Das neue Weißbuch: Ein paar Beobachtungen

Ursula von der Leyen

Den Begriff Münchner Konsens, das muss ich zugeben, habe ich am (heutigen) Mittwoch erstmals gehört: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bezeichnete damit bei der Vorstellung des vom Bundeskabinetts beschlossenen neuen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr die Vorstöße, die sowohl sie selbst als auch Bundespräsident Joachim Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor zweieinhalb Jahren bei der Münchner Sicherheitskonferenz gemacht hatten. Deutschland müsse und werde international mehr Verantwortung übernehmen, auch militärisch – so der damalige Tenor der Reden.

Diese Haltung, so von der Leyens Aussage, werde auch künftig die Sicherheitspolitik Deutschlands bestimmen, und sie führe zu einer Sicherheitspolitik als gesamtstaatliche Aufgabe. Und so steht es dann auch gleich in den einleitenden Sätzen des neuen Weißbuchs:

Deutschland ist ein in hohem Maße global vernetztes Land, das aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bedeutung, aber auch angesichts seiner Verwundbarkeiten in der Verantwortung steht, die globale Ordnung aktiv mitzugestalten. Deutschland wird zunehmend als zentraler Akteur in Eu- ropa wahrgenommen. Diese Wahrnehmung schafft ihre eigene Realität – im Sinne wachsender Handlungsmöglichkeiten, aber auch mit Blick auf die daraus resultierende Verantwortung.

Die ganze Vorstellung des neuen Grundlagendokumentes durch die Ministerin gibt es hier zum Nachhören. Da es in allen Medien ein Top-Thema ist, beschränke ich mich auf ein paar Beobachtungen:

• Mehr Engagement der Bundeswehr in internationalen Einsätzen könnte künftig auch eine andere Herangehensweise bedeuten – und einen Abschied von der bisherigen Praxis, multinationale Einsätze in Systemen kollektiver Sicherheit (gemäß Artikel 24 Abs.2 des Grundgesetzes) nur auf etablierte Strukturen wie die Vereinten Nationen, die NATO oder die EU zu stützen. Die Formulierung dazu im Weißbuch:

In jüngster Zeit nimmt die Zahl der Einsätze und Missionen zu, die ein verzugsloses und konsequentes Handeln erfordern. Bei Maßnahmen gegen Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Menschen- und Drogenhandel auf hoher See, aber auch bei kurzfristigen Unterstützungen von Partnern im Rahmen von Stabilisierungseinsätzen ist immer wieder eine schnelle Reaktion geboten. Dabei kommt es zunehmend zu Ad-hoc-Kooperationen von Staaten.
Gerade in Fällen, in denen die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein militärisches Vorgehen ohnehin vorliegen (etwa in Form einer Unterstützungsbitte der jeweiligen Gastregierung) und die daher auch keiner weiteren völkerrechtlichen Ermächtigung bedürfen, wird die Einbindung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zunehmend schwierig.
Angesichts der gestiegenen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands müssen wir in der Lage sein, auch diesen Herausforderungen gegebenenfalls im Wege des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte kurzfristig Rechnung zu tragen.

Ein erster Schritt in diese Richtung war die deutsche Beteiligung an der internationalen Koalition gegen ISIS – die nach Ansicht der Bundesregierung zwar durch ein Mandat der Vereinten Nationen legitimiert ist, aber ob sie dadurch auch ein System kollektiver Sicherheit ist, bleibt eine noch offene Frage.

Auf meine Nachfrage sagte von der Leyen, diese Aussage im Weißbuch bedeute keinen Abschied von der Vorgabe des Grundgesetzes. Da bin ich gespannt, ob das vielleicht eines Tages vor dem Verfassungsgericht geklärt werden muss und/oder kann.

• Das in der großen Koalition umstrittene Thema Bundeswehreinsatz im Inneren ist in der vom Bundeskabinett gebilligten Fassung des Weißbuchs weitgehend entschärft. Nun hebt die Formulierung darauf ab, dass die Bundeswehr üben können soll, was ihr nach der Gesetzeslage und den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch als Einsatz möglich ist:

Der Einsatz der Streitkräfte hat damit auch im Zusammenhang mit heutigen Bedrohungslagen zur wirksamen Bekämpfung und Beseitigung katastrophischer Schadensereignisse in den engen Grenzen einer ungewöhnlichen Ausnahmesituation nach der geltenden Verfassungslage seine Bedeutung. Es ist wichtig, an den Schnitt- stellen der im Katastrophenfall zusammenarbeitenden Bundes- und Landesbehörden weiter an einer guten Zusammenarbeit zu arbeiten und diese im Rahmen von Übungen vorzubereiten. Hierauf muss im Rahmen einer gemeinsamen verantwortungsvollen Sicherheitsvorsorge in unserem Land Verlass sein.

Der Ansatz klingt nachvollziehbar, interessant wird die Umsetzung. Die Ministerin kündigte an, darüber werde es recht bald mit den Bundesländern Gespräche geben, zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière – und dabei werde ganz konkret besprochen, wie die federführende Polizei und die Bundeswehr solche Situationen trainieren könnten. Interessant ist, welche Länder nach Angaben von der Leyens als erste Interesse an einer solchen Kooperation angemeldet haben: Neben dem schwarz-rot regierten Saarland das von einer grün-schwarzen Koalition regierte Baden-Württemberg mit einem grünen Ministerpräsidenten.

• Das Weißbuch entstand im Wesentlichen vor dem Brexit – aber wer der Ministerin zuhört, konnte fast den Eindruck haben, der vorgesehene Austritt Großbritanniens aus der EU werde den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik noch beschleunigen. Jetzt seien Kooperationen und Planungen möglich, die vorher so nicht möglich waren, wir haben lange Rücksicht nehmen müssen auf Großbritannien, sagte von der Leyen. Deutschland und Frankreich könnten jetzt mit einer Initiative zu einer strukturierten Sicherheitszusammenarbeit in Europa ganz anders vorgehen.

• Im Zusammenhang mit Europa: Es gab vor der Beschlussfassung über das Weißbuch noch ein Aufregerthema, das allerdings in dem Wortlaut des am Ende vereinbarten Textes viel von seiner Brisanz verliert: Die mögliche Öffnung der Bundeswehr für EU-Ausländer. Die Formulierung:

Nicht zuletzt böte die Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Robustheit der Bundeswehr, sondern wäre auch ein starkes Signal für eine europäische Perspektive.

Schon der Konjunktiv macht deutlich: Das ist nichts, was in den nächsten ein, zwei Jahren passieren wird. Und die Verteidigungsministerin will das auch nicht als eine deutsche Version der Fremdenlegion verstanden wissen – das wäre genau das Gegenteil -, sondern als ein mögliches Mosaiksteinchen eines auch in der Sicherheitspolitik zusammenwachsenden Europas.

Eine begründete Vermutung: Diese Könnte-Formulierung wird auf längere Zeit nicht praktisch umgesetzt werden, allein schon deshalb, weil auch die Steuerungs- und Entscheidungsmechanismen für den Einsatz von Streitkräften noch weit von einer gemeinsamen europäischen Regelung entfernt sind. Das Thema taugt allein schon deshalb nicht zu einer streitigen Debatte; warum es auch sonst nicht das große Problem ist, als das es bisweilen diskutiert wird, ist hier ganz schön erklärt.

Das Weißbuch bleibt uns ja noch eine Weile erhalten, und vermutlich werden sich noch viele interessante Detailformulierung für weitere Debatten anbieten.

(Foto: von der Leyen bei der Vorstellung des Weißbuchs in der Bundespressekonferenz – Thomas Trutschel/photothek.net)