Ukraine/Russland/NATO – der Sammler am 3. April 2022 (Update: Russland zu Bucha)

Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scheint eine weitere Front eröffnet: In Orten rund um die Hauptstadt Kiew, aus denen russische Truppen sich zurückgezogen haben oder vertrieben wurden, gibt es zunehmend Hinweise auf Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen russischer Soldaten. Die Kämpfe vor allem im Osten halten an. Der Sammler am 3. April 2022:

• Nachdem Ortschaften rund um Kiew wieder unter Kontrolle der Ukrainer gekommen sind, wurden dort ermordete – angesichts der Berichte über und Bilder von gefesselten und dann getöteten Zivilisten drängt sich dieser Begriff auf – Ukrainer gefunden, die zur zivilen Bevölkerung gehörten und keine Kombattanten waren. Die Berichte beruhen, das ist bedeutsam, nicht allein auf ukrainischen Angaben.

Aus dem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch:

Human Rights Watch has documented several cases of Russian military forces committing laws-of-war violations against civilians in occupied areas of the Chernihiv, Kharkiv, and Kyiv regions of Ukraine. These include a case of repeated rape; two cases of summary execution, one of six men, the other of one man; and other cases of unlawful violence and threats against civilians between February 27 and March 14, 2022. Soldiers were also implicated in looting civilian property, including food, clothing, and firewood. Those who carried out these abuses are responsible for war crimes.
“The cases we documented amount to unspeakable, deliberate cruelty and violence against Ukrainian civilians,” said Hugh Williamson, Europe and Central Asia director at Human Rights Watch. “Rape, murder, and other violent acts against people in the Russian forces’ custody should be investigated as war crimes.”

Internationale Medien berichten vor allem aus Bucha bei Kiew, wo hunderte Bewohner von russischen Truppen getötet worden sein sollen. Aus dem Bericht von Reuters:

Dead civilians still lay scattered over the streets of the Ukrainian country town of Bucha on Saturday, three days after the invading Russian army pulled back from its abortive advance on Kyiv to the southeast. (…)
Residents said they had been killed by the Russian troops during their month-long occupation. (…) Bucha’s still-unburied dead wore no uniforms. They were civilians with bikes, their stiff hands still gripping bags of shopping. Some had clearly been dead for many days, if not weeks.

Das sind alles nur Momentaufnahmen, und auch nur aus einer Region, die inzwischen für westliche Journalisten wieder zugänglich ist. Die Berichte und vor allem die Bilder könnten allerdings auf die Stimmung und damit die politische Haltung im Westen Auswirkungen haben, auch wenn noch längst nicht alles nachprüfbar und belegt ist.

Ergänzung: Diese Tweets von Außenministerin Annalena Baerbock sind deswegen bedeutsam, weil sie quasi offiziell eine deutsche Einschätzung der Geschehnisse in Bucha und anderen Orten widergeben (ob und welche Konsequenzen das hat, ist dann wieder eine andere Frage):

Nachtrag: Die Bundesregierung veröffentlichte am Sonntagnachmittag dazu eine Stellungnahme von Bundeskanzler Olaf Scholz – im Wortlaut:

Furchtbare und grauen-erregende Aufnahmen haben uns an diesem Wochenende aus der Ukraine erreicht. Dutzende erschossene Zivilisten sind in Butscha entdeckt worden, einem Gebiet nördlich von Kiew, das bis vor wenigen Tagen vom russischen Militär kontrolliert worden ist. Straßen übersät mit Leichen. Notdürftig verscharrte Körper. Es ist von Frauen, Kindern und Alten die Rede, die unter den Opfern sind.
Diese Verbrechen des russischen Militärs müssen wir schonungslos aufklären. Ich verlange, dass internationale Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Zugang erhalten zu diesen Gebieten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren. Die Täter und ihre Auftraggeber müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Krieg in der Ukraine befindet sich in der sechsten Woche – tausende unschuldige Ukrainerinnen und Ukraine sind ihm schon zum Opfer gefallen. Und das Töten geht unvermindert weiter. Ich fordere Russland auf, endlich in einen Waffenstillstand einzuwilligen und die Kampfhandlungen einzustellen. Es ist ein furchtbarer, ein sinnloser und ein durch nichts zu rechtfertigender Krieg, der viel Leid erzeugt und niemandem nutzt. Er muss aufhören.

Nicht im veröffentlichten Statement, aber vor TV-Kameras ergänzte Scholz diese Aussage:

(Die russische Reaktion aus Gründen der Übersichtlichkeit unten angehängt)

• Das britische Intel Update (bereits am gestrigen Samstagabend so veröffentlicht und am Sonntag wortgleich):

Over the last week, there has been a concentration of Russian air activity towards south eastern Ukraine, likely a result of Russia focusing its military operations in this area.
Despite ongoing Russian efforts to diminish Ukrainian air defence capability, Ukraine continues to provide a significant challenge to Russian Air and Missile operations. As a result, Russian aircraft are still vulnerable to short and medium range air defence systems.
Russia’s inability to find and destroy air defence systems has seriously hampered their efforts to gain broad control of the air, which in turn has significantly affected their ability to support the advance of their ground forces on a number of fronts.

• Das Morgenbriefing des ukrainischen Generalstabs (darin noch nicht enthalten Meldungen über angebliche neue Raketenangriffe auf Odessa am Sonntagmorgen):

The thirty-ninth day of the heroic resistance of the Ukrainian people to the russian military invasion began.
The armed forces a russian federation continue their armed aggression against Ukraine. The russian occupation troops are being withdrawn in some areas.
According to available information, the moral and psychological condition of a russian enemy personnel and the level of motivation remains extremely low. Commanders of various levels of the 3rd Motorized Rifle Division of the 20th All-Military Army of the Western Military District refuse to take part in hostilities. In addition, the military is writing massive reports of dismissals.
Personnel of the 2nd Battalion Tactical Groups of the 4th Military Base of the 58th All-Military Army of the Southern Military District refused to take part in hostilities on the territory of Ukraine. It is planned to return them to the points of permanent deployment.
To restore the loss of personnel, the russian leadership is campaigning for civilians to join the armed forces. Such activities are held both in the russian federation and in the temporarily occupied territories of Donetsk, Luhansk oblast and the temporarily occupied Autonomous Republic of Crimea.
Systematic violations of the requirements of International Humanitarian Law on the conduct of war continue. The russian occupiers continue to deploy weapons and military equipment in the immediate vicinity of the housing infrastructure of settlements, carry out filtration measures in temporarily occupied territories, commit violence against local residents, engage in looting and plundering.
On the territory of Donetsk and Luhansk oblasts, the defenders of Ukraine repulsed six enemy attacks, destroyed four tanks, six units of armoured vehicles and seven units of enemy vehicles.
The Air Force of the Armed Forces of Ukraine has hit 8 air targets the previous day: two planes, one helicopter, one UAV and four cruise missiles. Aircraft of the Air Force of the Armed forces of Ukraine continued to strike at enemy ranges, military equipment columns, and logistics centres.

• Das Morgenbriefing des russischen Verteidigungsministeriums (mit Angaben zu den neuen Angriffen auf Odessa):

Heute Morgen zerstörten hochpräzise see- und luftgestützte Raketen eine Ölraffinerie und drei Lager für Treib- und Schmierstoffe in der Nähe der Stadt Odessa, von denen aus eine Gruppe ukrainischer Truppen in Richtung Nikolaev mit Treibstoff versorgt wurde.
Russische Luftabwehrkräfte schossen zwei ukrainische unbemannte Flugzeuge in der Nähe der Dörfer Kudrjaschowka und Schurowka ab.
In der Nacht trafen die operativen und taktischen Flugzeuge der russischen Luftwaffe 51 ukrainische Militäreinrichtungen. Darunter: vier Gefechtsstände, zwei Abschussvorrichtungen für das Boden-Luft-Raketensystem Osa-AKM in der Nähe der Ortschaften Barwenkowo und Sloviansk, zwei Artilleriebatterien, zwei Mehrfachraketenwerfer, vier Felddepots für Raketen- und Artilleriewaffen und Munition in der Nähe der Ortschaften Konstantinowka und Krestischte sowie 32 Festungen und Gebiete, in denen die militärische Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte konzentriert ist.
Seit Beginn der speziellen Militäroperation wurden insgesamt 125 Flugzeuge und 88 Hubschrauber, 383 unbemannte Luftfahrzeuge, 221 Boden-Luft-Raketensysteme, 1.903 Panzer und andere gepanzerte Kampffahrzeuge, 207 Mehrfachraketenwerfer, 805 Stück Feldartillerie und Mörser sowie 1.781 Stück spezielle militärische Fahrzeugausrüstung zerstört.

Update: Das russische Verteidigungsministerium nahm zu den Berichten über russische Gräueltaten in Bucha bei Kiew Stellung – und bezeichnete sie durchgängig als Fälschung (Übersetzung durch die auf Deutsch von der russischen Botschaft in Berlin veröffentlichte Fassung ersetzt):

Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums zur Provokation des Kiewer Regimes in Butscha
Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation dementiert Anschuldigungen des Kiewer Regimes wegen angeblicher Tötungen von Zivilisten in Butscha (Region Kiew).
Bei allen vom Kiewer Regime veröffentlichten Foto- und Videoaufnahmen, die angebliche „Verbrechen“ russischer Soldaten in Butscha (Region Kiew) beweisen sollen, handelt es sich um eine weitere Provokation.
Während die Stadt unter Kontrolle der russischen Streitkräfte stand, war kein einziger Einwohner von jeglicher Misshandlung betroffen. Russische Soldaten brachten und teilten 452 Tonnen humanitäre Hilfe an die Zivilbevölkerung in der Region Kiew aus.
Während die Stadt unter Kontrolle der russischen Streitkräfte stand, erst recht danach und bis zum heutigen Tag konnten sich die Einwohner von Butscha frei in der Stadt bewegen und den Mobilfunk nutzen.
Die Ausfahrten aus Butscha wurden nicht blockiert. Alle Einwohner konnten die Stadt frei Richtung Norden, auch Richtung Republik Belarus verlassen. Gleichzeitig wurden die südlichen Stadtteile, darunter auch Wohngebiete, rund um die Uhr von ukrainischen Truppen aus großkalibriger Artillerie, Panzern und Mehrfachraketenwerfern beschossen.
Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass alle russischen Truppen sich bereits am 30. März, am Tag nach den Präsenz-Gesprächen Russlands und der Ukraine in der Türkei, aus Butscha komplett zurückgezogen haben.
Am 31. März wurde zudem vom Bürgermeister von Butscha Anatoly Fedoruk in einer Videobotschaft bestätigt, dass sich keine russischen Truppen in der Stadt aufhielten. Dass Leichen von erschossenen Einheimischen mit zusammengebundenen Händen auf der Straße liegen würden, wurde von ihm jedoch keinesfalls angesprochen.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass alle so genannten „Beweise für Kriegsverbrechen“ in Butscha erst am 4. Tag auftauchten, als Beamte des ukrainischen Sicherheitsdienstes und ukrainische TV-Medien in der Stadt eintrafen.
Besonders besorgniserregend ist es, dass alle Leichen, deren Bilder vom Kiewer Regime veröffentlicht wurden, nach mindestens vier Tagen nicht erstarrten, keine charakteristischen Leichenflecke hatten und in den Wunden nicht geronnenes Blut aufwiesen.
All das bestätigt unwiderlegbar, dass es sich bei den Foto- und Videoaufnahmen aus Butscha um eine weitere Inszenierung des Kiewer Regimes für westliche Medien handelt, so wie es auch mit der Geburtsklinik in Mariupol und in anderen Städten der Fall war.

• Separat von der Erklärung zu Bucha das Abendbriefing des russischen Verteidigungsministeriums:

Units of Donetsk People’s Republic troops, continuing their offensive, are fighting near Novobakhmutivka and Troitskoe.
The retreating units of the Ukrainian 25th Airborne Brigade suffered heavy losses near Novoselovka as a result of an artillery strike. More than 40 personnel and 7 units of equipment were destroyed.
The Armed Forces of the Russian Federation strike at the assets of the military infrastructure of Ukraine.
High-precision air-based missiles have destroyed large fuel depots in Kostantinovka, Nikolaev region and Slavuta, Rovno region, as well as in Ternopol. These facilities were used to supply fuel for Ukrainian troops in Nikolaev and Donetsk directions.
The strike on Balovnoe airfield, on the outskirts of Nikolaev, destroyed an aircraft park and a fuel storage facility.
The strike on Vasylkov military airfield in Kiev Region has knocked out the Airborne Warning and Control Centre and Air Defence of the Ukrainian Air Force.
During the day, operational-tactical and army aviation hit 42 military assets of Ukraine.
Among them: 3 anti-aircraft missile launchers, including 1 Buk-M1 and 2 Osa-AKM, 1 artillery battery, 2 multiple rocket launchers, 2 field depots of missile-artillery weapons and ammunition, as well as 8 strong points and areas of concentration of Ukrainian weapons and military equipment.
Russian Air Defence means shot down 3 Ukrainian unmanned aerial vehicles in the air near Krasnogorka and Grabovskoe.
In total, 386 unmanned aerial vehicles, 224 anti-aircraft missile systems, 1,918 tanks and other armored combat vehicles, 209 multiple launch rocket systems, 814 field artillery and mortars, as well as 1,789 units of special military vehicles of the Armed Forces of Ukraine were destroyed during the operation.

• Das Abendbriefing des ukrainischen Generalstabs:

russian invaders continue to conduct full-scale armed aggression against Ukraine. There is a connection with the beginning of the withdrawal of units of the Armed Forces of the russian federation from the Sumy region. Probably, the russian enemy, having not achieved the goal of the operation in some areas, decided to abandon the offensive in the Siversky and, in part, Slobozhansky directions.
The withdrawal of units of the occupying forces to the territory of belarus is coming to an end in the Siversky region. Any control, including radiation, by border guards of the republic of belarus is not carried out. The occupiers continue to export looted vehicles and other property from Ukraine to the republic of belarus without hindrance.
The situation in the Slobozhansky direction did not change significantly during the day.
In the Donetsk direction, the russian enemy is taking measures to regroup and strengthen the existing troops. Thus, the transfer of some units from the 37th separate assault brigade (Chernyakhovsk, Kaliningrad region) to the territory of Donetsk and Luhansk regions is confirmed.
The russian enemy continues to suffer losses in manpower and military equipment. Thus, in the area of the city of Kharkiv, thanks to the successful actions of units of the Armed Forces of Ukraine, a motorized infantry company from the 59th Tankr Regiment suffered significant losses.
It was established that the losses of this unit amounted to almost 80 percent of the personnel.
Due to significant personnel losses, about 25 servicemen of the 31st Separate Assault Brigade from Ulyanovsk refused to take part in the war with Ukraine and wish to resign.
In addition, Deputy Commander of the 83rd Separate Assault Brigade, Lieutenant Colonel Vitaliy Slabtsov, russian, was eliminated.
The enemy’s violation of international humanitarian law is confirmed daily by numerous civilian casualties in the liberated settlements. All facts are documented and submitted to international judicial institutions. War crimes do not have a statute of limitations, so justice is inevitable.

Nachtrag: Angesichts der – auch hier – kursierenden falschen Behauptungen, die Ukraine habe internationalen Journalisten den Zugang zu Bucha und anderen Orten verwehrt, ein kurzer Hinweis auf die aktuelle Berichterstattung von AP:

Bodies with bound hands, close-range gunshot wounds and signs of torture lay scattered in a city on the outskirts of Kyiv after Russian soldiers withdrew from the area. Ukrainian authorities accused the departing forces on Sunday of committing war crimes and leaving behind a “scene from a horror movie.” (…)
Associated Press journalists saw the bodies of at least 21 people in various spots around Bucha, northwest of the capital. One group of nine, all in civilian clothes, were scattered around a site that residents said Russian troops used as a base. They appeared to have been killed at close range. At least two had their hands tied behind their backs, one was shot in the head, another’s legs were bound.