Ukraine/Russland/NATO – Zur Lage 23./24. Februar 2022

Angesichts der zahlreichen Ukraine-Liveblogs in praktisch allen Medien gab’s hier die letzten Tage keinen Sammler – es machte keinen Sinn, das alles zu doppeln. Jetzt kommt allerdings weitere Dynamik rein: Am (heutigen) Mittwochabend meldete die russische Agentur RIA unter Berufung auf den Kreml, die beiden neu von Russland als selbständig anerkannten Republiken in der Ost-Ukraine hätten Moskau um Hilfe gegen eine ukrainische Aggression gebeten.

• Aus der Meldung von RIA, 23.50 Moskauer Zeit (21:50 MEZ):

Die Oberhäupter der Donezker Volksrepublik, Denys Puschylin, und der Luhansker Volksrepublik, Leonid Pasechnik, haben den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Hilfe bei der Abwehr der Aggression der ukrainischen Streitkräfte gebeten, um zivile Opfer zu vermeiden und eine humanitäre Katastrophe im Donbass zu verhindern, so der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow….
Unter den Bedingungen der anhaltenden militärischen Aggression durch die ukrainischen Streitkräfte werden in den Republiken zivile und industrielle Infrastrukturen, Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten zerstört, und das Schlimmste ist, dass Zivilisten, darunter auch Kinder, sterben.

Die rechtlichen Voraussetzungen – aus russischer Sicht – für einen Einsatz russischer Truppen in den beiden selbsternannten Republiken waren bereits in den vergangenen Tagen mit der Anerkennung als souveräne Staaten durch Putin und die Ratifizierung von Freundschafts- und Beistandsverträgen geschaffen worden; außerdem hatte der Russische Förderationsrat einem Militäreinsatz grundsätzlich zugestimmt.

Die russische Agentur TASS zeigte in ihrem Bericht Fotos der Briefe – die nach dem darauf verzeichneten Datum bereits am (gestrigen) Dienstag, 22. Februar, ausgefertig wurden:

• Am Mittwochabend hatte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter von der Evakuierung einer Chemiefabrik auf der Krim nahe des von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebietes berichtet:

Bereits im Laufe des Tages hatten Bilder und Videos auf sozialen Medien sowie Satellitenaufnahmen darauf hingedeutet, dass erneut umfangreiche Bewegungen russischer Truppen in Richtung Ukraine stattfanden.

• Die Beobachtermission der OSZE, die Special Monitoring Mission, legte am Abend ihren Bericht für den (heutigen) 23. Februar vor: Von russisch unterstützen Separatisten wurden die Beobachter aggressiv an ihrer Arbeit gehindert. Dabei war auch ein Uniformierter mit russischen Abzeichen zu sehen. Der Bericht hier:

OSCE SMM Spot Report 7/2022: Members of the armed formations threatened an SMM patrol and seized UAV equipment near Rodakove, Luhansk region

• Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj richtete sich am Mittwochabend in einer Ansprache auch, auf Russisch, an Russland. Aus der Übersetzung von Anton Troianovski, dem Büroleiter der New York Times in Moskau:

Zelensky addressing the Russian people in Russian now:
“Today I initiated a phone call with the president of the Russian Federation. The result was silence, though the silence should be in the Donbas. As a result I want to address all citizens of Russia…
„We are separated by more than 2000 km of mutual borders, along which 200,000 of your soldiers and 1,000 armored vehicles are standing. Your leadership has approved their step forward onto the territory of another country. This step could become the beginning of a big war…
„The cause could come up at any moment, any provocation, any spark, a spark that could burn everything down. You are told that this flame will liberate the people of Ukraine, but the Ukrainian people are free. …
“You are told we are Nazis, but how can a people support Nazis that gave more than 8 million lives for the victory over Nazism? How can I be a Nazi? Tell my grandpa, who went through the whole war in the infantry of the Soviet Army and died as a colonel in independent Ukraine.”
“You are told we hate Russian culture. How can one hate a culture? … Neighbors always enrich each other culturally, however, that doesn’t make them a single whole, it doesn’t dissolve us into you. We are different, but that is not a reason to be enemies. …
„Listen to the voice of reason. The people of Ukraine want peace, the authorities in Ukraine want peace, they want it and are doing everything they can for it. … We don’t need war. …
„But if we are attacked, if someone attempts to take away our land, our freedom, our lives, the lives of our children, we will defend ourselves. We won’t attack, but defend ourselves. By attacking, you will see our faces, not our backs, but our faces.”
War means “pain, mud, blood and the death of thousands — tens of thousands of deaths. You are told that Ukraine is a threat to Russia. It was not in the past, it is not now, and it won’t be in the future.”
“War will remove guarantees from everyone. No one will have security guarantees any more. Who will suffer most of all from this? People. Who wants this the least? People. Who can not allow this to happen? People. There are these people among you, I’m sure of it. …
“I know this speech of mine won’t be shown on Russian TV, but the people of Russia need to see it. They need to know the truth. The truth is that this must be stopped before it is too late, and if the leadership of the Russia…
„… does not want to sit down at a table for peace with us, then maybe it will sit down at a table with you. Do Russians want war? I would very much like to answer this question. But the answer depends only on you — the citizens of the Russian Federation.”

• Zunehmend wird der Luftraum über Teilen der Ukraine und Russlands gesperrt – von beiden Ländern. Nachdem die Ukraine die Flughäfen Kharkiv und Dnipro als geschlossen gemeldet hatte, veröffentlichte die russische Flugsicherung ein NOTAM (Notice to Airmen) mit Sperrung des Luftraums auf russischer Seite an der Grenze zur Ukraine.

Angeblich, so berichten ukrainische Medien, wurden auf den geschlossenen Flughäfen die Landebahnen mit Traktoren blockiert, um die Landung russischer Flugzeuge zu erschweren.

Update: Und dann ist es am Morgen des 24. Februar tatsächlich zu dem Angriff gekommen. Die Entwicklung überschlägt sich, ohnehin berichten alle Medien in sondersendungen und Live-Blogs. Gerne in den Kommentaren – möglichst sachbezogen – weiter sammeln; ich werde voraussichtlich frühestens am Nachmittag mal versuchen zu sortieren.

• In den Kommentaren bereits erwähnt: Heeresinspekteur Alfons Mais hat sehr deutlich Stellung genommen, in einem Beitrag auf LinkedIn:

Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa.
Gestern haben wir im Heer einen „Tag der Werte“ durchgeführt. Im Kern stand die Frage „wofür dienen wir?“ Nie war es einfacher der Generation, die den Kalten Krieg nicht mehr erlebt hat, das zu verdeutlichen.
Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen.
Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können sind extrem limitiert.
Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen. Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!
Noch ist NATO Territorium nicht direkt bedroht, auch wenn unsere Partner im Osten den konstant wachsenden Druck spüren.
Wann, wenn nicht jetzt ist der Zeitpunkt, Den Afghanistaneinsatz strukturell und materiell hinter uns zunlassen und uns neu aufzustellen, sonst werden wir unseren verfassungsmässigen Auftrag und unsere Bündnisverpflichtungen nicht mit Aussicht auf Erfolg umsetzen können.