Lesestoff zur Lage in Afghanistan: Nicht nur die westlich-militärische Sicht
Die Debatte über die Lage Afghanistan wird hierzulande, aber ebenso in den USA und allen NATO-Ländern, überwiegend aus westlicher Sicht geführt – siehe die aktuelle Übersicht hier. Ergänzend ist deshalb auch ein Blick auf die Lage am Hindukusch jenseits der überwiegend innenpolitisch geprägten Debatte hierzulande wichtig. Dazu ein wenig aktueller Lesestoff:
• Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan, UNAMA, hat am (heutigen) Montag einen Bericht zu den zunehmenden Angriffen auf Journalisten und Menschenrechtsaktivisten vorgelegt. Die jüngste Bilanz:
The period following the start of Afghanistan Peace Negotiations in September 2020 has witnessed a sharp and chilling number of killings of human rights defenders and media professionals in Afghanistan. (…)
No fewer than 11 human rights defenders and media workers were killed in targeted attacks in Afghanistan from the 12 September 2020 start of peace negotiations through to 31 January 2021. This trend, combined with the absence of claims of responsibility, has generated a climate of fear among the population.
Human rights and media space has contracted as a result, with many professionals exercising self-censorship in their work, quitting their jobs, and leaving their homes and communities with hopes it will improve their safety. Many, including high profile personalities, have fled the country. The killings have had the broader impact across society of also diminishing expectations around efforts towards peace.
Der komplette Bericht:
Special Report: Killing of Human Rights Defenders and Media Professionals in Afghanistan 2018 – 2021
• Die New York Times berichtet über die Lage im Land, vor allem über die Auswirkungen auf die Bevölkerung:
The Taliban Close In on Afghan Cities, Pushing the Country to the Brink
Und gleich zu Beginn werden Ortsnamen genannt, die in Deutschland nicht unbekannt sind:
The Taliban have been encroaching on key cities around Afghanistan for months, threatening to drive the country to its breaking point and push the Biden administration into a no-win situation just as the United States’ longest war is supposed to be coming to an end.
Around the northern city of Kunduz, despite the winter’s fierce cold, the Taliban have taken outposts and military bases, using small armed drones to terrorize Afghan troops. In neighboring Pul-i-Khumri, they have seized important highways in a stranglehold of the city, threatening main lifelines to Kabul, the country’s capital.
• Das United States Institute for Peace hat einen Bericht vorgelegt, der die nationalen Interessen der USA in Afghanistan und mögliche Wege zu einer Friedenslösung beleuchtet. Einer der Co-Autoren ist der pensionierte US-General Joseph Dunford, ehemaliger ISAF-Kommandeur und früher Chairman of the Joint Chiefs of Staff:
Afghanistan Study Group Final Report, February 2021
(Grafik: Übersicht über Anschläge auf Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, aus dem UNAMA-Bericht)
In dem Zusammenhang vielleicht interessant eine Studie der angesehenen afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok zur territorialen Kontrolle in AFG: in jedem der 422 afghanischen Distrikte (inkl. temporäre) haben sie drei Personen nach den Machtverhältnissen im Distrikt befragt – insgesamt 1266 Personen. Demnach kontrollieren die Taliban 52 % der Fläche des Landes, während 59 % der Bevölkerung in regierungskontrolliertem Gebiet leben (https://pajhwok.com/2021/02/12/govt-taliban-make-exaggerated-claims-of-territory-they-control/).
turan saheb, 15.02.2021 um 22:03 Uhr
Also wurden zu dem Sachverhalt: „Wer hat die Macht im Distrikt?“ jeweils 3 Personen befragt.
Das ist nicht repräsentativ.
Jetzt können wir natürlich lange über die Anlage der Befragung und die Repräsentativität streiten – und natürlich ist eine landesweite Befragung mit 1.266 Befragten repräsentativ, wenn man auf die Zahlen abhebt. Aber es dürfte ja eher um eine Gesamtübersicht des Landes gehen, nicht um die Frage „wie viel Prozent der Bevölkerung in einem Distrikt sind der Meinung, dass…“ Und eine Statistik von Resolute Support oder so ist nach der Argumentation gar nicht repräsentativ, weil da genau 1 befragt wird, nämlich der kommandierende General ;-)
Insofern die dringende Bitte, das jetzt nicht zum Schwerpunkt zu machen.
T.Wiegold 16.02.2021 um 9:18 Uhr
„und natürlich ist eine landesweite Befragung mit 1.266 Befragten repräsentativ,“
Eine provinzweite Befragung mit jeweils 3 Befragten allerdings nicht. Und hier wurde offenbar nach den Verhältnissen in der Provinz gefragt.
Sie könnten dementsprechend bei den Wahlumfragen der Bundestagswahl -1000 Befragte bundesweit nach dem eigenen Wahlverhalten- stattdessen auch jeweils 3 Wähler fragen: „Wer hat ihren Wahlkreis gewonnen“?
Escrimador – trotz der Bitte des Hausherren denke ich, dass diese Diskussion lohnt (so lange wir sie kurz halten). Ich glaube wir sind uns einig, dass die Umfrage-Ergebnisse kein objektives und definitives Machwerk darstellt, dass man jetzt z.B. über exakte Prozentzahlen diskutieren sollte. Aber es geht hier auch nicht um subjektive Vorlieben wie Wahlentscheidungen sondern die für das tägliche Leben in Afghanistan sehr entscheidende Frage nach den Kontrollverhältnissen. Die kennen Menschen auf dem Lande in der Regel sehr gut. Und sie haben i.d.R. weniger eigene Interessen sie falsch darzustellen als etwa Regierungsangestellte, inklusive der Sicherheitskräfte. Das war ja schon in den 1980er Jahren ein bekanntes Problem: da saß der Disktriktgouverneur mit seiner Verwaltung in der sicheren Provinzhauptstadt und behauptete, alles wäre in seinem Distrikt in Ordnung – man könne halt nur grade nicht hin. Wegen dem Wetter, oder den schlechten Wegen oder der Migräne. Am Ende hatte die höhere Führung ebenso wie die ausländischen Genossen Militärberater den Eindruck, dass man den ländlichen Raum im Großen und Ganzen doch ganz gut unter Kontrolle hatte. Solche Direktbefragungen derjenigen die tatsächlich dort leben sind, sind da ein interessantes Gegenbild. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
turan saheb 17.02.2021 um 14:13 Uhr
Einverstanden mit dem „Gegenbild“, wenn wir davon ausgehen, dass es eben nicht „wissenschaftlich“ belegt ist.
(Es klang für mich so, als sollte dieser Anspruch erhoben werden.)