Zehn Jahre nach dem Karfreitagsgefecht: Wie es Bundeswehr und gesellschaftlichen Blick veränderte
Das so genannte Karfreitagsgefecht, bei dem am 2. April 2010 drei deutsche Soldaten in Afghanistan starben, hat die Bundeswehr verändert – aber in Teilen auch den Blick der deutschen Gesellschaft auf die Streitkräfte. Ein Blick darauf zehn Jahre danach.
Als die Deutschen merkten, dass sie in Afghanistan im Krieg sind, war der Karfreitag des Jahres 2010. Seit 2003 waren bei Anschlägen auf die internationalen Truppen am Hindukusch immer wieder deutsche Soldaten gefallen. Doch erst an jenem 2. April verloren drei von ihnen ihr Leben nicht durch einen Selbstmordattentäter oder eine ferngezündete Sprengfalle: Deutsche Soldaten fielen in einem Gefecht mit Aufständischen.
Das als „Karfreitagsgefecht“ bekannt gewordene Geschehen vor zehn Jahren änderte den Blick auf den Einsatz – beschleunigte aber auch eine Veränderung dieser internationalen Mission, von einem faktischen Kampfeinsatz zu einer Trainingsmission, die dann aber wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand. Dass noch immer fast 1.300 deutsche Soldaten in Afghanistan sind und die Bundeswehr-Beteiligung an der NATO-geführten Mission „Resolute Support“ gerade erst um ein Jahr verlängert wurde, stößt auf immer weniger öffentliches Interesse. Und eine von den USA und den Taliban Im Februar ausgehandelte Vereinbarung, die nach fast 20 Jahren Krieg des Westens am Hindukusch einen Abzug der internationalen Truppen bringen soll, interessiert hierzulande weniger unter dem Aspekt, ob Afghanistan Frieden bekommt: Es geht darum, das Kapitel auch für Deutschland zu beenden.
Als die Fallschirmjäger aus Seedorf am 2. April 2010 in die Ortschaft Char Darrah bei Kundus im Norden Afghanistans rollen, weiß keiner von ihnen, das die nächsten Stunden das deutsche Bild des fernen Krieges prägen werden. Ein Zug der 1. Kompanie des Fallschirmjägerbataillons 373 geriet in einen Hinterhalt und führte ein stundenlanges Feuergefecht. Am Ende waren Hauptfeldwebel Nils Bruns, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Kadir Augustyniak gefallen, weitere acht Soldaten wurden teils schwer verwundet.
Das Gefecht forderte nicht nur einen hohen Blutzoll (auch wenn bei späteren Anschlägen mehr Soldaten gleichzeitig fielen), sondern hatte, für jede Seite anders, einen symbolischen Wert. Für die deutsche Bevölkerung, die erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg von gefallenen Deutschen in einem Gefecht las, nicht bei einem Anschlag eines gesichtslosen Gegners. Für die Taliban, die die gesprengte und ausgebrannte Karkasse eines Dingo-Transportfahrzeugs als Trophäe vor den Augen internationaler Medien feierten. Vor allem aber für die Kameraden der Gefallenen, die noch in gleichem Jahr eben dieses Dingo-Wrack wieder in ihren Besitz brachten und stolz präsentierten: Mit einem Transparent, das die Namen der Gefallenen trug. Und den Wahlspruch „Treue um Treue“.
Was vor zehn Jahren in Char Darrah passierte, bekam damit Symbolkraft über das Geschehen an jenem Freitag hinaus – und wurde damit zu einem zweischneidigen Ereignis für die Bundeswehr. Auf der einen Seite war es für die Truppe ein Moment, der stärker als jeder Selbstmordanschlag, stärker als jede IED-Gefahr deutlich machte, wofür sie als Soldaten ihren Eid geleistet hatten und ihr Leben riskierten.
Auf der anderen Seite herrschte in der Führung offensichtlich dafür Unverständnis – und die Angst, die starke Identifikation der Soldaten mit den Ereignissen des Karfreitagsgefechts und ein damit verbundener Korpsgeist könne missverstanden werden als Rückkehr zu blindem Kämpfergeist des Zweiten Weltkriegs. Im Mai 2014 verbot der damalige Heeresinspekteur Bruno Kasdorff die Verwendung des Spruchs „Treue um Treue“, offizielle Begründung: „Es ist davon auszugehen, dass seine Verwendung in der Bundeswehr und insbesondere bei den Fallschirmjägern in der öffentlichen Wahrnehmung auch als Bekenntnis zu einer Traditionslinie Wehrmacht – Bundeswehr aufgefasst wird.“
Mit diesem Erlass wurde eine Chance vertan – die Chance, wirklich die Debatte zu führen, wo die Bundeswehr ihre eigenen Vorbilder findet und nicht, wie zahlreiche Meldungen aus jüngster Zeit zeigen, diese Vorbilder in Erlebnissen und Gefechtshandlungen der Wehrmacht suchen muss. „Es stellt sich die Frage, wie wir die Begriffe Staatsdiener, Kämpfer, Staatsbürger verknüpfen?“, fragte der Buchautor Johannes Clair, der 2010 als Fallschirmjäger in Afghanistan diente, in dem Kontingent, das die Seedorfer Fallschirmjäger des Karfreitagsgefechts abgelöst hatte.
Die Kämpfe am 2. April 2010, die Gefallenen, aber auch die Verwundeten – die zum Teil nach ihrer Genesung weiter in der Bundeswehr dienen – sind für die Truppe nicht nur Erinnerung, sondern auch ein Vorbild für Einsätze nicht nur in Afghanistan. In der politischen Debatte wird zwar rechtzeitig zum Jahrestag immer wieder daran erinnert, wie jetzt zehn Jahre danach. Nach einer echten Aufnahme in die Traditionspflege der Bundeswehr, die ja gerne auf ihre eigene Geschichte zurückgreifen will, sieht es bislang allerdings nicht aus.
Dabei scheint ein Ende des deutschen wie des (westlichen) internationalen Engagements in Afghanistans nunmehr in greifbare Nähe zu rücken – wenn auch nicht unbedingt deshalb, weil die Ziele seit dem Einmarsch Ende 2001 wirklich erreicht worden wären. Die Vereinbarung, die die USA mit den Taliban – und nicht etwa unter Einbeziehung der afghanischen Regierung – in Doha abschlossen, sieht eine drastische Reduzierung der US-Truppen und der verbündeten Soldaten in der NATO-geführten Resolute Support Mission schon bis zum Juli vor.
Nun ist diese Vereinbarung an Bedingungen gebunden – aber genau der Slogan „conditions based“ weckt ungute Erinnerungen: Schon vor mehr als zehn Jahren war die Sicherheitsverantwortung in den Regionen Afghanistans schrittweise von den internationalen Truppen an die Regierung des Landes abgegeben worden. „Conditions based, not calendar driven“, hieß damals die Devise: Gebunden an die tatsächliche Entwicklung, nicht abhängig von einem Zeitplan. Das war auch damals nur ein frommer Wunsch, tatsächlich ging es genau nach dem Kalender, auch wenn rein formal alle damit verknüpften Bedingungen erfüllt sein mussten.
So ähnlich, das ist die begründete Befürchtung, könnte es auch diesmal laufen. Nicht zuletzt, weil ein ganz wichtiger Termin im Kalender steht: Die Wahl des US-Präsidenten im Herbst, und Amtsinhaber Donald Trump hat laut genug die Rückkehr von US-Soldaten aus Einsätzen wie Afghanistans zu einem bedeutenden Punkt gemacht. Für die Verbündeten bleibt kaum etwas anderes, als da mitzuziehen: „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“, der auch in Deutschland immer wieder verkündete politische Leitspruch, ist keine freiwillige Devise. Sondern eine Anpassung an die Notwendigkeiten. Ohne Unterstützung der US-Streitkräfte, allein schon ohne ihre Luftwaffe, ist für die anderen NATO-Staaten der Einsatz am Hindukusch auf Dauer nicht durchzuhalten, ob sie eine Verlängerung für sinnvoll halten oder nicht.
Der Bundestag hat im März den deutschen Einsatz noch mal verlängert, in dieser Form absehbar ein letztes Mal. Eine tatsächliche Aufarbeitung, was das deutsche Engagement wirklich gebracht hat, und das nicht nur militärisch, hat es nicht gegeben. Um so wichtiger wird es, auch mit dem und erst recht nach dem voraussichtlichen Ende von „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ mal nachzuschauen, was diese Jahrzehnte für die Truppe bedeuten. Zum Beispiel das Karfreitagsgefecht.
(Dieser Text erschien zuerst in der April-Ausgabe der Zeitschrift Europäische Sicherheit und Technik)
@KPK:
„Klar ist nach DEU Führungsgrundsätzen aber, dass nicht nur befohlen, sondern die Verbindung auch geprüft wurde, und zwar hinsichtlich Fm und Erkennung Tag/Nacht, Kennzeichnung eigene Truppe usw.“
Das ist nur leider ziemlich weit weg von der Einsatzrealität.
Ihr Beitrag ist für mich schon fast prototypisch für die Art und Weise wie teilweise Einsatzauswertung betrieben wird bzw. wurde.
Die am Ende des ISAF-Einsatzes durchaus gut entwickelten Strukturen für Einsatzauswertung wurden, soweit ich es übersehe, ja auch weitgehend abgewickelt.
@Voodoo sagt: 04.04.2020 um 12:43 Uhr
„Was sicherlich nicht unbedingt nur am Heer, sondern eher an den anderen OrgBereichen hängt; einen Sanitätseinsatzverband zur Unterstützung kann man eben nicht durchhaltefähig aus den originären Regimentern des Zentralen SanDienst bilden. Dass aber gerade diese heilige Kuh zur Schlachtbank geführt wird (also quasi eine Rückabwicklung beipielsweise zurück zum Heeressanitätsdienst inkl. SanTrupps in den Kompanien, nicht zuletzt aufgrund der Neuausrichtung auf LV/BV), werden wir wohl so schnell nicht erleben.“
Ich befürchte, dass Sie Recht haben, aber falsch ist es dennoch, denn sowohl für LV/BV, als auch für Einsätze wäre es genau das richtige. ZSan würde ich übrigens nicht komplett rückabwickeln. Die Zentralisierung der freien truppenärztlichen Versorgung halte ich für richtig.
Diese Unterscheidung kann man auch gut im Einsatz beibehalten. Das Feldlazarett kann meinetwegen unverändert ZSan bleiben (wiewohl ich es auch inhaltlich eher beim Heer sehe), aber die direkte Ustg der Einsatzkräfte gehört natürlich zurück in die Brigaden und Bataillone.
Aber das wird jetzt in bißchen sehr OT, oder?! ;)
@Koffer und Vodoo:
Ein ähnlicher Kommentar ist irgendwie verloren gegangen.
Es bleibt aber die Kernfrage:
Was lernen wir aus dem Karfreitag des Jahres 2010?
Und zwar politisch, diplomatisch, entwicklungspolitisch, polizeilich, militärisch und medial auf strategischer, operativer und taktischer Ebene?
Salve,
@Klaus-Peter Kaikowsky:
„selbstverständlich waren Afghanen in die GesamtOp eingebunden.“
Das steht da mMn nicht, sondern das sie ebenfalls von den Taliban angegriffen wurden. Ein direkter Zusammenhang scheint mir der Darstellung nach nicht gegeben. Warum und seit wann dort deutsche Soldaten sicherten wurde nicht geschrieben.
„…Gegen 13 Uhr Ortszeit griffen etwa 80 Aufständische mit Handfeuer- und Panzerabwehrhandwaffen an…
Nach über einer Stunde…“ (14:15h?) „…konnte der Spähtrupp freigekämpft werden…
Verstärkung war angefordert. Kampflugzeuge der USUnited States-Streitkräfte führten Tiefflüge
Am Boden stand der Zug noch immer im Feuerkampf… Beim Ausweichen detonierte gegen 14.50 Uhr unter einem geschützten Fahrzeug des Typs Dingo ein IEDImprovised Explosive Device…
Immer mehr Soldaten befanden sich im Gefecht: Neben den Kräften der 1. Infanteriekompanie war mittlerweile auch die Eingreifreserve, ein Zug der Schutzkompanie, aus dem PRTProvincial Reconstruction Team vor Ort…
Am Nachmittag griffen rund 40 Taliban auch das etwa vier Kilometer entfernte Polizeihauptquartier von Chahar Darreh an.“ (war das ein Ablenkungsangriff der Taliban?) „Dort lieferten sie sich ein Gefecht mit den zur Sicherung eingesetzten deutschen Soldaten sowie afghanischen Sicherheitskräften… Gegen 16.30 Uhr begann die 1. Infanteriekompanie auszuweichen… Am Abend erfolgte schließlich die Ablösung durch die 2. Infanteriekompanie…
Bei deren Marsch in den Einsatzraum kam es zu einem tödlichen Zwischenfall:.. “
Die afghanischen Truppen die dann unglücklicherweise beschossen wurden, scheinen daher nicht als Entsatz für die 1. Kmp. gekommen zu sein, (wäre auch zu spät gewesen) sondern eher um ihre eigenen Polizeitruppen zu unterstützen, bzw. deren Nachtsicherung zu übernehmen. Sonst hätte die 2. Kmp. ja auch mit den Verbündeten rechnen können, wie auch die AFG Truppen mit deutschen Truppen. Zumindest wurde nicht davon im Text erwähnt. Also scheint es keine Absprachen zwischen DEU & AFG Truppen gegeben zu haben.
Aus diesem Text läßt sich mMn auf keinen Fall erkennen, daß „selbstverständlich waren Afghanen in die GesamtOp eingebunden.“ hier stattgefunden hat. Also wenn man damit nicht nur die Kämpfe, sondern vor allem die Planung meint.
Sollte ich den Text falsch verstanden haben, bitte ich gerne um Erläuterung.
Bei dem „Friendly Fire“ auf die afghanischen Truppen bin ich aber voll bei Ihnen, aber vermutlich wußten die AFG Truppen gar nicht was von ihnen erwartet wurde, selbstverständlich mußten die DEU Truppen aus Selbstschutz das Feuer eröffnen. Ein sehr bedauerlicher Zwischenfall.
@Couthon
Sie verstehen den Text wie oben dargestellt, meine Auffassung weiter oben wie durch Sie zur Kenntnis genommen.
Das war es wohl. Textexegese steht uns beiden eher nicht an. Wesentlich Ihr „scheinen“, das ist es. Wir wissen es nicht. Ich belasse es dabei.
Das ZMSBw hat offenbar die geeignetste Darstellung verfasst.
@Memoria
Zur Einsatzauswertung hatte ich einen Beitrag verfasst, unter Bezugnahme auf
– CALL, Center vor Army Lessons Learned und
– http://www.jallc.nato.int/activities/jointanalysis.asp , im Filter/ nicht freigegeben?
Jedenfalls Stimme ich zu, ein schwieriges Thema, hoffentlich nicht abgewickelt.
Couthon am 04.04.2020 um 18:41 Uhr
„Kampflugzeuge der USUnited States-Streitkräfte führten Tiefflüge“
Was ausser tief fliegen, geschah sonst noch etwas? Show of Force oder etwas Wirksames?
@Memoria @Stephan L. @KPK
Vielen Dank für die Tipps.
Ich habe leider keinen Zugang zum BW Intranet. Aber das Buch wird bestellt. :)
Habe mir aber in einem durch heute den Podcast „Killed in Action – Deutschland im Krieg“ angehört. Ich fande diesen sehr gut aber auch erschreckend, vor allen die Schilderungen und Aussagen des Führers der Ablösekräfte Hauptfeldwebel P. Wenn dem wirklich so gewesen ist, ist es eigentlich ein Skandal.
Eigentlich wäre es doch nun nach 10 Jahren doch mal Wünschenswert eine schonungslose Aufklärung zu betreiben um herauszufinden was wirklich wie passiert es, wie es dazu kam und ob und was man draußen gelernt hat.
In dem Zuge sollten man schauen wie man dieses Gefecht auch in die Tradition der BW einbinden kann.
Ein guter, wertvoller Diskurs. Das ist AG at it‘s best.
Persönlich fürchte ich, dass Memoria mit seinen wiederholten Petitum nach mehr, ernsthafter und ehrlicher LL oder EinsAusw recht hat, wenn er sie mit Blick auf Mali oder ganz generell, vermisst.
Soweit ich das erkenne, hat die ab 2011 beginnende Veränderung des ISAF- Mandates hin zu RS und der damit einhergehende Wandel zu Train+ Assist eine konsequente, kritische Aufarbeitung verhindert. Und zwar auf allen Ebenen, einschl. des so als deutsches Modell verfolgten vernetzten Ansatz, den es so in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Das Karfreitagsgefecht, aber nicht nur das, hat weder in der OpFü vor Ort, noch in der gesamtheitlichen Auswertung für die SK, einen tieferen Sinn gehabt. Das ist schon tragisch, wenn man weiss, dass es eigentlich sinnlos war.
@Couthon u. KPK:
„Also scheint es keine Absprachen zwischen DEU & AFG Truppen gegeben zu haben.“
Es fehlte schlichtweg an einer strukturierten Kommunikation des PRT mit den ANSF und den eigenen Kräften.
Dass die ANA dort unterwegs war, wurde über deren OMLT an das OCC-P bzw. das PRT gemeldet. Ging dann aber auf deutscher Seite (!) unter.
Sicherlich haben die Afghanen auch Fehler gemacht.
Der hauptsächliche Unmut entstand jedoch, weil die Deutschen – nachdem sie den Fehler erkannten – keine Kameradenhilfe leisteten, sondern weiter fuhren. Siehe:
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70701696.html
Die Belgier haben in der Folge wesentlich dazu beigetragen die angespannte Situation, insbesondere im PHQ, zu entspannen (siehe auch dazu das Buch „Feindkontakt“).
Diese Vorgänge als eine Art Partnering umzudeuten ist schon sehr grotesk.
Die Beschreibung des ZMSBw ist auch eher eine Rechtfertigung der Situation auf der untersten Ebene (das Handeln dort ist ja durchaus nachvollziehbar) als eine echte Auswertung der Ereignisse.
Genau solche Themen wären eben notwendig in einer Einsatzauswertung. Könnte nämlich so genauso morgen bspw. in Mali passieren.
@der junge neue:
Es haben eben die Entscheider wenig Interesse an einer schonungslosen Aufklärung.
Die zwei prominentesten Vorfälle in Afghanistan fanden in Kunduz statt (Tanklaster und Karfreitag). Beide Male kam es nicht zu einer ehrlichen und umfassenden Aufbereitung. Beide Male ist nämlich ein wesentlicher Punkt unklar:
Was war die wirkliche Absicht der übergeordneten Führung?
@Edgar Lefgrün 04.04.2020 um 20:59 Uhr
Nein, es kam zu keinem Waffeneinsatz. Ich vermute, dass liegt an der unübersichtlichen Lage am Boden und der drohenden Verzahnung. In Killed in Action beschreibt der Zugführer des Entsatzzuges, dass der Zugführer des G-Zuges ihm bei seinem Eintreffen gesagt habe, er würde jetzt eine Bombe droppen. Die Frage „Wohin denn?“ konnte aber nicht hinreichend beantwortet werden, sodass der Einsatz unterblieb.
@Memoria 04.04.2020 um 13:43 Uhr
Leider nein. Es ist eine interessante Darstellung, die man mMn recht gut für die Verwendung im Unterricht mit Themen wie Tod und Verwundung nutzen kann. Aber eine wirkliche Aufarbeitung findet nicht statt. Wahrscheinlich gibt es irgendwo einen internen Bericht, aber der wird wohl keine große Verbreitung gefunden haben.
Hier wurde ja schon mehrfach die Reihe „Aus dem Einsatz lernen“ angesprochen. Die fand ich immer ziemlich lesenswert. Zusätzlich wurden immer ausländische Berichte zur Verfügung gestellt (zuletzt etwa über die Schlacht um Mossul). Aber seit 2017 gab es keine Neuveröffentlichungen. Es gibt zwar die Auswerteberichte bei EEBw, aber die verlieren sich mMn sehr stark im Klein-Klein.
@Stephan L.:
Danke für die Rückmeldung. „Aus dem Einsatz lernen“ fand ich auch immer sehr gut.
Die internationalen Erfahrungen fand ich ebenfalls immer sehr hilfreich.
Das Ganze lebte aus meiner Sicht von sehr engagiertem Personal im Dezernat Einsatzauswertung.
Ich frage mich warum dies gerade mit Blick auf die ja nicht wenigeren Einsätze nicht mehr gibt.
Es fehlt aber darüber hinaus auch noch die gesamte Ebene der taktischen und operativen Führung. Den aus dem Einsatz lernen ist ja oftmals auf die Gtuppenebene fokussiert.
Da könnte auch einiges vom Karfreitag 2010 gelernt werden. Eine solche Ausarbeitung ist überfällig. Es fehlt dafür auch nicht an geeigneten oder zuständigen Stellen, sondern schlichtweg am konkreten Auftrag und Anspruch (!) als Organisation aus der eigenen Vergangenheit zu lernen.
Salve,
@Klaus-Peter Kaikowsky
wie Sie oben sagten: Textexegese. Mir kam es da nur auf die Zeitfolge an und daß im Text (der sicher eine andere Intention hat) keine Zusammenarbeit beschrieben ist.
@Edgar Lefgrün: wie @Memoria und @Stephan L. (sehr genau) schon schrieben: „Show of Force“.
@Memoria: Danke für die konkreten Informationen, das sehe ich dann ebenso wie Sie. Das ist dann ja noch tragischer.
Die Aufarbeitung ist auch mMn das zentrale Element. Ich habe mir das Buch auch bestellt.
@Memoria 05.04.2020 um 12:58 Uhr
Warum AdEl nicht mehr publiziert wurde, habe ich mich auch schon gefragt. Die ganze Seite scheint ja vor einer Weile den Betrieb eingestellt zu haben, wenn auch keine internationalen Erfahrungen mehr veröffentlich werden. Ich vermute mal, dass man mittlerweile alles bei EEBw zusammengezogen haben, aber das geht mir da wie schon gesagt zu oft ins Klein-Klein. Ist sicherlich berechtigt, wenn man sich in Gao einen zusätzlichen Materialprüffeldwebel wünscht. Aber die ganze Seite ist so unübersichtlich und umständlich und viele angebliche Lessons Identified sind so lapidar, dass man da kaum sinnvolle Erkenntnisse raus ziehen kann.
Ich denke schon, dass es entsprechende Auswertungen über das Karfreitagsgefecht gegeben hat, die wegen Einstufung o.ä. nicht in die Truppe gelangt sind. Ich frage mich aber auch, ob eine weitergehende Aufarbeitung mit all der daraus resultierenden Kritik von der Truppe wirklich gewünscht ist. Mir erscheint es, dass die Ereignisse von 2010 mittlerweile ein Stück weit mystifiziert wurden, und dass Kritik als Abwertung der Gefallenen und ihres Einsatzes wahrgenommen werden könnte. Nur eine Vermutung. Aber ich frage mich, wie die Aussagen des Zugführers des Entsatzzuges in der Serie in Seedorf wohl aufgenommen wurden.
@Stephan L.
Ich gehe auch davon aus, dass es – wie immer – verschiedene Auswertungen des Gefechtes gab. Unklar ist für mich nur wie breit diese angelegt waren und welche Schlussfolgerungen hieraus gezogen wurden.
Die informelle Auswertung innerhalb des (damaligen) Bataillons hilft dagegen nur begrenzt:
https://augengeradeaus.net/2015/04/karfreitagsgefecht-vor-fuenf-jahren-der-wendepunkt-fuer-die-truppe/comment-page-1/#comment-188810
Wie hier schon mehrfach erwähnt kann jedoch nur eine begrenzte systemische Lernfähigkeit erkennen.
Karfreitagsgefecht 2010 – Taktische Überlegungen
Vorneweg: Der Karfreitagseinsatz entsprach grundsätzlich nicht den ISAF Richtlinien. Gem. ISAF Partnering Directive vom 29.August 2009 hätten die DEU Soldaten im nationalen Alleingang ohne AFG Kräfte gar nicht nach ISA KHEL verlegen dürfen. Aber das mal nur so am Rande.
Das sog. Karfreitagsgefecht 2010 wird seit nunmehr 10 Jahren fast ausschließlich im Zusammenhang mit Trauerbewältigung für gefallene und verwundete Bundeswehrsoldaten oder iZm der Frage nach Krieg-oder-nicht-Krieg in AFG behandelt. Die Frage nach den tatsächlichen Geschehnissen, dem Zweck des Auftrags, den operativen Überlegungen und der taktischen Umsetzung, diese Frage wird praktisch nie gestellt. Und das, obwohl der Karfreitagseinsatz bei näherer Betrachtung viel besser geeignet wäre, über die deutsche Strategie in AFG, die militärische Operationsführung und die taktische Professionalität der heutigen Bundeswehr Aufschluss zu geben, anstatt für philosophische Debatten, ob das nun Krieg war oder nicht. Weder das IED auf das der Dingo gefahren ist, noch der Beschuss von Aufständischen aus dem Hinterhalt im Raum CHAHAR DARRAH konnte im Jahr 2010 jedenfalls als die Überraschung betrachtet werden, als die es bis heute dargestellt wird.
‚Amtliche‘ Hauptquelle über das taktische Geschehen stellt bis heute ein kurzer Artikel in der ZMS-Schrift ‚Militärgeschichte‘, Ausgabe 2/2018 dar, wobei u.a. eine relativ aufschlussreiche grafische Darstellung des Kräfteansatzes gezeigt wird. Diese Quelle muss als zuverlässig angesehen werden, auch wenn das Geschehen am Karfreitag 2010 dabei nur sehr skizzenhaft wiedergegeben ist.
Betrachten wir nun also die Ereignisse, so wie sie das ZMS aufgearbeitet hat:
Es handelte sich um einen Einsatz einer vstk. Kompanie. Auftrag: IED-Sweep entlang LOC LITTLE PLUTO. Der Auftrag wurde am Karfreitag 2010 durchgeführt.
Bereits hier stellen sich mehrere Fragen:
Bei der eingesetzten 1.Kp handelte es sich um eine von 3 verfügbaren Kp des PRT KUNDUZ. Damit waren bei dem Einsatz also ein Drittel der verfügbaren Manöverkräfte eingesetzt. Dies erscheint für einen IED-Sweep entlang einer Nebenstrecke, an der bereits 3 Außenposten (PHQ, Höhe 431, Höhe 432) existierten etwas überdimensioniert. Noch dazu war die Kp durch 2 SPz (im H-Zug) sowie durch ein belgisches EOD-Team verstärkt.
Ebenfalls dubios erscheint der Auftrag: Was sollte ein IED-Sweep entlang dieser Nebenstrecke denn bezwecken. (Stichwort: Ziel des Auftrags?) – Eine Hauptverbindungsstrasse war mit Sicherheit die LOC PLUTO, aber doch nicht LITTLE PLUTO. Mit lediglich 3 Kp im ganzen Raum KUNDUZ, hätte man sich da überhaupt auf so eine Nebenstrecke ‚verirren‘ müssen? Der einzige Grund für den Gegner (Nennen wir ihn ab jetzt einfach mal ‚Taliban‘, auch wenn das eine unkorrekte Simplifizierung darstellt) diese Strecke zu verminen bestand doch nur in der Tatsache, dass sie häufig von ISAF-KFz benutzt wurde. Wieso sollten die Bewohner von ISA KHEL oder CHAHAR DARRAH ihre eigenen Straßen denn verminen, die sie täglich selber nutzen müssen.
Hier drängt sich geradezu die Hypothese auf, dass man auf der Ebene PRT-Führung den eigenen Auftrag im Zusammenhang mit dem ISAF Einsatz (Offenhalten von ISAF Hauptverbindungswegen) falsch ausgewertet und die falschen Prioritäten gesetzt hat. Mit den zur Verfügung stehenden Kräften hätte man sich auf die wirklichen Hauptverbindungswege wie die LOC PLUTO beschränken sollen, ja müssen. (Und bei gesicherter Actionable Intelligence kann man ja dann die US Special Forces oder das eigene KSK mal in CHAHAR DARRAH für eine Razzia vorbeischicken, oder noch besser: die afghanischen Sicherheitskräfte.)
Und hier eine weitere banale Tatsache: Bereits einen Tag nach einem IED-Sweep kann die vermeintlich geräumte Straße doch bereits wieder vermint sein, wenn ich diese nicht 24/7 überwache. Dafür hatte man doch sowieso nicht die Kräfte von deutscher Seite. Warum wollte man daher am Karfreitag partout ‚Ostereier‘ suchen, noch dazu in diesem Unruhedistrikt?
Und gerade da CHAHAR DARRAH ja ein ‚Unruhedistrikt‘ war, befremdet der Auftrag am 02.04.2010 umso mehr. Es war Freitag. Der moslemische Sonntag. Da gehen die ‚Unruhestifter‘ in die Moschee zum Freitagsgebet und putschen sich gegen die Ungläubigen auf, die das Land besetzt haben. Der Entschluss an einem Freitag den ‚Unruhestiftern‘ einen Besuch abzustatten, muss also befremden. Wozu gibt es denn einen ‚cultural adviser‘ im Kontingent? Was soll die ganze ‚cultural awareness‘ Ausbildung, wenn man sich dann im Einsatzland so einen Schnitzer erlaubt.
Und hier noch für Insider: Dass in Deutschland übers Osterwochenende fast alle Leute Urlaub machen sollte bekannt sein. Wenn man sich bei kritischen Fähigkeiten, die bis hinunter zur taktischen Ebene benötigt werden auf ein sog. ‚reach-back‘ im Heimatland abstützt, dann ist es ein Schildbürgerstreich, übers Osterwochenende einen Grosseinsatz durchzuführen. Hat man das auf der Ebene der PRT-Führung denn komplett übersehen oder hat man es bewusst in Kauf genommen? – Beides wäre als ein unverzeihlicher Fehler zu werten, der am Ende Menschenleben gekostet hat.
Betrachten wir nun den Ablauf des Einsatzes: F-Zug verbleibt als Kp-Reserve in COP 413 und 432, H-Zug mit SPz bezieht Sicherungsstellung. Wenden wir uns nun dem G-Zug zu: „Der Golf-Zug, ausgestattet mit gepanzerten Radfahrzeugen des Typs »Dingo«, sollte mit den Kräften zur Kampfmittelbeseitigung (Explosive Ordnance Disposal, EOD) die Straße räumen. Über einen zuvor erkundeten Umgehungsweg, einen schmalen Feldweg, gelangte eine verstärkte Gruppe des Zuges unter der Führung des stellvertretenden Zugführers, Hauptfeldwebel Nils Bruns, in einen Vorort Isa Khels, um von dort die Suche zu sichern…“
Hier beginnt der ganze Einsatz bereits aus dem Ruder zu laufen indem sich die Kräfte der Kp aufsplittern und der ‚Zusammenhang der Operationsführung‘ abreißt. Das in der ZMS Schrift geschilderte Vorgehen ist dabei schwer verständlich: den Sicherungsauftrag hatte doch der H-Zug mit den SPz. Wieso schickt der Zugführer GOLF dann eine weitere Gruppe seines Zuges Richtung ISA KHEL angeblich ebenfalls zur Sicherung? – Sein Auftrag lautete doch ganz anders. Aus der Schilderung des ZMS gewinnt man obendrein den Eindruck, der Zugführer GOLF (ein HFw!) hat diesen Entschluss selbständig getroffen.
Hier stellt sich dann die entscheidende Frage überhaupt: Wer hatte denn die Führung dieses Kp-Einsatzes? – Ja wohl hoffentlich der KpChef. Aus den ZMS Schilderungen gewinnt man aber den unguten Eindruck, es war der Zugführer GOLF (ein HFw) der für alle unglücklichen Aktionen ostwärts LITTLE PLUTO an diesem Tag die Führung innehatte. Eine Entschlussfassung auf KpEbene ist nirgends überliefert; das wesentliche Geschehen spielt sich anscheinend nur noch auf oder unterhalb der Zug-Ebene ab.
Bei all diesen Überlegungen muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass die Truppe sehr genau wusste, dass mit Überschreiten LITTLE PLUTO nach Osten die Grenze zum ‚Indianerland‘ überschritten wurde – und vergessen wir nicht: es ist der Tag des moslemischen Freitagsgebets.
Wie sich dann im Laufe der Geschehnisse zeigt, waren die Teile GOLF in ISA KHEL nun überhaupt nicht geeignet die Teile auf LITTLE PLUTO zu ‚sichern‘, sondern im Gegenteil, sie waren es selbst, die sich – unnötig – in Gefahr begeben haben. Unabhängig also, wer den Entschluss gefasst hat (KpChef oder ZgFhr), Teile GOLF nach ISA KHEL zu entsenden, es war – im Rahmen des eigentlichen Auftrages: IED Sweep auf LITTLE PLUTO – ein unzweckmäßiger Entschluss. Ohne diesen verhängnisvollen Entschluss wäre es gar nicht zu den weiteren tragischen Ereignissen dieses Tages gekommen.
Es wird aber noch dubioser.
Lassen wir mal dahingestellt, wieso die Truppe wusste, dass ein bestimmter Umgehungsweg minenfrei war (am Ende war es ja doch nicht); wieso setzt der Gruppenführer der GOLF Teile am Ortsrand ISA KHEL angekommen nun seine Kleindrohne ein? Was sollte dies im Rahmen des Gesamtauftrages bezwecken? – Wenn eine Luftüberwachung nötig ist, dann verfügt die Truppe hierfür doch über wesentlich bessere Aufklärungsmittel (LUNA,…) die zumindest später an diesem Tag ja auch noch zum Einsatz kommen werden. Auch hier wieder die Frage: wer hat den Einsatz MIKADO entschieden? – KpChef, ZgFhr oder der GrpFhr? – Am Ende hatte sich der GrpFhr ohne Not seines taktischen Mittels Kleindrohne beraubt und hatte es genau dann nicht zur Verfügung, als er es hätte gut gebrauchen können, nämlich während des Gefechts.
Die Kleindrohne geht also verloren, angeblich weil zuviel Wind war. Wir wollen hier gar nicht die Frage nach etwaigen Bedienfehlern aufwerfen sondern betrachten den weiteren taktischen Ablauf: nun setzt eine abgesessene Suche nach der Kleindrohne ein. Die Truppe zersplittert sich weiter. Auch hier muss die Frage gestellt werden: wer hatte hier die Führung? – Es ist ein KpEinsatz und selbstverständlich ist die Führungsverantwortung unteilbar. Also muss doch hier dem KpChef der Verlust berichtet worden sein. Daraufhin fasst der KpChef einen Entschluss und setzt diesen im Rahmen seiner Befehlsgebung – per Funk- um. Der ursprüngliche Auftrag hatte keinerlei abgesessene Patrouillen in der Ortschaft ISA KHEL beinhaltet. Wenn man sich nun also für diesen völlig neuen und signifikant vom Auftrag abweichenden ‚Course of Action‘ entschließt (man hätte den Kleinhubschrauber ja beispielsweise auch einfach abschreiben können), dann mussten doch jetzt die Kräfte der ganzen Kp neu angesetzt werden. Beispielsweise hätte man nun den GOLF Zug durch Teile H-Zug verstärken können o.ä. Gem. der ZMS Darstellung erfährt man von einem neuen Kräfteansatz aber nichts. Mitten im ‚Indianerland‘ marschieren jetzt also einzelne Soldaten im durchschnittenen Gelände an den Ortsrändern ISA KHEL herum. Dies ist im Übrigen auch sehr gut auf den Aufnahmen der Taliban zu erkennen. Ein gefechtsmäßiges Verhalten der DEU Soldaten (bspweise: überschlagenes Vorgehen unter gegenseitiger Sicherung; sprungweises Vorgehen; Deckung ausnutzen) ist nicht erkennbar.
Nun ist auch diese Suche nicht auf Anhieb erfolgreich; wiederum verkneifen wir uns die Frage, wieso man die Drohne nicht gefunden hat. In Seligers Buch ‚Sterben für Kabul‘ wird angegeben, dass man eine erste Suche bereits erfolglos abgebrochen hatte, dann aber erneut suchen ging. Auch hier gilt: Wer hatte hier die Führung inne? – Wer hat das entschieden und befohlen?
In jedem Fall war der Zugführer GOLF Führer aller Teile seines Zuges. Er war dafür verantwortlich dass die Suche gefechtsmäßig und koordiniert durchgeführt wurde. Alle überlieferten Schilderungen der Ereignisse, sowie die Aufnahmen der Taliban zeigen aber ein völlig anderes Bild. Der GOLF Zug hat sich nicht nur im durchschnittenen und unübersichtlichen Gelände völlig aufgesplittert, es ist zudem kein gefechtsmäßiges Verhalten erkennbar. Keine gegenseitige Überwachung – dabei hatte man geschützte DINGO mit Waffenanlage, mit denen abgesessene Teile doch gut überwachbar gewesen wären – keine Auflockerung, kein sprungweises Vorgehen, kein Deckung ausnutzen oder In-Stellung-gehen. Auf den Aufnahmen der Taliban sieht man, wie die Soldaten dagegen offen rumstehen.
Um 13:00 Uhr eröffnen die Taliban das Feuer. (Kurzplanübung: Herr Hauptmann, ihr Entschluss mit Begründung bitte. Zeit 5 Minuten. Danach Funkbefehl im Wortlaut)
Dieses Ereignis wird uns als völlig unerwarteter Gang der Ereignisse ‚verkauft‘. Die Truppe wurde angeblich völlig überrascht. Aber genau damit musste doch gerechnet werden; genau darin hätte doch die Leistung der beteiligten Führer bestehen müssen: die Truppe jederzeit so zu manövrieren, dass bei einem Feuerüberfall sofort koordiniert gegen den Feind vorgegangen werden kann.
Aber was uns das ZMS nun beschreibt, ist nur als völliges Führungsversagen zu bezeichnen: der abgesetzte 4-Mann-Suchtrupp (er wird vom ZMS als Spähtrupp bezeichnet, vmtl. um die Entfernung zur restlichen Truppe zu ‚entschuldigen‘) ist beim Feuerüberfall ‚mehrere hundert Meter‘ vom Rest der Truppe entfernt. Dann muss sich auch noch ein einzelner Soldat dieses Trupps über diese mehreren hundert Meter zurückkämpfen (alleine!), um angeblich den Standort seiner abgeschnittenen Kameraden zu melden?! – Es bestand also anscheinend nicht nur keine Sichtverbindung mehr, sondern auch keine Funkverbindung. Wie konnte man sich denn nur in so eine Situation hineinmanövrieren? An der Verzahnung mit den Feindkräften war man daher von Anfang an selber Schuld. Auch das Absetzen des einzelnen Soldaten alleine zurück zur Truppe kann man nur als Wildwest-Aktion bezeichnen.
Was war denn die Lagebeurteilung und der Entschluss des KpChefs um 13:00 Uhr nach Beginn des feindl. Feuerüberfalls? – Das erfahren wir nicht. Das Geschehen wird uns nicht als militärisch ablaufende Operation überliefert, sondern als tragischer Ablauf von zwangsläufigen Ereignissen.
Grundsätzlich sehe ich um 13:00 Uhr 3 Handlungsmöglichkeiten: 1 – GOLF Zug löst sich vom Feind unter Feuerschutz HOTEL Zug und SPz zurück zur LOC LITTLE PLUTO. Die SPZ hatten ja eine hervorragende überhöhte Stellung, was man aus dem Taliban Video sehr gut sehen kann. 2 – Wenn die GOLF Zug Kräfte hierzu nicht ausreichen weil der Feinddruck ggf. zu stark ist, dann kann man den GOLF Zug zunächst mit Kräften HOTEL in der Stellung verstärken. Danach Lösen vom Feind. 3 – Gegenstoß. Die Handlungsmöglichkeit 3 wäre dabei mein Favorit. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass in derartigen Situationen, die den Charakter eines Begegnungsgefechts haben ohne starre Fronten, der unverzüglich ausgeführte Gegenstoß in die tiefe Flanke des Gegners ein wahres Zaubermittel ist.
Ob dabei ein simpler Vorstoß der Teile HOTEL von LITTLE PLUTO nach Osten in die linke Flanke möglich gewesen wäre kann man ohne Blick ins Gelände natürlich nicht entscheiden. Eleganter erscheint mir anhand der Gefechtsskizze sowieso ein gedeckter linksumfassender Gegenstoß, also von LITTLE PLUTO zunächst tiefgestaffelt auf dem Umgehungsweg lang, und dann nördlich der vorgelagerten Gehöftegruppe vorbei breit entfaltet in die rechte Flanke des Feindes.
(„Ameise an alle, Lageorientierung: Teile GOLF im Feuerkampf mit abgesessenem Feind Westausläufer ISA KHEL. Wir führen Gegenstoß. Dazu: GOLF bindet Feind frontal aus derzeitiger Stellung. SPZ Feuerunterstützung aus derzeitigen Stgn. Radteile HOTEL mit mir Gegenstoss linksumfassend. Bewegungslinie: LITTLE PLUTO – Umgehungsstrasse – nördlich A-Dorf – dort breit entfalten – Erstes Zwischenziel B-Dorf, dort gemeldete nördliche Fd-Kräfte. Abmarsch in 5. Einwsg Fhr HOTEL an meinem FüFu.“ Die Schüsse bei Höhe 432 kann man zu diesem Zeitpunkt ignorieren. Damit wird FOXTROTT schon alleine fertig. Eine Reserve von dort braucht zu diesem Zeitpunkt sowieso noch nicht eingeführt werden.)
Stattdessen hat man sich angeblich darauf beschränkt, Verstärkung aus dem entfernten Feldlager KUNDUZ anzufordern. Wieso? – Man hatte doch selbst ausreichend Kräfte vor Ort. Die Kräfte aus KUNDUZ brauchen doch viel zu lange zum Anmarsch um sich im Gefecht auszuwirken. Eine Reserve musste zu diesem Zeitpunkt aber definitiv noch nicht eingeführt werden. Man verfügte vor Ort über eine mit SPz und EOD Kräften verstärkte KampfKp!
Was der KpChef und der ZgFhr GOLF dann in den weiteren knapp 2 Stunden entscheiden und koordinieren, ist ein Mysterium. Wir erfahren es nicht. Ich kann es mir aber schwer vorstellen, dass der KpChef in seinem Führungsfahrzeug auf LOC LITTLE PLUTO – keine 1000 m vom Geschehen entfernt – dort die ganze Zeit rumsitzt und auf die Kavallerie wartet, während seine Soldaten im Feuerkampf stehen.
Um 14:50 fährt der DINGO auf ein IED.
Der DINGO bleibt dabei relativ in Takt. Lediglich das rechte Vorderrad und die Radaufhängung werden beschädigt und die Motorhaube wird angehoben. Die Insassen überleben. Allerdings befinden sich Soldaten unmittelbar NEBEN dem DINGO. Dadurch entstehen dann erst die eigentlich schwerwiegenden Verluste. Wären die Soldaten nicht neben dem DINGO gestanden, dann wäre es an diesem Tag deutlich weniger schlimm für die Bundeswehr gekommen. (Den selben Fehler wird man genau 2 Wochen später im Raum BAGHLAN wieder machen: auch da hängen sich Soldaten an ein gepanzertes Kfz, einen EAGLE, das dann auf ein IED fährt. Auch da kommt es dadurch unnötig zu 3 Toten und 5 Verwundeten.)
Das Verhalten der Soldaten, sich unmittelbar am DINGO aufzuhalten sieht man auch sehr schön auf den Helmkamera-Sequenzen. Es handelt sich um ein völlig ungefechtsmäßiges Vorgehen. Zusammenballung anstatt Auflockerung! In der Ausbildungsschrift ‚Kriegsnah Ausbilden‘ finden sich die Merkwörter VASE und FAST. Nichts davon hat die Truppe am 02.April 2010 umgesetzt. Keine Verbindung gehalten. Keine Feuerbereitschaft, kein Auflockern und keine Tarnung. (Zur Ehrenrettung eines beteiligten Unterführers muss man sagen, dass dieses Fehlverhalten zumindest erkannt wurde: in der Helmkamerasequenz hört man einen Unterführer deutlich sagen „Runter da! Nicht alle auf einen Haufen!“. Man wusste also doch, wie es eigentlich geht.)
Der DINGO wird später von der eigenen Truppe zerstört. Warum? – Auf dem bekannten Photo mit dem angesprengten DINGO (und den drei lustlos daneben stehenden Soldaten) sieht man ein kaum beschädigtes Fahrzeug. Dies hätte man ohne viel Mühe abschieben können. TPz oder SPz ranfahren, Abschleppseil dran und los geht’s.
Stattdessen sprengt man ein 800.000 Euro teures Einsatzfahrzeug in die Luft. Abenteuerlich!
Die kurzen Helmkamerasequenzen zeigen eine völlig orientierungslose und NICHT-GEFÜHRTE Truppe! – Man latscht einfach auf der Strasse lang, ohne erkennbare Gefechtsgleiderung. Man erkennt ebenfalls sehr gut, dass einfach geschossen wird, ohne einen Feind überhaupt zu sehen. Dass dann auf dem oben angesprochenen Photo auch 3 Soldaten völlig ungefechtsmäßig neben dem angesprengten DINGO stehend zu sehen sind kann ich nicht nachvollziehen. Man kann neben dem Fahrzeug in aller Ruhe stehen und Photos machen, aber abschleppen kann man das KFz nicht?! – Völlig unverständlich.
Mit der Zerstörung des DINGO endet dann das eigentliche Karfreitags-Fiasko und wir beenden unsere taktischen Überlegungen.
Fazit: Das Desaster am Karfreitag war – nach den mir vorliegenden Informationen! – weitgehend selbstverschuldet. Es handelte sich um einen ‚hasty-ambush‘ der Taliban. Sie haben die DEU Soldaten beobachtet (und gefilmt) und gesehen, dass sie sehr ausrechenbar und ungefechtsmäßig vorgegangen sind. Deshalb haben sie ihren Hinterhalt legen können. Stattdessen wurde zu diesem Zeitpunkt anderswo in AFG längst nach anderen Verfahren agiert: z.B. ‚satellite patrolling‘, um eben nicht so leicht ausrechenbar zu sein. Wenige Wochen vorher wurde die Operation MOSHTARAK in Helmand durchgeführt. Eine Auswertung durch die DEU Führung scheint nicht erfolgt zu sein.
Die DEU Truppe am 02. April 2010 scheint in jedem Fall schlecht vorbereitet gewesen zu sein. Und das obwohl kurz vorher die Gefechtsmedaille gestiftet worden war und jedem klar war, welchen Charakter das Engagement in AFG im Raum KUNDUZ in den Jahren 2008 bis 2010 angenommen hatte.
Wenn man tatsächlich am Karfreitag 2010 dort von dem Taliban Hinterhalt überrascht worden war und die Truppe nicht darauf vorbereitet war, dann hat man verdammt noch mal etwas falsch gemacht.
[Danke. Das ist jetzt für einen Kommentar seeehr lang – aber ich lasse es mal stehen. Und für sachliche Begründungen hier habe ich durchaus mehr Verständnis als für knappe Anwürfe in zweifelhaftem Ton. T.W.]
Zum „Artikel“ von Sindbad: Sehr schön! Respekt! Ich hoffe aber auch, dass das nicht zum erwarteten Standard wird. :o)
@Sindbad sagt: 10.04.2020 um 14:07 Uhr
Grundsätzlich habe ich nichts gegen ein (wo notwendig auch kritische) taktische Nachbetrachtung von Operationen und Gefechten einzuwenden.
Nur so kann man für die Zukunft lernen.
In diesem einen (!) Aspekt stimme ich Ihnen zu. Die Bundeswehr macht dies zu wenig und ist deswegen dazu verdammt Fehler zu wiederholen.
Und zudem führt das dazu, dass wir auch verlernt haben Respekt für die Opfer von Respekt für die Operationsführung zu trennen.
Wir vermischen beides und kommen deswegen zu einem ungesunden „Tabu“.
Aber Ihrer Gesamtdarstellung fehlen zwei entscheidende Dinge:
1. Die notwendigen Informationen für eine umfassende Bewertung (ist zwar „Schuld“ der Bw, weil diese die nicht bereit stellt, aber Sie spekulieren trotzdem uneingeschränkt über Dinge für die Sie nicht alle Fakten haben, die aber Betroffene und Angehörige tief verletzten können).
2. Sachlichkeit zur Bewertung. Sie wollen den Stab brechen und interpretieren deswegen alle Fakten so, dass sie zu Ihrer Konklusio passen.
@Koffer
Sie haben recht: Ich kenne die ganzen Fakten nicht, mein Bild des Geschehens ist extrem limitiert, in Teilen sicherlich nicht ganz korrekt. Ich kann aber nur das bewerten, was mir zugänglich ist. Das beschränkt sich eben zum größten Teil auf die ZMS Darstellung, da ich davon ausgehe, dass die den entsprechenden Zugang zu den Originalunterlagen hatten und auch nicht gezielt falsche Angaben machen würden. Selbstverständlich ist die ZMS Ausführung knapp gehalten, bietet m.E. aber doch genügend Material für einige kritische Fragen.
Genau das tue ich. Wenn es sonst kaum jemand macht, dann spiele eben ich den advocatus diaboli. Ich erhebe dabei gar nicht den Anspruch, die Wahrheit zu kennen.
Ich lasse mich gerne durch weitere Fakten aufklären. Her damit. Bis dahin habe ich eben einige Fragen, die mich bis heute etwas ratlos machen.
Und nach 10 Jahren wäre es m.E. mal an der Zeit für etwas mehr Aufklärung, gerade weil man dieses Gefecht stets als eine Art ‚Monstranz‘ des ISAF Einsatzes vor sich her trägt.
@Sindbad sagt: 10.04.2020 um 17:57 Uhr
Beim Ziel stimme ich Ihnen zu, den Weg lehne ich strikt (!) ab.
Solange wir nicht alle Fakten haben, hilft spekulieren niemandem weiter. Denn wenn wir nicht alle Fakten haben, können wir keine Lehren ziehen.
Was Sie also machen, ist nicht analysieren und Lehren ziehen, sondern Kameraden negativ bewerten. Das wiederum haben diese Kameraden nicht verdient.
@Sindbad:
Ich finde es ja erfreulich, dass die Diskussion hier wieder faktenbezogen wird, sogar am Karfreitag.
Ein paar Informationen zur Einordnung auf verschiedenen Ebenen.
Strategische Ebene:
Die Weisungen des COM ISAF wurden durch Deutschland zögerlich umgesetzt, wir waren damals ja schon der wahre Experte für vernetzte Sicherheit.
Operative Ebene:
Die LOC Little Pluto ist wesentlich für den Zugang in den Distrikt Chahar-Dareh.
Daher ist das offen halten wesentlich.
Taktische Ebene:
Jeweils eine Kompanie hatte die Raumverantwortung im Distrikt C.-D..
Damit musste diese Kompanie über mehrere Tage – schichtfähig – das PHQ, die Höhen 421 u. 432, Offenhalten der LOCs Kamin und Little Pluto, Versorgungsfahrten etc bewerkstelligen.
Ein IED-Sweep war eine Aufgabe für einen verstärkten Zug. So wie auch in diesem Fall.
Fraglich ist in dem hier behandelten Fall nur was der Auftrag war und inwiefern ein Folgeauftrag im Bereich Isa Khel vorbereitet werden sollte (ZMS und andere Berichte legen dies nahe). Aber dazu liegen nunmal nicht alle Fakten vor.
@Koffer:
Haben sie zu allen anderen Themen, die sie hier kommentieren alle Fakten?
Ich bin ja auch skeptisch hier umfassende Bewertungen abzugeben, aber soll ohne weitere vollumfängliche, offizielle Informationen zum Kontext und Verlauf gar nicht mehr darüber nachgedacht werden?
@Koffer
Erste Frage: Wie lange sollen wir denn noch warten. Es sind 10 Jahre rum.
Zweite Frage: Haben es die Opfer nicht verdient, dass die Umstände aufgeklärt werden?
Dritte Frage: Sind sie nicht auch der Meinung dass alle Einsätze, und gerade die die schiefgelaufen sind, lückenlos aufgeklärt werden müssen, damit ggf. gemachte Fehler nicht wiederholt werden und weitere Opfer fordern?! Stichwort: Lessons Learned. – Hierzu hatte ich ja schon angemerkt, dass exakt der selbe Fehler für die Hauptverluste am Karfreitag 2010 (Sich unmittelbar neben einem Einsatzfahrzeug aufzuhalten) bereits 2 Wochen später wiederholt wurde und erneut zu unnötigen Verlusten geführt hat (am 15.April hängen sich deutsche Soldaten im Raum BAGHLAN aussen an einen EAGLE; dieser fährt auf ein IED. Ergebnis: 3 Tote und 5 Verwundete). Hätte man den Fehler am 02. April ausgewertet und im Ktgt rasch umgesetzt, hätten die Verluste am 15.April womöglich vermieden werden können. Tragisch!
Es geht doch auch gar nicht um persönliche Schuldzuweisung. Aber Fehler – gerade durch militärische Führer auf allen Ebenen – müssen im Rahmen der Einsatzauswertung zwangsläufig angesprochen werden. Ich verstehe nicht, dass heutzutage jeder alles gleich persönlich nimmt.
Es geht um gemachte FEHLER, nicht um SCHULD. Es geht darum, sich für die Zukunft zu verbessern. Krieg ist ein ernstes Geschäft. Da sollte man sich keine Fehler leisten, und schon gar nicht zweimal den selben machen. Dafür ist jeder militärische Vorgesetzte im Rahmen seiner Fürsorgepflicht verantwortlich.
Und wenn auch nur ein einziger Soldat meinen Beitrag liest und zukünftig erst mal nachdenkt, bevor er beim nächsten Mal im minengefährdeten Gebiet neben einem Einsatzfahrzeug herläuft, dann ist dieses Ziel schon erreicht.
@Memoria sagt: 10.04.2020 um 19:20 Uhr
„Haben sie zu allen anderen Themen, die sie hier kommentieren alle Fakten?“
Meistens ja oder ich kommentiere auf der Basis allgemeiner Prinzipien.
Aber hier im konkreten Fall geht es um etwas zu dem ich weder alle Fakten habe, noch bei dem es um allgemeine Prinzipien geht, die ich sinngemäß zur Anwendung bringen könnte.
Zudem berücksichtige ich im konkreten Fall die Auswirkungen auf die Kameraden und ihre Angehörigen, wenn ich spekulieren würde und dabei möglicherweise Namen in den Schmutz ziehen würde, die dies nicht verdient haben.
Und wenn ich einige Kommentare unter der Gürtellinien hier im Kommentarfaden als Beleg erwähnen darf, dann ist glaube ich eine solche Zurückhaltung auch geboten.
Am grünen Tisch und im Nachhinein weiß jeder alles besser. Aber das es um Handlungen geht, bei denen Menschen starben sollte bei der Bewertung von taktischen Entscheidungen man mEn große Zurückhaltung walten lassen.
Wenn es nun um Lernumgebungen geht, also an Truppenschulen, dann hat der grüne Tisch seine Berechtigung, denn hier werden Führer geschult um sie auf ihre zukünftige Aufgabe vorzubereiten.
Da müssen nicht immer alle Fakten stimmen, denn den geistigen Denkprozess kann man auch mit fiktiven Fakten oder teilrichtigen Fakten auslösen.
Aber hier in einem öffentlichen Forum ist das etwas anderes.
@Sindbad sagt: 10.04.2020 um 19:24 Uhr
Wir haben nicht alle Fakten um die Vorgänge taktisch auszuwerten
Und hier ist auch nicht der richtige Ort um Taktikbesprechungen zu machen.
@Koffer:
Was für mich weiterhin als echtes Problem bleibt, ist die unzureichende Auswertung und Nachbereitung der gesamten Einsätze, des ISAF-Einsatzes in Gänze und der wesentlichen Gefechte. Damit meine ich auch nicht nur die oberflächliche Debatte in der Öffentlichkeit, sondern die komplett ausbleibende interne echte Reflexion der letzten 25 Jahre Eonsatzerfahrung. Die bisherigen Bemühungen in dem Bereich sind völlig unzureichend.
Wenigstens das sollte am Ende der vielen Diskussionen als Konsens möglich sein.
@Koffer
Es wäre m.E. ein Unding, alle Jahre erneut zum Karfreitag bzw. zum 02.April an ein Gefecht zu erinnern, ohne dabei jemals die Frage nach dem eigentlichen Ablauf zu stellen.
Die veröffentlichten Fakten – es sind nicht allzu viel, aber sie reichen für eine grobe Bewertung aus – stimmen nicht mit der allgemeinen Perzeption überein.
Ein Hinterhalt konnte zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort weder als Überraschung für die DEU Truppe gelten, noch konnte es eine von den Taliban lange geplante großangelegte, komplexe Operation sein.
Die Taliban konnten an diesem Tag gar nicht wissen, dass sich abgesessene Teile in ihr Dorf verirren würden und eine Drohne verloren gehen würde. Es war ein typischer ‚hasty ambush‘ auf ein ‚target of opportunity‘. Die Taliban haben sich genau so verhalten, wie man es von ihnen erwarten konnte.
Die DEU Verluste wären bei der Durchführung des eigentlichen Auftrags (IED-Sweep) gar nicht aufgetreten. Keiner würde heute vom 02.April 2010 sprechen.
Die DEU Verluste an diesem Tag sind überhaupt nicht einem taktisch überlegenen Vorgehen der Taliban und schon gar nicht einer angeblichen ‚Überlegenheit‘ der Taliban geschuldet, sondern sie sind einzig Ergebnis der folgenden tragischen Ereigniskette:
Schwache Teile des GOLF Zuges verlegen nach ISA KHEL – Eine Kleindrohne wird eingesetzt – die Kleindrohne geht verloren – man sucht die Kleindrohne abgesessen – man sucht die Kleindrohne nach Abbruch einer ersten Suche weiter – Soldaten marschieren beim Ausweichen im Pulk unmittelbar neben dem DINGO her.
Nur DIESE unglückselige Handlungskette hat dazu geführt, dass wir seit 10 Jahren von einem ‚Karfreitagsgefecht‘ sprechen, die Verluste und Opfer beklagen und jedes Jahr erneut dran erinnern. Kein einziges Glied dieser Kette hatte mehr etwas mit dem ursprünglichen Auftrag zu tun.
Der ursprüngliche Auftrag der Truppe ist beim ‚Karfreitagsgefecht‘ komplett irrelevant.
Es sollte erlaubt sein auf diese Tatsache hinzuweisen und ein alternatives Narrativ des ‚Karfreitagsgefechts‘ anzubieten, nämlich dass die Verluste in dem tatsächlichen Umfang vermeidbar gewesen wären – und das nicht erst mit Wissen im Nachhinein. Wie sagt der Unterführer doch in der Aufnahme der Helmkamera deutlich hörbar: „Nicht alle auf einen Haufen!“
Und ich setze gleich noch einen drauf:
Im Nachgang des Gefechts wurden heissgeschossene Rohre des G36 moniert und sogar unter öffentlichem Aufschrei eine Untersuchung gestartet. (Motto: Das Gewehr war schuld. Wie war das gleich noch mit der Badehose und dem Schwimmen…?) Das G36 wird sogar für die Bundeswehr nicht mehr weiter beschafft werden, obwohl man keinen Makel gefunden hat. Dabei sieht man auf den Helmkamera-Aufnahmen deutlich Schussabgaben ohne erkennbaren Feind. Waren da jetzt also wirklich so viele Ziele? Bei der hervorragenden Optik des G36 hätte ISA KHEL von toten Taliban gepflastert sein müssen, wenn man da die Rohre heisschiessen hätte müssen. Am Ende war die Munition knapp geworden…tote Taliban habe ich iZm dem Karfreitagsgefecht aber nirgends gesehen.
Die hier in mehreren Kommentaren vertretene Position, man dürfe bei Verlusten nicht nach dem Ablauf des Geschehens fragen, teile ich nicht. Gerade dann muss m.E. eine nähere Betrachtung erfolgen.
@Memoria sagt: 10.04.2020 um 20:58 Uhr
Zustimmung. Wir haben nur sehr wenig Gefechtserfahrung, aber die sollten wir besser (oder in vielen Fällen überhaupt) auswerten.
Darüber hinaus müssten wir wieder dazu übergehen fremde Gefechtserfahrungen besser auszuwerten und in unsere Vorschriften und die Ausbildung einfließen zu lassen.
Das was wir derzeit machen ist sträflich und nur durch die wenig blutzehrenden Einsätze der letzten 20 Jahre erklärbar. Aber wenn wir einmal wieder in einen hochintensiven Einsatz müssen, werden wir dies bitterlich zu bezahlen haben :(
Für mitlesende Zivilisten
Das „Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr“
hat einen „Sonderdruck der „Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung“:
„Gefallen und verwundet im Kampf. Deutsche Soldaten im Karfreitagsgefecht 2010“ von Chris Helmecke, 2/2018, veröffentlicht.
Ich finde den Beitrag gelungen, weil er Abkürzungen mindestens einmal ausschreibt und dadurch die beschriebene Ausgangslage, sowie die Darstellung des Gefechts auch für mich als Zivilperson verständlicher ist.
Im zweiten Teil wird auf Soldat und Mensch eingegangen, als auch eine Einordnung für die Bundeswehr vorgenommen, ohne dabei in den Soldat-Tod-Held-Mythos zu verfallen.
Insgesamt finde ich den Beitrag sowohl informativ als auch würdig gedenkend, wodurch er als Einstieg in das Thema „ Karfreitagsgefecht“ gut geignet ist.
[Nun gut. Diese Darstellung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ist hier in den Kommentaren zuvor mehrfach erwähnt worden. Link wäre hilfreich, hier ist er:
http://zmsbw.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/sonderdruckfreitagsgefechtinternetgesamt.pdf
T.W.]