Zwischenruf: Vergesst Afghanistan.

Um den schmählichen Auftritt der Bundesregierung beim Thema Afghanistan am (heutigen) Montag zu würdigen, muss man sich mal kurz die Fakten des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch vor Augen führen. Mit 862 Soldaten (Stand 21. September) ist es nach wie vor der größte Auslandseinsatz der deutschen Streitkräfte. 725 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Mazar-e Sharif im Norden stationiert, um die afghanischen Streitkräfte zu unterstützen und zu beraten. Drei Heron-Drohnen können – noch ist ja nicht Winter – die interessanten Gebiete rund um die Uhr im Auge behalten. Und im Hauptquartier der Mission Resolute Support in Kabul sitzt der deutsche Generalleutnant Frank Leidenberger als Chef des Stabes.

Als das reicht aber offensichtlich nicht aus, um rechtzeitig Informationen über eine der vermutlich erfolgreichsten Taliban-Operationen seit Monaten, wenn nicht seit Jahren nach Deutschland gelangen zu lassen. Am frühen Montagmorgen begannen die Aufständischen eine koordinierte Attacke auf die Provinzhauptstadt Kundus und nahmen sie fast ein (die Lage ist wechselhaft, ob Kundus an die Taliban gefallen ist, bleibt zur Stunde unklar). Das ist nicht nur der weitreichendste Angriff auf eine afghanische Provinzhauptstadt, das ist auch ein Angriff auf eine Stadt, die wie kein anderer afghanischer Ort für das deutsche Engagement am Hindukusch steht – auch wenn die Bundeswehr schon lange abgezogen ist.

Die Bundesregierung jedoch weiß von alledem nichts. Von dem Großangriff der Taliban, erklärten der Sprecher des Verteidigungsministeriums und die stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes fast wortgleich, hätten sie keine eigenen (Er)Kenntnisse. Nur in den Medien war halt was dazu zu lesen.

Nun kenne ich Leidenberger lange genug persönlich und weiß aus zahlreichen Besuchen um die Professionalität der Truppe, um recht sicher zu sein, dass die Bundeswehrsoldaten den Angriff auf Kundus nicht verpennt haben. Sondern vermutlich ziemlich genau im Bilde sind und das auch nach Potsdam ans Einsatzführungskommando und/oder ans Ministerium in Berlin gemeldet haben.

Wenn aber Verteidigungsministerium wie Auswärtiges Amt bestreiten, aus eigenen Quellen etwas über die Lage in Kundus zu wissen, kann das nur eines bedeuten – die klare Haltung: Geh‘ mir weg mit Afghanistan. Ein Einsatz, der keinen mehr interessiert; ein Einsatz, bei dem allen Beteuerungen der gesamten Bundesregierung zum Trotz kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Schließlich gibt es wichtigere Probleme – von der Lage in Syrien (und den dadurch befeuerten Flüchtlingsströmen) bis zum Streit über die Doktorarbeit einer Ministerin.

Falls sich noch jemand erinnert: Im Kosovo stehen noch immer knapp 700 Bundeswehrsoldaten, das weiß auch kaum jemand. Jetzt wird der nächste Einsatz mental entsorgt. Vergesst Afghanistan.

Nachtrag: Da jetzt die Abschrift der Bundespressekonferenz vorliegt (das Audio dazu gibt es hier), die entsprechende Passage mit keinen Erkenntnissen von BMVg-Sprecher Jens Flosdorff und der stellvertretenden AA-Sprecherin Sawsan Chebli sowie Regierungssprecher Steffen Seibert:

FRAGE: Es gibt heute Berichte über massive Angriffe der Taliban auf Kundus. Welche Erkenntnisse haben Sie darüber? Diese Frage richtet sich an den Vertreter des BMVg.
Wie muss man das bewerten? Denn das war ja der Kern des deutschen Engagements in Afghanistan. Das Ziel war Stabilisierung. Muss man es im Nachhinein so sehen, dass genau dieses Ziel überhaupt nicht erreicht wurde und die Opfer im Grunde umsonst gewesen sind?

FLOSDORFF: Ich habe keine Erkenntnisse, die ich Ihnen dazu mitteilen könnte.

ZUSATZFRAGE: Die Frage nach der Bewertung richtet sich dann an das AA oder Herrn Seibert. Hat eine Stabilisierung der Region stattgefunden? Hat sich der Einsatz dort gelohnt?

CHEBLI: Natürlich haben auch wir das, was Sie erwähnten, gehört. Wir beobachten die Lage in Afghanistan sehr aufmerksam. Die Sicherheitslage ist seit einigen Wochen angespannt. Es hat immer einmal wieder Anschläge seitens der Taliban gegeben. Aber wir müssen auch sehen, dass es den afghanischen Sicherheitskräften in der Vergangenheit doch immer wieder gelungen ist, zu verhindern, dass weite Landesteile von den Taliban eingenommen werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind weiterhin grundsätzlich in der Lage, den Aufständischen entgegenzutreten und Großstädte sowie die wichtigsten Verkehrswege, die die Taliban immer wieder zu blockieren versuchen, unter Kontrolle zu halten.
Über die Frage, wie wir jetzt unser Engagement bewerten, hat der Kollege Schäfer, so meine ich, vor einigen Wochen hier bereits ausgeführt. Wir sind mit den Amerikanern im Gespräch. Wir beobachten die Entwicklung gemeinsam mit den Amerikanern und den NATO-Alliierten und werden uns beim Außenministertreffen im Dezember zum weiteren Vorgehen in Afghanistan beraten. Ich kann Ihnen deshalb hier auch keine abschließende Bewertung dazu geben, was passiert, nachdem das Mandat endet. Aber wir sind in sehr intensiven Gesprächen mit den Amerikanern, um gemeinsam zu schauen, wie wir unser Engagement dort weiterhin vollziehen können.

FRAGE: Herr Seibert, Frau Chebli, sind die 14 Jahre in Afghanistan für die Bundeswehr eigentlich ein Erfolg?

STS SEIBERT: Ich empfehle Ihnen vielleicht als Einstieg in das Thema die Lektüre des Fortschrittsberichts Afghanistan, der Ende des vergangenen Jahres von der Bundesregierung vorgelegt wurde. Er zieht eine Bilanz unseres gesamten Engagements, das immer mehr als ein rein militärisches Engagement gewesen ist. Das ist ein sehr interessanter Bericht, der natürlich Licht und Schatten aufweist. Wir wissen, wie Frau Chebli es gerade gesagt hat, dass in einigen Situationen noch erhebliche Herausforderungen bestehen, gerade was die Sicherheitslage betrifft. Das betrifft aber auch nicht das ganze Land Afghanistan.
Insofern ist das nicht ganz leicht zu sagen. Aber wer sich mit den Details dessen befasst, was politisch, zivilgesellschaftlich, auf dem Bildungssektor und in einigen Landesteilen auch bei der Herstellung von Sicherheit erreicht worden ist, der wird sicherlich auch Licht sehen.

ZUSATZFRAGE: Ist es geplant, dass die Bundeswehr erst dann abzieht, wenn Sicherheit in allen Landesteilen gegeben ist?

STS SEIBERT: Wir folgen zunächst einmal den Beschlüssen des NATO-Gipfels, der die Dauer der Folgemission Resolute Support mit Ende 2016 festgelegt hat. Wir wissen auch, dass bis dahin noch zahlreiche unterstützende Maßnahmen notwendig sind. Wie weit dann noch über diesen Zeitpunkt hinaus ein Einsatz oder Maßnahmen erforderlich sein werden, müssen wir dann zu gegebener Zeit mit unseren internationalen Partnern besprechen. Deutschland wird dabei keinen Alleingang unternehmen, sondern wir werden die Lage mit den Partnern zusammen sehr genau analysieren und zu gemeinsamen Beschlüssen kommen.

FRAGE: Frau Chebli, Sie haben gerade gesagt, die ANSF sind in der Lage, die Großstädte unter Kontrolle zu halten. Die heutigen Meldungen aus Kundus deuten auf das exakte Gegenteil hin. Insofern kann ich Ihre Aussage nicht ganz nachvollziehen.
Noch die Frage an Herrn Seibert: Was ist mit dem Fortschrittsbericht 2015?

CHEBLI: Ich habe Ihnen ja gesagt, dass die Sicherheitslage angespannt ist. Bisher ist es den afghanischen Sicherheitskräften jedenfalls gelungen, Großstädte unter Kontrolle zu halten.
Ich habe das, was Sie erwähnt haben, heute Morgen ebenfalls in den Medien gelesen. Ich habe dazu keine eigenen Erkenntnisse. Wir wissen es nicht im Detail. Wir haben gelesen, dass die Lage sehr angespannt ist und die Taliban versuchen, verschiedene Großstädte einzunehmen. Ich kann das nicht bestätigen.
Aber in der Vergangenheit – deshalb ist es richtig, was ich gesagt habe – ist es den afghanischen Sicherheitskräften immer wieder gelungen, die Taliban zurückzuschlagen. Was jetzt passiert, wie weit die Taliban gehen und wie sich die Lage gegenwärtig ganz aktuell darstellt, weiß ich nicht. Wir beobachten die Lage aber aufmerksam. Unsere Leute sind sehr nah daran.

STS SEIBERT: Herr Wiegold, ich kann Ihnen jetzt aus dem Stand nicht genau sagen, wann der Fortschrittsbericht vorgelegt werden wird. Das ist ja üblicherweise immer gegen Ende des Jahres passiert. Wir haben den ersten im Dezember 2010 und die anderen dann eben in den entsprechenden Abständen vorgelegt, sodass ich annehme, dass es auch erst einmal wieder Ende des Jahres werden muss; aber ich weiß es, ehrlich gesagt, im Moment nicht.

CHEBLI: Ich weiß es auch nicht. Das können wir aber nachliefern, wenn es dazu ein Datum geben sollte.

ZUSATZ: Dann würde ich um die Nachlieferung an alle bitten.

CHEBLI: Gut. Wenn es geht, dann ja.

STS SEIBERT: Wir tun immer das Mögliche.

FRAGE: Frau Chebli, verhandelt man gerade noch mit den Taliban?

CHEBLI: Deutschland verhandelt nicht mit den Taliban.

ZUSATZFRAGE: Aber gibt es westliche Gespräche?

CHEBLI: Es gab jedenfalls Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, die, glaube ich, gerade etwas ins Stocken geraten sind. Die Bundesregierung ist jedenfalls der Meinung, dass es wichtig ist, dass diese Gespräche stattfinden.

ZUSATZFRAGE: Obwohl Taliban-Kämpfer …

CHEBLI: Ich habe dem, was ich gesagt habe, nichts hinzuzufügen.