Mängelbericht der Wehrbeauftragten: Trotz Kriegs in Europa Probleme mit Beschaffung und Attraktivität (Neufassung)

Trotz der zunehmenden Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung und bereitgestellter Milliardensummen hat sich die Ausstattungs- und Personalsituation der Bundeswehr im vergangenen Jahr kaum verbessert. Die Bundeswehr hat von allem zu wenig, und sie hat seit dem 24. Februar 2022 noch weniger, beklagte die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, in ihrem Bericht für das vergangene Jahr. Mit zusätzlichem Geld wie dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr könne sich die Lage bessern, allerdings liefen die Verfahren für Beschaffungen oder Infrastruktur nach wie vor zu behäbig ab.

 

Der Bericht, den die Wehrbeauftragte am (heutigen) Dienstag in Berlin vorstellte, war wie schon in den Jahren zuvor erneut ein Mangelbericht, wenn auch diesmal unter dem Eindruck eines Krieges in Europa. Die Bundeswehr sei zwar im Zusammengehen mit NATO-Verbündeten verteidigungsfähig, sagte Högl. Aber sie ist nicht voll einsatzbereit.

Ein wesentlicher Grund ist der Mangel an einsatztauglichem und einsatzbereiem Gerät: Ich kann deutlich sagen, dass es kein größeres Gerät gibt, dass es nicht in höherer Stückzahl und höherem Klarstand geben sollte.

Vor allem bei dessen Beschaffung, mahnte Högl, könne die Bundeswehr nicht weitermachen wie vor dem 24. Februar vergangenen Jahres. Von dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sei im vergangenen Jahr noch kein Euro und kein Cent ausgegeben worden. Sie hoffe aber darauf, dass in den vergangenen Monaten beschlossene Verfahrensbeschleunigungen dazu führten, dass Material nicht nur schneller als bisher eingekauft werden könne – sondern auch an die Ukraine abgegebenes Gerät zügig wiederbeschafft werde.

Als ein Negativbeispiel wird im 170-Seiten-Bericht der Wehrbeauftragten die Beschaffung eines eines Fliegerhelms mit ballistischem Schutz aufgeführt, der marktverfügbar ist und bei den US-Streitkräften seit rund 30 Jahren genutzt wird. An dessen Einführung arbeitet die Bundeswehr seit 2013:

Der Grund für den über zehnjährigen Beschaffungsprozess liegt nach Angaben des Verteidigungsministeriums im Verfahren: Zunächst hätten die Forderungen an den Helm mit den Bedarfsträgern von Heer, Luftwaffe und Marine abgestimmt werden müssen. Nach der Projektierung inklusive der Erstellung der haushaltsbegründenden Dokumente und der Bereitstellung von Haushaltsmitteln sei das Vergabeverfahren gefolgt. Als besonders zeitraubend habe sich dann erwiesen, dass der Fliegerhelm als Luftfahrtgerät der Musterprüfung unterliege und deshalb die Durchführung einer luftfahrtrechtlichen Musterzulassung notwendig gewesen sei. Diese sei aufgrund der erforderlichen Nachweisführung für sieben verschiedene Hubschraubermuster sehr komplex und umfangreich ausgefallen. Im Oktober 2022 wurde die Musterzulassung erteilt, und ab dem dritten Quartal 2023 soll die Bereitstellung der Standardfliegerhelme für die
Besatzungen folgen.

Es hakt aber nicht nur an der Beschaffung. Neben den Investitionen in neues Material müssten auch die ganzen Verfahren bei der Instandsetzung von Gerät oder der Infrastruktur schneller als bisher funktionieren, sagte die Wehrbeauftragte. Nicht nachvollziehbar sei, warum für andere, als Folge des Kriegs in der Ukraine neu bewertete Vorhaben wie neue LNG-Terminals die Verfahren beschleunigt werden konnten – für die notwendigen Investitionen in die Bundeswehr dagegen bisher nicht. Für Kasernen in einem erbärmlichen Zustand gebe es einen Sanierungsbedarf von rund 50 Millarden Euro, aber die zuständigen Landesbauämter könnten davon – in allen Bundesländern zusammengerechnet – nur eine Milliarde Euro pro Jahr auch abarbeiten. Das von Bundeskanzler Olaf Scholz angemahnte Deutschland-Tempo müsse deshalb auch hier Wirklichkeit werden, sagte Högl.

Der Stau bei der Beschaffung von Ausrüstung und Gerät, aber auch unsanierte Kasernen ohne WLAN in der Stube und mit verschimmelten Duschen, wie die Wehrbeauftragte beklagte, hat auch direkte Auswirkungen auf den Mangel an Personal. Im vergangenen Jahr wurden zwar mehr Soldatinnen und Soldaten eingestellt, sagte die Wehrbeauftragte. Zugleich liege aber die Abbrecherquote innerhalb der ersten sechs Monate bei 21 Prozent – im Durchschnitt. Und die Zahl der Bewerbungen habe mit 43.900 im vergangenen Jahr um elf Prozent abgenommen. Das sei eine Folge mangelhafter Attraktivität, die wiederum von Materialmangel und schlechter Infrastruktur geprägt sei.

Dabei hätten die Soldaten und Soldatinnen der deutschen Streitkräfte seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine viel mehr das Gefühl bekommen, dass sie gebraucht würden, sagte Högl. Die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung sei zwar seit der russischen Annexion der Krim 2014 immer wieder hervorgehoben worden, aber eher theoretisch. Das hat sich seit dem 24. Februar grundlegend geändert und auch das Selbstbewusstsein der Soldat*innen gestärkt – dennoch werde die Stimmung durch den Frust angesichts fehlenden oder mangelhaften Geräts eingeschränkt.

Den Bericht der Wehrbeauftragten gibt es hier (Bundestagsdrucksache 20/5700); und dazu Högls komplette Pressekonferenz zum Nachhören:

Wehrbeauftragte_Hoegl_BPK_14mar2023     

 

(Archivbild Juli 2022: Die Wehrbeauftrage bei der Firma Diehl Defence in Überlingen am Bodensee, Hersteller unter anderem des Luftverteidigungssystems Iris-T SLM, mit Harald Buschek, Mitglied der Geschäftsführung – Foto Diehl Defence)