RC N Watch: Mindestens 20 Tote bei Selbstmordanschlag in Imam Sahib
Bei einem Selbstmordanschlag auf eine afghanische Behörde im Distrikt Imam Sahib in der nordafghanischen Provinz Kundus sind mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen. Die ersten Meldungen sind noch ungenau; es sollen insgesamt 50 Personen getötet oder verletzt worden sein.
Nach einer Reuters-Meldung griff der Selbstmordattentäter eine Menschenschlage an, die zur Abholung von Ausweisen anstand.
(Nachtrag: laut BBC sind es mindestens 26 Tote.)
Der Anschlag kommt vor dem Hintergrund positiver Meldungen in den vergangenen Wochen – die örtlichen Behörden hatten angegeben, es sei gelungen, aus weiten Bereichen der Provinz die Aufständischen zu verdrängen.
Update: Tolo News berichtet von 30 toten Zivilisten und 40 Verletzten.
TOLO schreibt von „mindestens 18 Toten“, BBC von „mindestens 26 Toten und 30 Verwundeten.
http://www.tolonews.com/en/afghanistan/1930
Das kann man als Verzweiflungstat der Taliban bewerten. Oder als Beweis, dass der Distrikt nicht unter Kontrolle ist. Entscheidend ist, welcher dieser beiden Interpretationen die örtliche Bevölkerung folgen wird.
Allerdings sind solche Anschläge normalerweise kein Zeichen der Stärke, sondern des Kontrollverlustes der Taliban. Brachiale Gewalt können beide Seiten in solchen „contested areas“ anwenden, aber für gewöhnlich ist das kontraproduktiv. Selektive Gewalt kann sehr deutliche Signale senden und das Verhalten der Leute stark beeinflussen. Je ungezielter die Gewalt, desto geringer die Anreize, das eigene Verhalten anzupassen (sprich: nicht mehr mit ISAF zusammenzuarbeiten).
(In Zeiten wie diesen gebe ich lieber gleich eine Quellenangabe: „Statis Kalyvas – The Logic of Violence in Civil Wars“. Hab ich schonmal gesagt.. tolle Forschung.)
Interessanter Beitrag, die Zivilbevölkerung anzugreifen ist sicherlich kein Zeichen der Stärke, aber ein Zeichen der Präsenz. In diesem Sinne glaube ich ja, dass der lokalen Bevölkerung der Grund für die Gewalt relativ egal ist. Entweder ist es friedlich und die Regierung liefert die grundlegenden Dienstleistungen — oder eben nicht. Und wenn man beim Abholen der Ausweispapiere getötet wird, entsteht, nicht ganz zu unrecht, die Frage, wieso man denn dann eigentlich einen Ausweis braucht. Das ist natürlich alles Schreibtischanalyse und kann vor Ort ganz anders aussehen, es erscheint mir aber nicht unwahrscheinlich.
Auf Spiegel Online hat es noch einige Details zum möglichen Hergang:
In dem Behördengebäude sind das Hauptquartier der Bezirkspolizei und ein Büro der Regionalregierung untergebracht. Vor dem Komplex hatten Dutzende Afghanen Schlange gestanden, um ihre Ausweispapiere abzuholen.
Augenzeugen des Anschlags berichteten, der Angreifer habe sich zunächst mit den anderen Wartenden vor der Ausweisstelle angestellt. Als er die Tür des Gebäudes erreichte, habe er seine Sprengladung gezündet. Die Berichte zeugen von einem regelrechten Blutbad. Überall vor dem Gebäude hätten Leichenteile herumgelegen, erzählen Zeugen. Noch am Anschlagsort erlagen viele Schwerverletzte ihren Verwundungen.
Weiss nicht ob es in diesem Zusammenhang von Interesse ist: Von Abdulhadi Hairan hat es einen zwei Jahre alten Bericht von der Ausweisstelle des Distrikts Qala-i-Zal, westlich von Imam Sahib.
@Janosch
Stimmt schon. Nach allem was man aus den Medien hört ist Imam Sahib ja auch noch ein zartes Pflänzchen. Eine Ausweitung der Kontrolle sollte eine geringere Frequenz der Anschläge zur Folge haben, so dass die Bevölkerung irgendwann auf solche Vorfälle mit einer gewissen Gleichgültigkeit reagiert (sprich: die Anschläge wirklich als Verzweiflungstat, nicht als Rückkehr der Taliban betrachtet).
Ich vermute, solange die Taliban als Organisation funktionieren, würde ihnen auch in einem stabilen Staat Afghanistan noch der ein oder andere Anschlag gelingen. Man muss wohl die Wahrhscheinlichkeiten verringern, so dass sich die Risiko-Kalkulationen der Bürger verändern. Von „Wenn ich mit ISAF/GIROA rede, werde ich garantiert getötet“ hin zu „Im Alltag könnten die Taliban zuschlagen, aber es ist unwahrscheinlich, dass es mich trifft.“. Dafür ist es wichtig, dass es den Taliban nicht möglich ist, Zeitpunkt und Ort der Anschläge frei zu bestimmen. Gibt es mal eine Explosion am Marktplatz, mal eine vor der Behörde lässt sich daraus wenig konkretes für die Bevölkerung ableiten. Explodiert jeden Mittwoch eine Bombe vor der Polizeistation, ist die Message eindeutig.
Ein faszinierender Punkt ist auch, wann eine Aufstandsbewegung besiegt ist. Da lassen sich wohl kaum verlässliche Vorhersagen treffen. Manche Insurgencies existieren noch Jahrzehnte auf kleiner Flamme weiter, nur um dann unvermittelt zu kollabieren. Oder zu erstarken, wenn sich die Bedingungen als günstig erweisen. (Persönlich ziehe ich aus alledem den Schluss: AFG erfolgreich zuende bringen, aber danach keine derartigen Operationen mehr beginnen.)
confirmed: 29 KIA AFG, 36 WIA Afg
1 ANA der Rest CIV
ich denke es war eine Demonstration der Macht und Kampfansage an ISAF und GIRoA, die Ernst zu nehmen ist.
@Benjamin: Guter Punkt.
Das mit dem „zukünftig nicht mehr machen“ ist halt immer so eine Sache. Der Wiederaufbau Afghanistans war ja nicht von langer Hand geplant. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir auch in Zukunft Staaten wieder aufbauen werden (müssen) ist ja doch relativ hoch. Ob das dann eine „fully fledged counterinsurgency“ würde ist in der Tat eher zu bezweifeln.
@ Benjamin | 21. Februar 2011 – 10:16
sehe ich persoenlich aehnlich; die zunehmende Anwendung von selektiver Gewalt durch freundliche SOF in Kunduz kann auch als Indikator fuer verbesserte Intel und Unterstuetzung der Bevoelkerung verstanden werden.
Dennoch 2 moegliche Einwaende zu Ihrem Argument:
a) kann INS-Gewalt gegenueber Zivilisten evtl. auch als ein Zeichen von Kontrollverlust der TBSL ueber ihre rank and file verstanden werden (vgl. Jeremy Weinstein’s Argument).
b) Bleibt die Wirkung nicht-diskriminierender Gewalt auf die Bevoelkerung noch wissenschaftlich umstritten; Jason Lyall’s Arbeit zu Russichen Artillerietaktiken in Tschetchenien kommt z.B. zu einem gegenteiligen Ergebnis als Kalyvas.
@ Janosch
In der Tat.. Die eurpäischen Armeen werden ja auch mehr oder weniger auf solche Ordnungs-Interventionen umgebaut. Am Rande Europas ist das vielleicht „machbarer“ als im fernen Afghanistan. Möglicherweise ist ein „Libyen-Einsatz“ der Bundeswehr ja schon in greifbare Nähe gerückt..
Aber diese ganzen State-Building-Interventionen stroßen immer wieder auf die gleichen Probleme, und ich sehe nicht, dass man überzeugende Antworten darauf gefunden hat. Und nur Bürgerkriege beenden, ohne eine nachhaltige Lösung herbeizuführen, klingt eher wie Ressourcenverschwendung.
Toller NZZ-Artikel dazu: http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/kosovos_gluecklose_baumeister_1.9562047.html
@UP
Danke für Lesetipps. Ich schau es mir mal an.
Manchmal wäre ein AugenGeradeaus-Forum echt nicht schlecht. Ich verliere die DIskussionen hier immer so schnell aus dem Auge, sobald neue Blog-Posts erscheinen.
Jean MacKenzie sieht die Selbstmordattentate nicht als Zeichen von Schwäche, sondern als abgedroschenen ISAF-Spin um eine sich verschlechternde Sicherheitslage zu kaschieren: Military newspeak: strong equals weak.
(Die Zahl der beim Anschlag in Imam Sahib Ermordeten wird mit 31 angegeben.)