen, Englisch sprechenden Ärzten, die tatsächlich eine Uni abgeschlossen haben. Einzelne korrupte Provinzgouverneure sind ausgetauscht und ebensolche Militärführer.
Ich komme auch zu dem Schluss, dass wir da jetzt raus müssen. Aber aus einer völlig anderen Erwägung. Das Selbstbewusstsein der AFG Sicherheitsorgane und v.a. ihr Selbstverständnis hat einen Punkt erreicht, an dem wir mit unserem westlichen Horizont nicht mehr viel helfen können. Die Lösung liegt bei den Afghanen selbst. Nachschubverfahren oder Dokumentationsvorschriften der NATO jetzt noch den Afghanen aufzudrücken, ist nur noch skurril.
Misserfolg? Gemessen an was?
@ psyquil
Ihre Frage, woran der Erfolg oder Misserfolg zu messen ist, ist berechtigt. KeLaBe hatte die Frage der Bewertung Erfolg/Misserfolg bereits aufgeworfen; in meinem vorangegangenen Beitrag habe ich diese Frage bereits aus mei9ner Sicht zu beantworten versucht. Ihr Beitrag bringt neue Aspekte mit sich, die ich gerne aufgreife. Grundsätzlich bleibt aber die Feststellung, dass es (1) zu früh für eine abschließende Bewertung ist, und daher (2) derzeitige Einschätzungen meist subjektiv sind und (3) es sehr auf die jeweilige Perspektive ankommt.
Aus meiner Sicht ist eben genau diese fehlende Formulierung eines Ziels bereits der erste große Fehler dieses Engagements gewesen. Dies führte ja u.a. auch zu unterschiedlichen Auswertungen des Auftrags der Deutschen und einiger anderer Truppensteller. Mögliche Ziele waren:
(1) Druck der Alliierten und insbesondere der USA war so groß, dass man sich nicht entziehen konnte. – Sollte dieses das Ziel gewiesen sein, wurde das im Großen und Ganzen erreicht, auch wenn immer wieder z.T. berechtigte Kritik der Alliierten and den Deutschen laut wurde.
(2) Der Einsatz sollte dem Schutz unserer Bürger vor Terrorismus dienen – ob Deutschland vor dem Einsatz durch Terroristen aus Terrorcamps in AFG bedroht war, wage ich zu bezweifeln, andere Effekte wie Abschreckung, Schwächung Al-Qaida etc. dagegen – darauf lasse ich mich noch eher ein. Allerdings ist das naturgemäß schwierig zu bewerten, und langfristig ist es alles andere als ausgeschlossen, dass AFG wieder zu einem Safe Haven für Terroristen wird. Wobei es letztendlich egal ist, ob die aus AFG oder PAK kommen.
Altruistischer:
(3) Es sollte humanitäre Hilfe geleistet werden, die Soldaten sollten die Voraussetzungen dafür schaffen – das hat immerhin die damalige Regierung ihrem Volk so oder ähnlich verkauft, insofern ist das ja nicht völlig aus der Luft gegriffen. Natürlich ging und geht es einigen Menschen in AFG zeitweise besser. Aber die zarten Pflänzchen werden nicht überleben, wenn das Engagement von ISAF geringer wird – und das ist nun wirklich absehbar.
(4) AFG sollte von den Taliban befreit werden – Berichte zu Übergaben von alliierten Stützpunkten an ANA & Co stimmen mich nicht opimistisch, und einiges weist darauf hin, dass vielleicht fünf Jahre nach dem Abzug … ä, der geordneten Rückverlegung der ISAF-Truppen natürlich, die Situation genauso schlimm oder gar schlimmer wird als in den Neunziger Jahren.
(5) Es ging darum, den Menschen in AFG zu demokratischen Strukturen zu verhelfen. Haha, das brauche ich wohl nicht zu kommentieren.
Und jetzt kommen Sie, psyquil:
(6) Die Bundeswehr hat viel in diesem Einsatz gelernt – deswegen ist sie aber doch nicht von unserem Parlament in den Einsatz entsendet worden? Und es bleibt fraglich, wie nachhaltig auch diese Lehren innerhalb der Bundeswehr sein werden. Mit Verlaub, dies als Bewertungsgrundlage für den Erfolg oder Misserfolg heranzuziehen, halte ich für abwegig, die „lessons Identified / lessons learned“ sind allenfalls Nebeneffekte, und die Weiterentwicklung von Streitkräften, die durch so einen Prozess gehen, muss man erwarten können – auch dann, wenn diese Streitkräfte nie dazu gedacht waren, Kriege zu gewinnen. Und auch dann bin ich auch bei etwas kürzerer Dienstzeit eher überrascht, wie unerträglich lange es gedauert hat, bis das eine oder andere in AFG Erlebte und Erfahrene tatsächlich seinen Niederschlag in den Truppenalltag, die Ausbildung usw. gefunden hat.
Die Veränderungen, die Sie, psyquil, in Mazar-e-Sharif wahrgenommen haben, sind in den von mir vorgschlagenen möglichen Ziele n irgendwo zwischen (3) und (5) abgedeckt. Und hier greift, wovon ich persönlich nunmal überzeugt bin, nämlich, dass diese von uns unterstützten Strukturen – Militär, Polizei, Krankenhäuser, Uni, Provinzregierungen usw. – nicht nachhaltig überlebensfähig sind. Richtig ist, dass wir – oder besser vielleicht Historiker- dieses abschließend erst in einigen Jahren werden beurteilen können. Und typischerweise kommen auch diese oft nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen. So richtig in die Hose gehen kann der Einsatz noch bei der Rückverlegung – wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt. Aber hier sind Szenarien denkbar, die jeden anderen Erfolg in AFG deutlich trüben könnten.
Insgesamt dagegen halten muss man auch den betriebenen Aufwand für diesen Einsatz: Gefallene Soldaten, Kriegsversehrte, PTBS stehen für mich für eine Bewertung ganz weit oben, aber auch der finanzielle Aufwand (der sogar wirklich objektiv messbar ist).
Interessant ist für mich eine persönliche Beobachtung: Noch vor fünf, sechs Jahren waren viele (längst nicht alle) meiner Kameraden aller Dienstgradgruppen überzeugt davon, in AFG das Richtige zu tun, helfen zu können, „den Krieg gewinnen zu können“ würden Soldaten anderer Nationen formulieren. Auch waren damals viele überzeugt, (diffusen) deutschen Interessen zu dienen. Das hat sich – nach meinem Eindruck – stark gewandelt, der Optimismus für eine bessere Zukunft dieses Landes ist gewichen, und zwar nicht erst, seitdem die Soldaten wissen, dass dieses Abenteuer in absehbarer Zeit beendet werden wird.
Psyquil, vielleicht ist das Hauptproblem an Afghanistan eine Ihrer Schlussbemerkungen:
„Die Lösung liegt bei den Afghanen selbst.“
Hinzufügen möchte ich noch eine weitere Frage, die vielleicht ebenfalls etwas mehr Aufschluss darüber geben könnte, ob der Einsatz in Afghanistan als Erfolg bewertet werden oder nicht:
Wenn die „Verantwortlichen“, in Deutschland also Regierungsmitglieder, die die Entscheidung vorbereitet haben, Bundestagsabgeordnete, die für den Einsatz gestimmt haben – aber man könnte auch „Verantwortliche“ im weitesten Sinn anderer Nationen, der UNO, der NATO etc. hinzuziehen – zum Abstimmungszeitpunkt das heutige Lagebild zur Verfügung gehabt hätten, wie die Lage in AFG – und von mir aus auch in den eigenen Ländern – aussieht – hätten sie dann immer noch den Einsatz unterstützt oder nicht? Hypothetisch, nicht beantwortbar, aber vielleicht ist die Frage trotzdem hilfreich.
@ psyquil | 28. August 2012 – 19:07
Vielen Dank für Ihren schönen Beitrag. Diese ganze Diskussion in diesem Thread hat ein hoch interessantes Niveau.
Was war das Ziel in Afghanistan? War das Ziel, unser Land Bundesrepublik Deutschland sicherer zu machen? Dann war der Einsatz weitgehend erfolgreich. Denn von Afghanistan geht für uns kaum noch eine terroristische Gefahr aus. Wichtiger noch, als ein paar böse Buben jagen, ist vermutlich, dass unsere Armee gelernt hat, in den Konflikten des 21. Jahrhunderts zu kämpfen. Zudem besteht die Chance, dass aufgrund der einsatzbedingten Herausforderungen eine Offiziersgeneration heranwächst, die wieder denken kann und dies auch tut, weil sie weiß, dass jegliches Unterlassen – auch was das Austragen von Meinungsverschiedenheiten mit der politischen Führung angeht – im Zweifelsfall zu Leichensäcken und einem verlorenen Krieg führt.
War das Ziel, die afghanische Lunte für einen zentralasiatischen Großkonflikt auszutreten? Nun, die Erreichung dieses Zieles sehe ich ambivalent. Man hat mit Sicherheit ein weiteres Aufschaukeln von gefährlichen Prozessen seit Ende der 1990ger Jahre durchbrochen, die Lage ist nicht schlimmer geworden. Aber gelöst wurde dieses Konfliktpotenzial nicht. Afghanistan ist immer noch der „Balkan“ Zentralasiens. Aber unseren Balkankonflikt haben wir ja bisher auch nur betäubt und nicht gelöst.
War das Ziel, Afghanistan zu einer Musterdemokratie nach westlichem Vorbild zu machen? So, wie man das auf dem Petersberg formulierte und wie das primär deutsche Politiker und Thinktanks erträumten? Sollte Afghanistan das Musterbeispiel für Nationbuilding und die Umsetzung von Responsibility to Protect sein?
Nun, hier kann man wohl mit Fug und Recht sagen: Dieses Ziel ist vollkommen gescheitert. Die Afghanen wollten zahlreiche „westliche Segnungen“ nicht. Der Versuch, ihnen diese aufzuzwingen wirkte konfliktverschärfend und stiftete Unfrieden. Der westliche Ressourcenansatz für ein solches „umkrempeln“ einer Gesellschaft hat sich als viel zu gering und geradezu lächerlich für ein Wirken in der Fläche herausgestellt. Die Fähigkeit, die Afghanen dort abzuholen, wo sie stehen, um sie dorthin zu führen, wo man sie haben will, hat sich weitgehend als nicht vorhanden herausgestellt. Einige Leuchttürme funktionieren mehr oder weniger, das wars.
Was jetzt folgen müsste, wäre eine militärische, sicherheitspolitische und auch politische Evaluation der Erfahrungen aus dem Afghanistanabenteuer.
Militärisch: Was können unsere Truppen, was sollten sie können? Was kann effizienter gestaltet werden? Welche Fähigkeiten sind nutzlos bzw. ihr Geld nicht wert? Über welche Fähigkeiten sagen die Erfahrungen des nach Afghanistan geschickten Expeditionskorps gar nichts aus, weil sie beispielsweise für symmetrische Landesverteidigung vorgehalten werden müssen.
Sicherheitspolitisch: Was führt zu Frieden, wie können asymmetrische interkulturelle Konflikte befriedet werden. etc.
Politisch: Was ist die Position Deutschlands in der Welt? Was sind unsere Interessen? Wie wollen wir unsere Interessen vertreten? Was sind Interessen, für die es sich lohnt, zu kämpfen? Dürfen wir anderen Ländern und Völkern unsere Art und Weise des Denkens und Lebens mit Waffengewalt aufzwingen? Wo ist die Grenze zwischen legitimer Entwicklungshilfe und gewaltsamen neokolonialistischem „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“? Wann müssen wir ein uns gegenüber feindlich gesonnenes Land oder eine Ideologie niederringen, um das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen? Welche Bedeutung haben Bündnisse für unsere Sicherheit? Wie weit geht Bündnistreue? Was hat fehlende Bündnistreue für Folgen? Können wir zwischen Freund und Feind unterscheiden? Wie machen wir Feinde zu Freunden, ohne uns selbst zu verraten oder zu unterwerfen?
Nicht zuletzt müssen sich Politik und Parteien aufgrund der ex post betrachtet naiven und desaströsen Petersberg- Beschlüsse fragen, ob denn in der deutschen Sicherheitspolitik die richtigen Leute tätig sind. Was sind benötigte Qualifikationen und wie können diese gelernt/gelehrt werden? Wie wird man Mitglied im Verteidigungsausschuss und was sollte man dafür mitbringen? Wie werden entsprechende Mitarbeiter in politischen Stäben oder Thinktanks/Stiftungen rekrutiert? Wie organisiert man die Zusammenarbeit von Sicherheits- Außen- und Entwicklungspolitik? Wie erlangt man wieder Fähigkeiten zur Track II diplomacy? Wie muss man Leute ausbilden und langfristig heranziehen, die diesen Aufgaben gewachsen sein sollen?
Denn die Herausforderungen der Zukunft werden ganz bestimmt nicht kleiner!
@SunTzu
…alles gute und richtige Fragen und Anregungen.
However, vorrangig von historisch-akademischem Interesse und auch nur für Staaten, die einen „Grand Strategy“ Anspruch verfolgen.
Dazu zählt Deutschland sicherlich nicht ;-)
@ Ben
Ihrer Liste mit denkbaren Zielen eines deutschen militärischen AFG-Engagements ist wenig hinzuzufügen. Vielleicht nur so viel: Wie hilfreich wäre es gewesen, wenn sie von Anfang an aufgestellt und vor allem zum Gegenstand einer breiten Diskussion auch in der Öffentlichkeit gemacht worden wäre!
Natürlich ist sehr wohl die Akzeptanz und Bedeutung der einzelnen Ziele von subjektiven Bewertungen abhängig. Das muss man dann eben offen und transparent ausdiskutieren. Und ebenso scheint es mir legitim, im Laufe der Zeit und auch im Nachhinein die eine oder andere Nuance zu ändern. Niemand kann schließlich die Zukunft vorhersagen. Man muss auch klüger werden dürfen. Es handelt sich bei so schwierigen Operationen immer um Entscheidungen ins Ungewisse – das heißt aber nicht (so wie leider im Fall AFG geschehen), sich vom Verlauf der Geschichte treiben lassen zu müssen.
Einen zentralen Aspekt beurteile ich etwas anders als Sie. Er betrifft Ihren Punkt 2, der für mich im Zentrum des AFG-Einsatzes stand und steht: Die Frage nach einem Fortbestand der Terrorcamps und damit der internationalen Bedrohung. Ich halte aus sicherheitspolitischer Sicht die Tatsache für entscheidend, dass Al Qaida seine Basis im AFG weitgehend verloren hat. (Ich glaube sogar, ohne dies belegen zu können, dass Al Qaida auch über AFG hinaus ein Auslaufmodell ist. Irak, Libyen und vielleicht (?) auch Syrien untersützen diese These.)
Mancher wird jetzt argumentieren: Das war in AFG ja schon Ende 2001 der Fall. Dazu hätte es also des breiten militärischen Engagements der Deutschen nicht mehr bedurft. Und obendrein war das deutsche Interesse allein schon von daher unberührt, weil die Bedrohung aus AFG sich nicht ausdrücklich gegen unser eigenes Land gerichtet hat. Dagegen möchte ich zweierlei einwenden: Erstens musste die Vertreibung Al Qaida nachhaltig unterlegt werden. Es musste also ein Zustand geschaffen werden, der eine Rückkehr zum status quo ante unwahrscheinlich machte. Bei diesem Ziel ging es nicht mehr um „Gewinnen“ oder „Siegen“, sondern primär um eine Aufbauarbeit mit auch militärischen Mitteln. Das ist oft missverstanden und geringgeschätzt worden. Und zweitens müssen wir unsere deutschen Interessen in einen größeren Kontext einordnen (was unseren Interessen keineswegs widerspricht). Die Frage ist nicht nur, ob auch Deutschland durch Al Qaida bedroht war oder ist. Unsere Sicherheit ist vielmehr ohne solidarische Verflechtung mit der unserer Freunde, Verbündete und Partner nicht zu gewährleisten. Nach 9/11 wurde zum ersten Mal in der Geschichte der NATO der Bündnisfall ausgerufen. Hätten ausgerechnet wir Deutsche, die wir im Kalten Krieg Hauptnutznießer der Allianz waren, sagen sollen: Tut uns leid, wir sind nicht unmittelbar betroffen, daher bitte ohne uns???
Noch einmal mein (vorläufiges) Fazit: Nein, Afghanistan war und ist kein Misserfolg. Von einem Scheitern sollte man nicht sprechen. Ob es umgekehrt ein Erfolg war, wird sich erst zeigen und hängt von den jeweiligen, auch subjektiven Zielvorstellungen ab. Kein Zweifel besteht aber, dass strategisch wie operativ eine Menge Fehler gemacht wurden, aus denen wir lernen sollten und lernen müssen.
Das Problem in unseren Köpfen ist doch diese ‚Endstate‘-Illusion, bzw. -Vision.
(wie weiland diese „Endlösungs“-Vokabel)
Das ist eben eine Illusion und sonst nichts. In dieser immer mehr darwinistisch-evolutionären Welt ist Sicherheit und Stabilität (Kollektiv und individuell) makro- und mikrosystemisch eine Illusion………die natürlich von den Lords and Masters negiert wird.
Loss of Control…..wie gehen wir damit um ?
Kollektiv und als Individuum
@klabautermann | 29. August 2012 – 16:23
Zitatz: „However, vorrangig von historisch-akademischem Interesse und auch nur für Staaten, die einen “Grand Strategy” Anspruch verfolgen.
Dazu zählt Deutschland sicherlich nicht ;-)“
Leider ist Ihre Situationsbeschreibung korrekt. Aber können wir uns diese Position in Zukunft weiter leisten? Denn es ändern sich gerade ein paar Parameter.
Da wäre zuerst der Rückzug der USA aus Europa. Bisher konnte Deutschland den sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer spielen und sich einfach bei den USA einhängen. Dazu kam, dass die amerikanische Präsenz in Europa die Europäer zusammen schweißte, neben dem innereuropäischen Willen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa zu schaffen, um eben nicht mehr von Amerika abhängig zu sein. Leider muss man auch hier sagen, dass die spaltenden Kräfte im Europa der letzten Jahre offensichtlich gemacht haben, dass es mit GASP nicht weit her ist, die einzelnen nationalen Interessen in Europa zu unterschiedlich sind und es mit der Bündnistreue in Europa nicht zuletzt wegen deutscher Unzuverlässigkeit nicht zum Besten steht. Dazu kommen schnöde fiskalische Interessen, die es für einige europäische Staaten rational werden lassen, Deutschland zum Buhmann zu machen. Innerhalb weniger Jahre kann so eine 50 Jahre gewachsene Sicherheitsarchitektur zusammenbrechen, wie einst Bündnispolitik Otto von Bismarcks zusammenbrach, nachdem die sie tragende(n) Person(en) nicht mehr an den Schalthebeln der Macht saßen.
Wir haben eben seit 1990 keine ausländischen „Babysitter“ mehr, die aufpassen, dass wir den Korridor vernünftigen und stabilisierenden Handelns nicht verlassen. Da heute niemand mehr für uns eine „Grand Strategy“ denkt, müssen wir eigentlich selbst schleunigst damit anfangen, sonst bricht wieder irgendjemand aus Versehen aus Unfähigkeit einen gewaltsamen Konflikt vom Zaun. Und hinterher will es wieder keiner gewesen sein …
Tiefes Wissen heißt, der Störung vor der Störung gewahr zu sein, der Gefahr vor der Gefahr gewahr zu sein, der Zerstörung vor der Zerstörung gewahr zu sein, dem Unglück vor dem Unglück gewahr zu sein.
@ klabautermann
Das klingt aber etwas resignativ für einen gestandenen Marineoffizier.
Loss of control – wie gehen wir damit um? Das zielt in der Tat auf eine wichtige Frage, die freilich kaum mit dem Angebot eines dreizeiligen Patentrezeptes zu beantworten ist. Ich will einen solchen Versuch auch gar nicht wagen, sondern allenfalls ein oder zwei Gedanken dazu formulieren:
Erstens: Man braucht durchaus Visionen (auch wenn sie sich im Nachhinein als Illusionen entpuppen sollten). Das Wort endstate halte ich wie Sie für irreführend. Aber trotzdem sind langfristige Ziele (i.S. angestrebter „Zukünfte“) extrem wichtig für den roten Faden des eigenen strategischen Denkens.
Einige Beispiele für solche Visionen:
– Die Zukunft einer UN, die neben ihrer moralischen Autorität über die notwendige Realmacht verfügt, um die in ihrer Charta verankerten Rechte auch durchzusetzen.
– Die Zukunft einer NATO, in der die enge transatlantische Bindung vor dem Hintergrund der neuen globalen Rahmenbedingungen wieder gefestigt wird.
– Die Zukunft eines Europa, das endlich mit einer Stimme spricht, seine unglaublich reichen Ressourcen (damit meine ich weit mehr als Rohstoffe) bündelt und auf diesem Wege eine seinem Gewicht angemessene Rolle in der Weltpolitik spielen kann.
– Die Zukunft einer Abrüstung und Rüstungskontrolle, die von einem allgemeinen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen geprägt ist („Global Zero“).
– Und einige andere mehr.
Zweitens: Keine dieser Visionen lassen sich kurzfristig – sozusagen mit einer einzigen gewaltigen Kraftanstrengung – realisieren. Einige davon werden auch im Reich der Träume verbleiben. Aber dennoch dürfen sie in der operativen Praxis (und jetzt kommen wir zur Realpolitik) nicht vergessen oder verdrängt werden. Sie geben die Richtung vor beim Versuch einer schrittweisen Umsetzung.
Was die konkreten Schritte betrifft, so braucht man Geduld und Mäßigung im Anspruch. AFG dient hier als Lehre. Mit anderen Worten: Überlege dir vorher gut, was du machst. Nimm dir nicht zu viel vor. Aber wenn du’s dann machst, dann mach es richtig. Ich weiß: Das klingt ziemlich profan, entspricht aber meinen persönlichen Erfahrungen.
Auch wenn in der Tat eine absolute Sicherheit und Stabilität (wer möchte auch in einer solchen Welt leben?) eine Illusion darstellt, so erlöst uns das nicht von (möglichst) zielgerichteter Gestaltung. Und der Handlungsspielraum ist durchaus groß. Man muss ihn nur erkennen.
@ Sun Tzu
Was ich bei Ihnen immer wieder registriere, ist eine tiefe Abneigung gegen das meiste, was von den politisch Verantwortlichen entschieden oder nicht entschieden wird. Sie lassen dabei leider oft nur wenig Raum für eine konstruktive Diskussion.
Im Falle Europas freilich stimme ich Ihnen (zumindest teilweise) zu. Es ist frustrierend mit anzusehen, wie die „Vision Europa“ (siehe oben) durch kleinkarierte, geschichtsvergessene und egoistisch formulierte Vorstöße Stück für Stück entsorgt wird. Dabei müssten wir doch gerade in den Zeiten der Finanzkrise wie Pech und Schwefel zusammenhalten.
@KeLaBe et Sun Tzu
Danke für Ihre Kommentare
Zum Begriff „Resignation“ vs nüchtern: ich habe heute eine Nachricht gelesen, dass eine deutsche Genossenschaftsbank ihren Kunden Versicherungsderivate auf den Ausfall von Bundesanleihen ( = deutsche Staatspleite) als Investition empfiehlt.
Ihre und meine Denke und Haltung ist nicht mehr von dieser Welt. Ach ja, letzten Freitag hatte ich Besuch von einem MdB…….meine Jungs sind immer noch in Schockstarre.
@ KeLaBe:
Von einem völligen Scheitern zu sprechen macht meine Aussagen insgesamt runder, aber ich bin geneigt, Ihnen bzgl. Ihrer Kritik an meinen Ausführungen Recht zu geben. Insofern relativiere ich hiermit meine Kernbotschaft des völligen Scheiterns.
@ KeLaBe | 29. August 2012 – 19:26
Zitat: „Was ich bei Ihnen immer wieder registriere, ist eine tiefe Abneigung gegen das meiste, was von den politisch Verantwortlichen entschieden oder nicht entschieden wird. Sie lassen dabei leider oft nur wenig Raum für eine konstruktive Diskussion.“
Nun ja, das Gegenteil ist mein Ziel. Gerade im politischen und semipolitischen Raum müssten ganz wichtige Diskussionen über grundsätzliche Herangehensweisen geführt werden.
Richtig ist allerdings Ihre Beobachtung, dass ich dem politischen Raum bei sicherheitspolitischen Fragen wenig zutraue. Das liegt weniger an konkreten Personen – diese sind lediglich Ergebnis einer Struktur, die zwangsläufig minderwertige Urteilsqualität hervorbringen muss. Deutschland muss sich dringend Gedanken darüber machen, wie es sich bei Fragen von Krieg und Frieden und der vorbeugenden Vermeidung von Konflikten professioneller aufstellt.
Andere Länder halten sich für die Sicherheitspolitik Kaderschmieden, in denen langfristig qualifizierter Nachwuchs herangebildet wird. Zudem sind gewählte Politiker sich dort mehr als in Deutschland darüber im Klaren, dass sie als gewählte Volksvertreter noch lange keine Kompetenz in sicherheitspolitischen Fragen haben. In Deutschland neigt man da eher zur Betonung des „Primats der Politik“ und schlägt Sachverstand in den Wind.
Es geht letztendlich darum, dass Deutschland meiner Meinung bei sicherheitspolitischen Themen grundlegend die politische Herangehensweise ändern muss. Nur weil jemand mal z.B. Unteroffizier der Reserve war, qualifiziert ihn das noch lange nicht zu Urteilsfähigkeit in sicherheitspolitischen Themenfeldern, nachdem er ins Parlament gewählt wurde. Ich verlange von keinem Abgeordneten, Universalgenie zu sein. Nur sollten eben auch unsere Parlamentarier erkennen, dass ihre Befähigung zwangsläufig begrenzt ist und ihre Aufgabe der Vertretung des Willens des Volkes dementsprechend ausgestalten.
@ Sun Tzu
Abstrakte Kritik an der Klasse unserer Sicherheitspolitiker führt nun wirklich nicht weiter. Das ist mir etwas zu plump. Und auch Unteroffiziere (d.R.) können sich durchaus zu Staatsmännern mit Format entwickeln – müssen freiich nicht, wie wir wissen. Umgekehrt gibt es vereinzelt ja auch Generalstabsoffiziere, deren Rat man besser nicht befolgt (hätte).
Was zweifellos zutrifft, ist bei uns der eklatante Mangel an seriösen (!) sicherheitspolitischen Think Tanks mit Einflussvermögen. Wenn man das etwa mit der einschlägigen Szene in Washington vergleicht … Woran liegt das? Wohl zum einen an der fehlenden Attraktivität des Themas in Deutschland. Das ist kaum kurzfristig zu ändern – was nicht heißt, sich damit zufrieden zu geben. Und zum anderen am m.E. nur schwach ausgeprägten Willen des Regierungsapparats, sich „von außen“ klug dreinreden und auf die Finger schauen zu lassen. Ohne externe sicherheitspolitische Expertise und ohne Zwang, sich mit ihr in einem harten Diskurs auseinandersetzen zu müssen, regiert es sich eben doch etwas bequemer. Diese meine Beobachtung hat übrigens nichts mit der Farbenlehre zu tun.
Etwas enttäuscht bin ich, dass Sie meinen Köder nicht aufgegriffen und sich zu Europa im Sinne einer großen Vision bekannt haben. Sicherlich nur deshalb, weil es OT wäre. Möglicherweise aber auch aus anderen Gründen.
Vielleicht müssen wir uns (in München?) mal bei einem Bier darüber unterhalten.
@ KeLaBe | 30. August 2012 – 9:27
Auch wenn es OT ist aber unser gegenwärtiges europäisches Trauerspiel verdient in der Tat etwas Kommentierung. Wie man in so kurzer Zeit so viel Vertrauen zerstören kann, ist schon unfassbar. Die Frage, was zusammen hält, scheint nicht mehr gestellt zu werden.
Im Wesentlichen teile ich Ihre Sichtweise von der „Vision Europa“. Solange die europäischen Völker miteinander wollen, man könnte auch sagen: Eine gemeinsame Vision haben! muss man sich weniger Sorgen machen.
Gegenwärtig scheinen Europa wohl etwas die Europäer ausgegangen zu sein. Das Miteinander scheint mehr und mehr durch nationale Egoismen abgelöst zu werden, die auf Kosten anderer leben wollen. Die Struktur, dass ein Land dem anderen in die Kasse greifen kann, ist höchst ungesund. Für ebenfalls gefährlich halte ich, dass ein Staat einen anderen Staat finanziert, Stichwort ESM. Private Gläubiger können keine Armeen schicken, staatliche Gläubiger könnten, nach entsprechenden Wahlen, ihr Geld per Armee eintreiben wollen, um dem eigenen Volk Wohltaten zu finanzieren … eine Analyse der Sekundärgründe für den amerikanischen Bürgerkrieg ist da sehr interessant, bei dem der industrialisierte Norden schon länger nach Möglichkeiten suchte, sein Geld beim verschuldeten Süden wiederzuholen.
Bei Europa müssen wir sehr aufpassen, dass es sich um ein föderales System souveräner eigenverantwortlicher Staaten handelt, die aber aufgrund der gemeinsamen Interaktion gemeinsam handeln wollen und können. Es wäre gegenwärtig für die europäische Sicherheit fatal, wenn wir einen zentralistischen europäischen Super-Zentralstaat schaffen, der sich zwangsläufig immer dem Verdacht aussetzen wird (ob der Verdacht real oder irreal ist, ist im Prinzip egal) Volk A zu bevorzugen und Volk B zu diskriminieren. Das wird zu Absetzbewegungen führen, schlimmstenfalls zu Sezessionskriegen. Wir haben nun mal kein europäisches Staatsvolk, damit müssen die unterschiedlichen Völker auch die Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Mentalitäten zu leben. Ich kann ehrlich gesagt auch nicht erkennen, was an der Gleichmacherei, die von Bürokraten Harmonisierung genannt wird, wirklich erstrebenswert sein soll. Vieles an Europa ist liebenswert, weil es eben unterschiedlich und vielfältig ist.
Diskussionswürdig halte ich auch folgende Hypothese: Möglicherweise sollten wir Europa bis auf weiteres nicht vollenden, damit die Menschen immer in Gedanken Europa wollen und daran arbeiten, Europa zu einen. Wäre ein europäischer Zentralstaat vollendet, würden die Menschen damit anfangen, Separationsbewegungen loszutreten. Die europäische Vision ist gut für Europa, ein geschaffener europäischer Zentralstaat möglicherweise nicht. Wenn dann nach länger gelebter europäischer Vision ein europäisches Staatsvolk entstanden ist, könnten Vereinigte Staaten von Europa sinnvoll sein. Bis dahin dauert es aber noch ein paar Generationen, in denen ein kooperativer Staatenbund die bessere friedvollere Lösung sein wird.
PS: Der „Unteroffizier“ war ein Seitenhieb auf einen ehemaligen maßlos überschätzten Verteidigungsminister, mehr nicht …
@ Sun Tzu
Ich habe diese Antwort irgendwie erwartet, und trotzdem bin ich enttäuscht. Für mich spricht aus ihr bemerkenswert viel egozentrische Mutlosigkeit und allzu wenig Weitsicht. Sie sind ja leider nicht allein damit. Genau diese Haltung ist letztlich verantwortlich dafür, dass Europa derzeit die Europäer ausgehen. Denn nur in harten Zeiten – wenn es ums Geld geht – zeigt es sich, für wen die „Vision Europa“ ein unverbindliches Lippenbekenntnis oder wirklich ernst gemeint ist.
Ich will nun nicht erneut die Geschichte bemühen und ausführlich darlegen, wie gerade wir Deutsche in schwierigster Lage von der solidarischen Gemeinschaft (West-)Europas profitiert haben. Denken wir doch nur einmal an das Europa vor 1945 zurück. Und auch die Einführung des Euro war ja nun keineswegs gegen unsere auch monetären Interessen gerichtet. Das alles sollten wir nicht vergessen und damit aufs Spiel setzen.
Aber mir geht es um etwas anderes: Wir Europäer werden den künftigen Herausforderungen unter den Bedingungen der Gloablisierung nur halbwegs erfolgreich begegnen können, wenn wir den Weg zu europäischer Gemeinsamkeit und gegenseitiger Solidarität unbeirrt weitergehen. Spalten wir uns auf und arbeiten wir gegen- statt miteinander, ziehen wir unweigerlich den Kürzeren. Vor allem Russland und China, aber auch andere warten nur darauf.
Ein Beispiel: Betrachten Sie doch einmal die Summe der nationalen Verteidigungsausgaben aller EU-Länder. Das kann sich per Saldo wohl sehen lassen. Vergleichen Sie das aber nun mit dem realen Ergebnis europäischer Handlungsfähigkeit, also „der Wirkung im Ziel“. An diesem Missverhältnis, an dieser unintelligenten Ineffizienz müssen wir arbeiten. Das sind wir nicht nur der europäischen Idee, sondern auch dem Steuerzahler schuldig. Auch dem deutschen.
Es führt langfristig kein Weg vorbei an einer stärkeren Europäisierung unserer sicherheitspolitischen Interessen. Eng ausgelegte Souveränität von Klein- und allenfalls Mittelstaaten mag im Einzelfall ja attraktiv sein. Mit ihr lösen wir aber nicht unsere großen Zukunftsaufgaben. Seit Adenauer und Schumann, Schmidt und Giscard d’Estaing, Kohl und Mitterand rollt der Zug ruckweise in die richtige Richtung. Leider behindern aber bisweilen immer noch mentale Bremsklötze und falsch gestellte Weichen eine einigermaßen flotte Fahrt – so wie zur Zeit. Irgendwann werden wir ankommen, aber diese Verzögerungen kosten unglaublich viel Geld, Energie und Einfluss in der Welt. Und die Generationen unserer Ur-, Ur-, Urenkel werden sich vermutlich heftig wundern über unsere Kleinkariertheit.
Über ihre letzte These möchte ich nur ungern diskutieren. Ich halte sie für mehr als merkwürdig: Etwas anzustreben, um es dann doch nicht zu wollen. Diese Ratio erschließt sich mir nicht. Im übrigen habe ich persönlich keine Angst davor, die einzelnen Länder und Völker könnten durch ein mehr an Europa sich selbst entfremden. Sicher muss man aufpassen, dass die Bürokratie nicht weit über das Ziel hinausschießt. Aber warum sollten die einzelnen Regionen nicht weiterhin „ihre Mentalitäten ausleben“ können? Auch in unserem eigenen Land gibt es doch sehr unterschiedliche Befindlichkeiten und Traditionen – aber weder ein Bayer noch ein Rheinländer noch ein Berliner noch ein Ostfriese fühlt sich durch den Zentralstaat in seiner landsmannschaftlichen Lebensweise wirklich eingeschränkt.
Aber jetzt haben wir uns endgültig meilenweit vom Thema „Afghanistan“ entfernt. Ich hoffe, T.W. (gute Besserung!) wird uns diesen weiten Ausflug verzeihen.
Perhaps it’s time to stay:
In Brunssum möchte man so langsam genauere Vorgaben der Politik für die Zeit nach 2014 (siehe online verfügbarer Tagesspiegel-Artikel vom 30.08.12 „Afghanistan nach 2015 – Wieviele müssen bleiben? Spätestens im Frühsommer ist Entscheidung nötig“).
In der NATO ist man eben auch im allgemeinen bürokratischen Trend in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft: Verantwortung nach oben und unten abschieben, Eigeninitiative vermeiden.
Die politische Vorgabe („train, advise assist“) lässt sich aus meiner Sicht in kleine, mittlere, grosse Lösungsalternativen überleiten (wobei klein und mittel erhebliche Einschränkungen bei „assist“ zur Folge hätten). Eine Festlegung im Sommer 2013 st zu spät für eine ordentliche Ausbildung.
Hieraus wiederum können die notwendigen Fähigkeiten und der Personalbedarf abgeleitet werden. Dann hätte auch die Politik eine Entscheidungsgrundlage.
Die Planungsarbeit müsste eigentlich bis Herbst fertig sein. Dafür gibt es Generalstabsoffiziere.
Der US-Wahlkampf sollte diese Planungsarbeit nicht verhindern.
@T.W.: Ist der Hilferuf von Langheld nicht auch ein Thread wert?