Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland

Nachdem Deutschland und die USA am Rande des NATO-Gipfels vor gut einer Woche die – zunächst zeitweise – geplante Stationierung von US-Waffensystemen mit größerer Reichweite als bisher bekanntgegeben haben, haben Auswärtiges Amt und Verteidigungsministerium dem Bundestag die Absichten etwas näher erläutert. In der anlaufenden – oder sich zuspitzenden? – aktuellen Debatte in Deutschland werden allerdings die vorgesehenen Systeme gern durcheinandergeworfen.

Das gemeinsame Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretäre Siemtje Möller (Verteidigung) und Tobias Lindner (Auswärtiges Amt) an Außen- und Verteidigungsausschuss des Bundestages ist offensichtlich, knapp zehn Tage nach Veröffentlichung der Vereinbarung, die erste bekannte weitergehende Information für das Parlament. Aus allen Fraktionen hatte es Kritik gegeben, weil sich die Abgeordneten nur unzureichend eingebunden fühlten.

Zur Dokumentation das Schreiben vom (gestrigen) Freitag, über das zuerst der Spiegel berichtet hatte, im Wortlaut:

Sehr geehrte Vorsitzende,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
mit diesem Schreiben möchten wir Sie über den Hintergrund der jüngsten gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender konventioneller Waffensysteme in Deutschland informieren.
Russland hat in den vergangenen Jahren massiv im Bereich weitreichender Raketen und Marschflugkörper aufgerüstet. Das umfasst sowohl konventionelle, als auch nuklearfähige (dual-use) und nukleare Systeme. Diese Aufrüstung hat die Bundesregierung mehrfach auch öffentlich thematisiert und Russland zu einer Umkehr von diesen eskalatorischen Maßnahmen aufgefordert. Die Aufrüstung durch landgestützte Flugkörper mittlerer Reichweite wurde von Russland dabei unter Bruch des INF-Vertrags (Intermediate Nuclear Forces Treaty / deutsch: Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) vorangetrieben, was zum Ende des INF-Vertrags geführt hat. In den letzten Jahren hat Russland diese Aktivitäten noch einmal beträchtlich beschleunigt. Wir beobachten, dass Art und Umfang der massiven russischen Aufrüstung auch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus zur Aufstellung und Stärkung von gegen den Westen gerichteten Fähigkeiten und Kapazitäten genutzt werden. Mit diesen Waffen bedroht Russland die Länder Europas und hat zu verschiedenen Anlässen auch Drohungen ausgesprochen.
Die durch Russland bereits erfolgte Stationierung von bis weit nach Westeuropa reichenden, auch nuklear bestückbaren Flugkörpern sowie vorhandene multidimensionale Fähigkeiten und der russische Versuch, die Ukraine durch einen Angriffskrieg zu unterwerfen, bringen eine erheblich veränderte Bedrohungslage mit sich. Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslage hat die Bundesregierung 2023 in der Nationalen Sicherheitsstrategie angekündigt, die Luftverteidigung in Europa grundlegend zu verstärken und abstandsfähige Präzisionswaffen zu entwickeln und einzuführen.
Diese Ziele wurden von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 erneut bekräftigt. Eine entsprechende multinationale Initiative („European Long Range Strike Approach“ / ELSA) wurde am Rande des NATO- Gipfels in Washington, D.C. von den Verteidigungsministern Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Polens gezeichnet. Weitere Nationen haben ihr Interesse an der Initiative bekundet. Der grundlegenden Verstärkung der Luftverteidigung in Europa dient auch die von der Bundesregierung im August 2022 lancierte European Sky Shield Initiative (ESSI).
Auch die nun angekündigte, zunächst phasenweise Stationierung weitreichender konventioneller US-Waffensysteme in Deutschland dient dem von der Bundesregierung gesetzten Ziel der Stärkung der Abschreckung und Verteidigung in Reaktion auf die von Russland ausgehende Bedrohung . Mit der Stationierung weitreichender konventioneller US-Waffensysteme in Deutschland bekräftigen die US-amerikanische Regierung und die Bundesregierung gemeinsam erneut die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft für die Verteidigung Europas. Diese Systeme tragen zu einer effektiven und glaubwürdigen Abschreckung und zum Schutz Deutschlands und seiner Verbündeten bei.
Konkret ist beabsichtigt, dass die USA bestimmte Einheiten (Multi-Domain Task Force) in Deutschland ab 2026 mit weitreichenden konventionellen Waffensystemen ausstatten werden. Diese Stationierung soll zunächst zeitweise und im Rahmen von Übungen als Teil der Vorbereitung einer dauerhaften Stationierung erfolgen. Diese Waffensysteme werden über eine deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen. Dies bedeutet eine erhebliche Steigerung der notwendigen Fähigkeiten in Europa.
Die USA beabsichtigen die Verlegung mehrerer Systeme. Hierzu gehören Tomahawk- Marschflugkörper , SM-6-Raketen sowie Systeme, die sich mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit (Hyperschall) bewegen können . Genaue Zahlen, Zusammensetzungen und Stationierungsorte sind derzeit noch in der Planung.
Bei all dem bleibt die Bundesregierung in ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik dem Erhalt und der Weiterentwicklung der globalen Rüstungskontrollarchitektur sowie der Reduzierung von Risiken und der Prävention von Eskalation verpflichtet.
Die Bundesregierung hat, zusammen mit den europäischen und amerikanischen Verbündeten, Russland in den vergangenen Jahren mehrfach aufgefordert, keine Mittelstreckensysteme zu entwickeln und zu stationieren und ihre Gesprächsbereitschaft signalisiert. Seitdem hat Russland weitere bodengestützte Mittelstreckensysteme entwickelt und nutzt einige davon in der Ukraine. Russland ist bis heute nicht bereit, diese Systeme abzurüsten und bedroht Europa durch Waffen dieser Art.
Effektive und verifizierbare Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung tragen komplementär zu Abschreckung und Verteidigung zur Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten bei. Die NATO bekennt sich zudem weiterhin dazu, Kommunikationskanäle mit Moskau aufrechtzuerhalten, um Risiken einzudämmen und Eskalation vorzubeugen,
so zuletzt auch in der Erklärung des NATO-Gipfels in Washington, D.C. dargelegt.
Wir werden Sie über die weiteren Entwicklungen informiert halten. Für Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Einen Tag nach diesem Schreiben meldete sich SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit deutlicher Kritik an der Vereinbarung und der Planung für die Stationierung zu Wort. Da meist nur die Nachrichten-Fassungen kursieren, hier der Wortlaut der entsprechenden Passage aus dem am (heutigen) Samstag veröffentlichten Interview der Funke-Mediengruppe (ich hoffe, die Kollegen sehen mir angesichts der politischen Bedeutung das ausführliche Zitat nach):

Frage: Der Kanzler will zulassen, dass amerikanische Raketen mit erheblicher Reichweite in Deutschland stationiert werden. Wie finden Sie das?
Mützenich: Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden. Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich.
Frage: Wollen Sie sagen, die US-Raketen machen Deutschland unsicherer?
Mützenich: Ich will die Bedrohung durch Russland überhaupt nicht ignorieren. Gleichwohl verfügt die Nato auch ohne die neuen Systeme über eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit. Mir erschließt sich auch nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden.

Es gäbe da ein paar Fragen, die sich aufdrängen – unter anderem, warum offensichtlich die Ankündigung der Bundesregierung in der deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie 2023, Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie
abstandsfähige Präzisionswaffen befördern, bislang nicht entsprechende Kritik hervorgerufen hat. Oder ob die ebenfalls am Rande des NATO-Gipfels verkündete Vereinbarung von Deutschland, Frankreich, Polen und Italien zur Europäischen Kooperation bei weitreichenden Abstandswaffen (Deep Precision Strikes) genauso abzulehnen ist wie die Vereinbarung mit den USA.

Vielleicht kommen solche Punkte in der Debatte ja noch zur Sprache. Allerdings, darüber haben wir in der Geburtstagsfolge des Podcasts Sicherheitshalber gesprochen, scheint da nicht so große Diskussionslust anhand solcher Fakten.

(Archivbild Mai 2024: Übung einer Multi Domain Task Force der U.S. Army auf den Philippinen, hier mit dem HIMARS-Raketenwerfer, der wie die geplanten SM-6 und Tomahawk-Marschflugkörper zum Arsenal dieser Task Forces gehört – U.S. Marine Corps photo by Cpl. Kyle Chan)