Milizen als Problem: Vergewaltigung und Schutzgelderpressung in Kundus
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat heute einen Bericht zum zunehmenden Problem der Milizen, aber auch der Afghan Local Police (ALP) in Afghanistan vorgelegt. Diese bewaffneten Organisationen, als Teil des afghanischen Sicherheitsapparates eingesetzt, gehen in manchen Bereichen rücksichtslos gegen die Bevölkerung vor – und dann bisweilen schlimmer als es die Aufständischen tun.
Die Mitteilung von HRW (einschließlich eines Links zum kompletten Bericht) findet sich hier. Das Vorgehen der Milizen in der Provinz Kundus nimmt darin einen breiten Raum ein.
Das ausführliche Kundus-Kapitel bedarf erst mal der sorgfältigen Lektüre, auf den ersten Blick finden sich allerdings schon Einzelheiten wie dieser aus dem Distrikt Imam Sahib bei Kundus, die einen erschauern lassen:
On January 24, 2010, the local mullah, Rahmatullah, along with sub-commander Zulmai (a relative of Commander Sarbaz who controls militias in several villages), and three other armed men, went to the home of two sisters-in-law in the village of Baika. The men gang raped the two women at gunpoint, having tied up their husbands. Habibullah S. [pseudonym], husband of one of the women, told Human Rights Watch:
There were five people, all armed. They came to my house and they tied my hands and my brother’s hands. Then they raped my wife and my brother’s wife. I was with my brother, but we had no firearms. So we could not do anything. If I had been armed I could have fought them, I could have fought them to the end of my life. They would have killed me but it would have been worth it.
Habibullah S. said their wives had been harassed by Rahmatullah in the weeks before the gang rapes. He explained:
The mullah was behind it. Before this three times the mullah came to my house, with bad intentions, to do something to our wives. Our wives said, “We don’t want any men here, why are you coming?” After the last time, my wife went to the mosque, took hold of his clothes with other people there, and told him not to come again. After that he became so angry with us that he sent these men to us.
A local human rights investigator confirmed the account. He told Human Rights Watch that the mullah had reportedly told the man and his brother that they should “control their wives.”
On January 25, 2010, the authorities arrested Rahmatullah and charged him only with illegal entry. He was found guilty by a primary court on March 10, 2010, and sentenced to six months, of which he served three.
The other four assailants were never arrested. Habibullah S., says that they are untouchable:
They have powerful connections, that’s why they are still walking freely in the district…. They are part of the arbaki. There are lots of arbakis in the villages, and they are all thieves. They are involved in robbery, in stealing, sometimes they take money from your pocket, and say if you complain I will kill you…. There are no laws, no rules. They have weapons, they can kill people, they can go into houses and do anything to you.
ISAF hat bislang (schriftlich) mit kurzen Erklärungen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter reagiert:
Das geschilderte Verhalten konterkarriert den COIN-Ansatz in erheblichen Maße und wer weiß, wie hoch die Ehre in diesem Lande steht kann sich vorstellen, was die beiden Männer nunmehr zu tun haben und auf welcher Seite sie in Zukunft stehen werden.
Der zentrale Ansatz bei COIN lautet doch, den Menschen eine verlässliche Alternative zu den Aufständischen zu zeigen und dass es ihnen auf dieser Seite (der Regierungsseite) besser gehen wird.
Das geschilderte Beispiel von HRW zeigt wieder einmal, dass wir (ISAF) sich noch so gut anstellen kann, der „Flaschenhals“ bleibt die afghanische Regierungsseite (die Arbaki rechne ich dieser zu).
Es zeigen sich immer wieder die Schwächen unseres Ansatzes und es stellt sich die Frage, wie lernfähig die internationale Gemeinschaft ist?
Hat ISAF eine erfolgreiche COIN Strategie in AFG?
Sieg = die Erreichung von nationalen Zielen ja / nein?
Ziele = das Setzen von realistischen Zielen ja / nein?
Einheit der Führung = Unterordnung des militärischen unter politischen Zielen ja / nein?
minimaler Kräfteansatz = minimaler Einsatz von Gewalt zur Erreichung der Ziele ja / nein?
Massierung = angemessene Strukturen zur Reaktion auf die Herausforderung in AFG ja / nein?
Das ist doch einen Captain Renault Award wert, nicht?
I am shocked.
Die Beschreibung des Vorfalls liest sich so, als ob es mit der Thematik Präsenz westlicher Truppen in Afghanistan, Kampf gegen die Taliban, ISAF usw. im Grunde genommen herzlich wenig zu tun hat.
So werden halt in dem Land die Konflikte ausgetragen. Uns geht das natürlich nahe, weil es sich sozusagen vor den Augen westlicher Beobachter abspielt und man sich für alles mitverantwortlich fühlt.
@chickenhawk
Pardon, das So werden halt in dem Land die Konflikte ausgetragen. Uns geht das natürlich nahe, weil es sich sozusagen vor den Augen westlicher Beobachter abspielt und man sich für alles mitverantwortlich fühlt. klingt ein bisschen nach verurteilenswerter, aber nicht zu ändernder Folklore…
Die Herren, deren Aktivitäten da geschildert werden, sind zum Teil diejenigen, die nach Übergabe in Verantwortung die Sicherheit am Hindukusch gewährleisten sollen. Und wer übergibt denn an die?
@T.Wiegold
Es ist nicht leicht, einerseits Empathie für die Menschen zu empfinden und andererseits die Dinge schonungslos realistisch zu sehen.
Aber Kriege und Gewalt sind nun einmal die Grundkonstante in der afghanischen Geschichte.
Vergewaltigung als furchtbares Mittel der Kriegsführung und Herrschaftsausübung kennen wir auch aus anderen Erdgegenden; aber Afghanistan ist ein Land, in dem – auch schon vor der Herrschaft der Taliban – neugeborenen Mädchen bisweilen kein Name gegeben wird, weil sie einfach nicht wichtig genug sind.
An wen soll man die Sicherheitsverantwortung übergeben, ich weiß es nicht. Man macht sich so oder so die Hände schmutzig.
Ich denke auch, dass es mit dem Ansatz „das macht man halt so in AFG“ nicht getan ist.
Es unterläuft unseren Ansatz massiv und wird sehr rasch wieder zu unangenehmen Erscheinungen auf Patrouillen führen.
@chickenhawk: Also kein Problem, mit Vergewaltigern und Erpressen verbündet zu sein?
@T. Wiegold
„…klingt ein bisschen nach verurteilenswerter, aber nicht zu ändernder Folklore…“
Es gibt in Afghanistan zahlreiche traditionelle Verhaltensweisen, die westlichen Beobachtern nicht gefallen, z.B. http://en.wikipedia.org/wiki/Bacha_bazi. Man könnten auch die Behandlung von Frauen nennen (das „Vergewaltigungsgesetz“ der Schiiten ist manchen vielleicht noch ein Begriff) oder die routinemäßige und gesellschaftlich absolut akzeptierte Verfolgung nichtislamischer religiöser Minderheiten. Auch Vergewaltigung von Männern und Frauen kommt in Konflikten als Mittel zur Demütigung von Personen immer wieder vor.
Falls jemand meint daran etwas ändern zu können, würde mich sein Plan dafür interessieren und eine Begründung, warum dies das Leben deutscher Soldaten wert sein sollte.
Ich bin mir aber sicher, dass jene Teile westlicher Gesellschaften, die in den letzten zehn Jahren keine Bescheidenheit in diesen Dingen gelernt haben, dies früher oder später noch tun werden. Europa und die USA werden auf absehbare Zeit eine immer geringere Rolle in der Welt spielen und sich daran gewöhnen müssen, in diesen Dingen nicht mehr maßgeblich zu sein.
Wie dem Einsatz noch zu helfen ist weiß ich nicht, denn dieser krankte von Anfang an an der westlich-naiven Vorstellung, dass alle Menschen gleich sind und die Afghanen daher letztlich das gleiche tun würden wie Menschen in der Schweiz oder den Niederlanden, wenn man ihnen die Freiheit dazu gibt.
@Nico
Natürlich kann man das nicht akzeptieren und sollte, soweit irgend möglich, einschreiten.
Man darf sich aber keine falschen Vorstellungen darüber machen, wie die Geschichte weitergeht, wenn der letzte Soldat aus dem Westen in den Flieger nach Hause steigt.
Richtig, sollte man nicht. Geschichte wiederholt sich.
@ Jugendoffizier
Wenn sie von der COIN-Strategie sprechen, bleibt festzuhalten, dass das HQ ISAF und die US-Streitkräfte eine COIN-Strategie haben und durchführen. Die deutschen Streitkräfte beteiligen sich nicht an COIN, die machen weitgehend nur Patrouillen. Hier fehlt es an Entschlossenheit, der Ausbildung, den Kräften und den Ressourcen COIN wirklich durchzuführen. Wenn also das Verhalten dieser einheimischen Kräfte den COIN-Ansatz der NATO unterläuft, dann tut das der Kräfteansatz und -einsatz des DEU Kontingentes schon seit Jahren.
@ T.Wiegold
Bereits mit Beginn des NATO-Einsatzes entschied die politische Führung die vorhandenen Machtstrukturen der Nordallianz in AFG als Basis einer Regierungsstruktur zu nutzen. Unter der Maxime möglichst früh die Verantwortung an GIRoA abzugeben, wurden alle Entscheidungen der Personalbesetzung und Struktur der Sicherheitskräfte und Verwaltung den AFG übergeben, die auch zur Verwaltung der Mehrheit der Finanzhilfen der internationalen Gemeinschaft befugt wurden.
Auf taktischer Ebene in KDZ heißt dies, dass ISAF keine Möglichkeit hat, inkompetente, kriminelle oder korrupte Beamte aus der Verwaltung oder den Sicherheitskräften zu entfernen, sondern nur Vorschläge machen kann, die ignoriert werden. Eben diese Vertreter von GIRoA überführten 2010 die persönlichen Milizen einzelner Warlords auf Ehrenwort in das ALP, ohne das ISAF eingreifen konnte. Es wäre ISAF möglich gewesen aus freiwilligen Dorfbewohnern neue ALP aufzustellen, das notwendige Geld, Ausrüstung und Waffen wurden durch GIRoA aber nicht freigegeben. Die ehrlichen ALP gingen deshalb wieder nach Hause und die korrupten leben seitdem aus der Bevölkerung.
Die Aktivitäten der Herren, die in dem Bericht geschildert werden, sind also direkter Ausfluss der Entscheidungen der politischen Führung, die ebenfalls entschieden hat, dass wir die Sicherheitsverantwortung übergeben – komme was da wolle und an wen auch immer. Um es afghanisch auszudrücken: Chah!
Dem deutschen Ansatz liegt eine Art von COIN-Strategie zu Grunde, ohne das die Beteiligten dies vermutlich wissen oder wahr haben wollen.
Das Zusammenführen von militärischen und zivilen Mitteln zur Erreichung meiner Ziele im Einsatz ist durchaus ein Ansatz, den auch COIN fährt.
Nur COIN im klassischen Sinne bedeutet auch Führung aus einer Hand und nicht das Nebeneinander von diversen Akteuren (BMZ, GIZ, AA, BMVg, BMI etc.) in einem uns vollkommen fremden Umfeld.
Der COIN Ansatz ist ein sehr sehr alter Ansatz und man könnte sicherlich auch viele viele Erfahrungen zurückgreifen, wenn man denn wollte.
Aber irgendwie scheinen alle im Kämpfen von vermeintlich alten Schlachten verhangen zu sein.
Warum waren die Briten in Malaya erfolgreich, wir aber scheitern an Afghanistan?
Mit immer mehr Soldaten ist der Konflikt auch nicht zu lösen – Afghanistan ist in dieser Hinsicht wie ein trockener Schwamm, der Verstärkungen einfach absorbiert.
Selbst wenn wir jetzt sagen, Deutschland verstärkt auf 20.000 Soldaten – wie viele davon stehen dann wirklich für Aufgaben im Felde zur Verfügung?
Am Aufbau von einheimischen Kräften geht im Prinzip nichts vorbei.
Und hier schließe ich mich Cynic2 in seiner Kritik an, dass wir bei der Auswahl des Personals für diese einheimischen Kräfte wieder einmal aufs „falsche Pferd“ gesetzt haben.
Aber das hat in Afghanistan ja Tradition.
Die Briten vertrieben praktisch die gesamte ethnisch-chinesische Bevölkerung von Malaya, eine halbe Million Menschen, aus ihren angestammten Gebieten und siedelten sie in künstlich angelegte Dörfer um (die kommunistische Guerilla rekrutierte sich fast ausschließĺich aus den Reihen der Chinesen und genoss darüber hinaus wenig Sympathien).
Zudem war die Guerilla isoliert, hatte kein Rückzugsgebiet und erhielt von außen keinerlei Unterstützung.
Auch sonst unterscheiden sich die kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen in Afghanistan grundsätzlich von denen in Malaya.
COIN basiert auf einer zentralen Annahme: dass die Regierungsseite bereit und willens ist, diejenigen Maßnahmen bzw. Verhaltensweisen die zu den „berechtigten Klagen der Bevölkerung“ geführt haben, zu ändern bzw. zu unterlassen und so den Aufständischen gewissermaßen den politischen Wind aus den Segeln zu nehmen, während Sicherheitskräfte und Zivilverwaltung search, clear and hold betreiben (um es kurz zu fassen).
Während ich mich durch das Counterinsurgency Field Manual gequält habe (ist halt eine Vorschrift und daher reichlich trocken), ging mir immer die Frage durch den Kopf, was aus COIN wird, wenn die Regierungsseite aus Ignoranz, ideologischer Verblendung oder kurzsichtigem Egoismus nicht bereit ist, „das Richtige“ zu tun.
Die Antwort ist offensichtlich: dann wird auch der beste (multinationale) COIN-Ansatz scheitern.
Bitter ist nur, daß man dieses Scheitern am Ende jenen zum Vorwurf machen wird, die mit unzureichenden Mitteln und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten vor Ort ihr Bestes gegeben haben -und nicht denen, die „aufs falsche Pferd“ gesetzt haben.
COIN nach U.S.-Vorschrift setzt eine legitime Regierung voraus die man unterstützt. Eine legitime Regierung gibt es in Afghanistan nicht.
Selbst wenn man das fleissig ignoriert gibt es historisch kein Beispiel das COIN irgendwo mal gut funktioniert hat. Wie Chickenhawk zu Malaya richtig sagt, war das dort mehr ethnische Säuberung und Genozid als COIN. Könnte man auch in Afghanistan machen man so machen aber welcher Psychopat will dafür die Verantwortung übernehmen?
Der gesamte Afghanistan Eingriff war von vorneherein falsch. Die Amerikaner haben die Warlords der Nordallianz nach Kabul gebracht und dann mit Karzai ein paschtunische Puppe an deren Spitze gesetzt. Die Taliban, die sich um Integration bemühten, wurden abgelehnt. Das das nicht gut gehen kann haben die Pakistanis bereits Ende 2001 erkannt und davon abgeraten.
Alles was danach kam war die Folge dieser und weiterer Fehlentscheidung. Jetzt kann man als „Westen“ nur das Land verlassen und weggucken bis sich dort ein neues Gleichgewicht der Kräfte einspielt.
@ b 80% Zustimmung. Es bleibt ein arg bitterer Geschmack, denn die Zeche zahlen -wie immer- die kleinen Leute (s.o.).
@b
Hm, eine kühne Behauptung: „Eine legitime Regierung gibt es in Afghanistan nicht.“ Es gibt eine Regierung, die aus Wahlen hervorgegangen ist (was immer man davon halten mag) und international anerkannt ist (wie auch immer man das bewertet). Es mag schon sein, dass eine Regierung keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat und abgelehnt wird – das macht sie noch nicht illegitim.
Läuft das nicht in der Sache (COIN) auf dasselbe hinaus?
@TW
diese Regierung ist in der Tat illegitim nach afghanischen und internationalen Legitimitätsstandards….die Anerkennung der USA und ‚ proxys‘ ist kein Legitimitätszertifikat mehr…..das sollten wir langsam begreifen
@b
Ein Genozid war das in Malaya sicher nicht; die Umsiedlung als solche war zwar eine ausgesprochen robuste Maßnahme, man hat aber die Umgesiedelten in den „New Villages“ grundsätzlich gut versorgt (im Gegensatz zum zweiten Burenkrieg, wo die Briten diese Taktik schon einmal erfolgreich praktiziert hatten).
Aber heute kann man so etwas nicht mehr machen. Afghanistan ist auch viel größer, und in Pakistan haben die Insurgenten ein mehr oder weniger sicheres Rückzugsgebiet.
Sicherlich gebe ich der Kritik an den Briten in Malaya soweit Recht, als dass es sich um eine Zwangsumsiedlung gehandelt hat. Den Genozid verneine ich an dieser Stelle.
Und dass die Kommunisten in Malaya keine Unterstützung durch China erhielten, dahinter mache ich mal ein Fragezeichen, ebenso zu nicht bestehenden Rückzugsräumen, die sich im Dschungel durchaus reichlich ergeben haben.
Die Kunst in Malaya war jedoch, dass alle an einem Strang zogen und ein gemeinsames Vorgehen und Plan hatten (wenn auch nach langer Lernzeit).
Ich gehe nicht soweit, dass Malaya eins zu eins auf AFG übertragbar ist (das wäre auch sehr gewagt), aber Lehren daraus ableiten kann man für AFG und die dortige COIN Strategie durchaus.
Das fängt u.a. dort an, wo man legitime Inhaber von Gewaltmitteln durchsetzt, die sich an die ortsüblichen Rechtsvorstellungen zu halten haben.
Und das Vergewaltigen von Frauen hat auch in AFG Konsequenzen – sogar ziemlich erhebliche.
Zum Thema Legitimität der Regierung habe ich mal bei Wikipedia nachgeschlagen (die wissen ja immer alles…).
Danach wird die gegenwärtige afghanische Regierung von allen wichtigen Staaten der Erde anerkannt, darunter sämtliche Nachbarländer, den USA, Russland, China sowie die Länder der Europäischen Union. Viel legitimer geht es nicht.
Im Gegensatz dazu wurde die Taliban-Regierung nur von Pakistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien anerkannt. Der Sitz Afghanistans bei den Vereinten Nationen wurde der Taliban-Regierung verwehrt.
Bei aller Kritik: Welche Regierung soll denn Afghanistan legitim vertreten, wenn nicht die jetzige?
T.Wiegold | 12. September 2011 – 17:57
@b
Hm, eine kühne Behauptung: “Eine legitime Regierung gibt es in Afghanistan nicht.” Es gibt eine Regierung, die aus Wahlen hervorgegangen ist (was immer man davon halten mag) und international anerkannt ist (wie auch immer man das bewertet). Es mag schon sein, dass eine Regierung keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat und abgelehnt wird – das macht sie noch nicht illegitim.
Sie heben hier auf formale, außerliche Legitimität ab. Die formale Legitimität der Karzai Regierung ist Afghanistan allein schon durch die weitverbreitete Wahlfälschungen bei den letzten Wahlen durch Karzai und andere nicht gegeben.
Bloss weil ein paar westliche Länder ihre Puppe Karzai für legitim erklären, macht es ihn in den Augen der Bevölkerung noch nicht legitim.
Auch daran ist zu grossen Teilen ISAF schuld. Wie kann Karzai Legitimität haben wenn alle seine Aufrufe die Nightraids einzustellen von den ISAF-Truppen ignoriert werden?
Die formale Legitimität ist in der COIN Vorschrift auch gar nicht gemeint. Es geht bei COIN darum die informelle Legitimität der Regierung in den Augen eben der Bevölkerung durch Sicherheits- und zivile Maßnahmen herzustellen und zu dokumentieren. Dazu fehlt es an den Grundlagen. Eine Regierung muss in der Lage sein ihre Grundfunktionen im Lande auszuführen – Sicherheit, Justiz, med. Versorgung, Bildung und Sicherstellung der Finanzierung dieser Dienste – um als legitim zu gelten.
Die Taliban haben es zumindest auf niedrigem Niveau geschafft als legitim anerkannt zu werden.
Das schafft die derzeitige afghanische Regierung nicht (u.a. auch weil die ISAF das gar nicht zuläßt.)
@b
thx…. Legitiität einer Regierung ist immer und insbesondere seit 1648 die Frage der nachhaltigen Durchsetzbarkeit der inneren und – eingeschränkt im Äußeren – Staatsgewalt, egal auf welcher konstituiven Grundlage.
Das Weltordungsprinzip ist Staatlickeit, und deren spezifisch konstituive Durchsetzbarkeit. Deswegen ist eine einseitig erklärte Blockacke (Israeel- Gazha) nur so lange legitim wie sie effektiv auch durch Israel durchgesetzt werden kann. Deswegen kann die ‚Internationale‘ in Syrien nicht eingreifen weil die Regierung Syriens ihre interne Legitimität mit allen national legitimen, konstituiven Mitteln bislang durchsetzen kann.
Wer dieses globale und historisch gültige ordungspolitische Staatlichkeitsprinzip in Frage stellen will, der sollte besser in einer Welt von ca. 10 hoch 23 politisch-wirtschaftlichen Entitäten nochmals über Komplexität und deren Beherrschbarkeit und strategisch nachhaltige Durchsetzbarkeit nachdenken.
@b
„Bloss weil ein paar westliche Länder ihre Puppe Karzai für legitim erklären, macht es ihn in den Augen der Bevölkerung noch nicht legitim.
Auch daran ist zu grossen Teilen ISAF schuld. Wie kann Karzai Legitimität haben wenn alle seine Aufrufe die Nightraids einzustellen von den ISAF-Truppen ignoriert werden?“
Ich teile ja in letzter Zeit größtenteils Ihre Position, aber hier bewerten Sie m.E. die „Night Raids“ über. Außerhalb einiger geographischer Schwerpunkte bekommt die Masse der Afghanen von diesen überhaupt nichts mit. Zu den größten Sorge der Afghanen gehören diese Einsätze m.E. nicht. Karzais Proteste dagegen sind wohlkalkulierte Versuche, sich als unabhängig darzustellen.
Die Legitimität der Regierung ist allerdings spätestens seit den Wahlen 2009 auch aus Sicht großer Teile der Bevölkerung (v.a. im Norden) in der Tat hinfällig. Wenn ISAF demnächst gezwungenermaßen mit der Rückverlegung beginnt, dürfte dies offensichtlich werden. Die Nordethnien dominieren weiterhin die Streitkräfte und werden vermutlich wissen, wie sie diese Fähigkeit im afghanischen Bürgerkrieg auch ohne Karzai nutzbar machen können.
@chickenhawk
Die von Ihnen angeführte Anerkennung der AFG Regierung durch eine Zahl „wichtiger“ Staaten ist m.E. kein geeigneter Indikator für Legitimität. Ist es völkerrechtlich betrachtet nicht vielmehr so, dass zwei Parteien im Zuge der gegenseitigen Anerkennung vereinbaren, sich in einer bestimmten Art und Weise als gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte zu begegnen bzw. zu respektieren? Es ist eine Absichtserklärung und kein Gradmesser für Legitimität.
Vielleicht war es nach dem Sturz der TB ein Fehler, nicht wieder den König einzusetzen. Dieser war eine akzeptierte Instanz, vor allem zur Schlichtung von Streitigkeiten.
„Außerhalb einiger geographischer Schwerpunkte bekommt die Masse der Afghanen von diesen überhaupt nichts mit.“
Genau daselbe kann man auch von GoIRA sagen … für die Mehrheit der Afghanen ist die Regierung schlichtweg irrelevant. Und das kratzt gewaltig an der Legitimität.