Afghanistan: Bei den Milizen in Kundus
#Afghanistan’s Kunduz – a quicksand of instability. @AFP’s report https://t.co/pwbBJHU1Yi Photos by @shahmarai pic.twitter.com/vN23r0aI5D
— Anuj Chopra (@AnujChopra) June 1, 2015
Weil’s hier doch einige (wenn inzwischen auch eher wenige… ) interessiert, was in Kundus in Nordafghanistan läuft, der kurze Hinweis auf einen aktuellen Bericht der Nachrichtenagentur AFP:
With Afghan forces suffering record casualties as foreign troops pull back, Kabul is increasingly relying on former mujahideen strongmen with chequered pasts as a bulwark against the insurgents — a gambit observers say is akin to fighting fire with fire.
Powerful among them is Mohammed Omar — popularly known by his battlefield moniker Pakhsaparan for his touted ability to flatten walls — who controls hundreds of fighters in his fiefdom on the banks of the Khanabad River in Kunduz province.
„This is a people’s uprising,“ said Pakhsaparan, with a trimmed snow-white beard and a deep booming voice as he showcased his militia to AFP in Kunduz city, wielding assault rifles, lugging rucksacks with RPG warheads and draped in bandoliers of ammunition.
Nachtrag: Dazu passt auch diese Reuters-Story: In Mazar, Afghans enjoy life as fighting draws near
Danke, das sie am Ball bleiben.
So kann man wenigstens kontinuierlich Anspruch/Wirklichkeit vergleichen.
Schliesslich haben wir dort mal unsere Freiheit verteidigt.
Und 850 tun dies immer noch.
Was mir als Afghanistan- Laien bei diesen Herren sofort ins Auge fällt ist die Bügelfalte der Kleidung der Milizionäre, die im starken Kontrast zu deren stark gebrauchten Waffen steht. Die Burschen können einem leid tun. Die werden die Taliban nicht lange aufhalten.
An der Stelle sei dann nochmal der sehr lesenswerte Artikel „Security alliances crumble in Kunduz“ empfohlen, den T.W. ja bereits auf Twitter geshared hat.
Kernaussagen:
– In Nordafghanistan sind die Aufständischen sind trotz ausländischer Kämpfer vor allem ein lokales Phänomen
– Die Aufständischen sind eng mit Teilen des Regierungsapparats verflochten (der AFP-Bericht weist ja auch darauf hin, dass die Aufständischen an Staatswaffen kommen). In die Entführungen und Bombenanschlägen in Kundus-Stadt sollen Regierungsbeamte verwickelt sein.
– Der Gouverneur Mohammad Omer Safai versucht zwar den Laden in Ordnung zu bringen, hat dabei aber anscheinend weder die Unterstützung des lokalen Regierungsapparats noch die von Kabul.
– Der Konflikt zwischen den Milizen von Mohammad Omar „Pakhsaparan“ (um dens im AFP-Artikel geht) und Mir Alam. Beide mit Verbindungen zu Aufständischen-Netzwerken und in die Regierung. Und beide wiederholt am Seitenwechseln um sich mehr Einfluss zu sichern. (Mehr dazu auf AAN: Security in Kunduz Worsening Further: The case of Khanabad“)
Bei keinem dieser Punkte spielt die Bewaffnung eine große Rolle – die ist auf allen Seiten ziemlich ähnlich.
Und vor allem hätte die Bundeswehr nichts zur Lösung der obigen Probleme beizutragen. (Auch in der Vergangeheit hat sie sich ja vorgeblich aus allem politischen rausgehalten. Die Konsequenzen sieht man jetzt ja.)
@Rado: Da bin ich mir nicht ganz so sicher. Diese Miliz-Kämpfer leben schon genau so lange in Afghanistan wie die Taliban und geben sich sicher keinen Illusionen hin. Die sind schließlich auch im Krieg aufgewachsen und kennen ihr Land und ihre Gegner. Die Waffen der Taliban/Drogenhändler/Warlords sehen wohl auch nicht besser aus.
@All: Was ich mich frage ist jedoch (und vielleicht kann mir da jemand hier aushelfen): Welche Motivation haben die Milizen eigentlich?
Wenn die regional verwurzelt sind, wird ihr Interesse sicher der Schutz ihrer Familien bzw. Dörfer sein, eher nicht die Treue zur Zentralregierung, denke ich mir. Und dieser Schutz ließe sich auch über Absprachen mit den Taliban erreichen. Und überhaupt: Müssten solche Lokalkräfte nicht an einer Schwächung der Zentralregierung interessiert sein?
Ich würde mal probieren, den einzelnen Volksgruppen (und uU Teilgruppen/Stämmen) in Afghanistan eine Art semi-Autonomie in Aussicht zu stellen, solange sie (durchaus mit Hilfe) intern für Ruhe sorgen und brav ihre Steuern bezahlen.
Es wird immer gesagt, Afghanistan habe eine Stammes-Kultur. Warum hat man nicht über den Ansatz nachgedacht, eine Art Stammeskonföderation mit gewähltem Repräsentanten zu bilden? Vielleicht wäre man auf weniger lokale Widerstände gestoßen, wenn man eine gewisse Selbstständigkeit in Aussicht gestellt hätte. Gab es dazu mal Überlegungen?
Shura.
Das Rad dreht sich! und die Geschichte wiederholt sich.
@Mufflon
Nur wenn sie den Taliban trauen sich nicht bei denen in die Nesseln gesetzt haben.
Wem genau unterstehen die LSF/Milizen eigentlich? Sind die unter der Kontrolle von Kabul/der Provinz oder sind das eher Leihgaben der Warlords?
@ Mufflon
Welche Motivation haben die Milizen eigentlich?
Natürlich sich selbst zu schützen, und sich Einfluss zu sichern. Konkurrent sind dabei vor allem andere lokale Gruppe. (Mohammad Omar “Pakhsaparan” macht zum Beispiel Mir Alam für den Bombentod von 14 Familienangehörigen verantwortlich.)
„Regierung“ und „Taliban“ sind dabei vor allem Patronage-Netzwerke bzw. Verbündete, denen man sich anschliesst um Mittel und Einfluss zu gewinnen. Natürlich funktioniert das umso besser, je schwächer diese vor Ort sind: Umso mehr sind sie auf die örtliche Gruppe angewiesen, desto mehr kann diese fordern und sich rausnehmen. Und dass dabei tatsächlich mal „die Seiten gewechselt“ wird, um zu zeigen welchen Schaden man anrichten kann, und wie angewiesen man doch auf die Gruppe ist, ist dabei nicht ungewöhnlich. (Wenn beispielsweise der zukünftige Polizeichef mit ner Wagenladung Drogen erwischt wird, dann macht der erstmal ordentlich Terror um zu zeigen das es ohne ihn nicht geht, und kriegt den Posten dann doch.)
Und ja, mit der Erkenntnis, dass die Konfliktparteien für Unterstützung in einem Konflikt bezahlt werden, und das Lösen des Konflikts für diese womöglich negative Konsequenzen hat, sind sie schon weiter als mancher CT-Verfechter hier. ;)
(Falls das Thema interessiert, empfiehlt sich: „Security Aid and the Counterterrorism Racket“ und das dort verlinkte Paper.)
Eine weitere Dimension, und im Fall Kunduz eine wesentliche, ist dass die meisten Fraktionen die irgendwie offiziellen Einfluss haben grob den ehemaligen Warlords der Nord-Allianz zugerechnet werden können (Jamiat, teils Hezb). Gemeinden, die nicht teil dieses Netzwerks sind, sind letztlich machtlos, sowohl inoffiziell wie offiziell. Dass die sich anderswo nach Schutz und einem Stück vom Kuchen umschaun ist wenig verwundetlich.
Und wenn man sich anschaut, wo überall die Aufständischen bei der Frühjahrsoffensive Druck machen konnten, dann findet man da einen Haufen altbekannter Regionen: Chardarrah, Gor Tepa, Imam Sahib etc. (mehr etwa auf AAN: „ANSF Wrong-Footed: The Taleban offensive in Kunduz“).
Da wird dann auch schnell klar, dass das Setzen auf die alte Warlord-Riege die Probleme nicht lösen wird.
Vielleicht wäre man auf weniger lokale Widerstände gestoßen, wenn man eine gewisse Selbstständigkeit in Aussicht gestellt hätte.
Auf jeden Fall. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich für einen Top-Down-Ansatz entschieden (weil vermeintlich billiger, weil vermeintlich leichter zu kontrollieren) und ist damit ziemlich auf die Nase gefallen. Nicht zuletzt weil Gouverneure von Kabul eingesetzt werden, und die eher ein Interesse haben sich dort beliebt zu machen (etwa durch das Erwirtschaften von Schmiergeld), als bei der örtlichen Bevölkerung. Die Schwäche des Systems geht soweit, dass lokal erfolgreiche und beliebte Akteure eben nicht mit Aufstieg rechnen können, sondern eher mit einer Versetzung vernab ihrer Basis um sie ruhig zu stellen. Umgekehrt können selbst unfähigste Akteure an der Macht bleiben, solange nur der Draht nach Kabul stimmt.
Es gibt zwar Provinzräte. Diese haben aber keine Vollmachten und nur beratende Funktion. Auf Distriktebene sieht es noch düsterer aus.
Es gibt ein deutliches Demokratie- und Rechenschafts-Defizit. Und ich seh nicht, wie ein friedlicher Interessenausgleich möglich sein sollte ohne das anzugehen.
Dabei ist es ja nichtmal so, als wären Afghanen irgendwie zu blöd dafür. Es gibt in Afghanistan eben nicht nur Gemeinde-Rivalitäten, sondern eben auch eine Konsens-Kultur und informelle demokratische Strukturen.
Nur bringt das halt alles wenig, wenn sich eine örtliche Bande dank Waffengewalt und Schutz von oben rausnehmen kann was sie will.
@Mufflon
Aber das ist doch dann keine lupenreine Demokratie nach westlichem Vorbild und damit auch de facto eine schlechte Regierungsform und daher auf keinen Fall denkbar!
*IronieOff*
An der Stelle nochmal der Hinweis auf das AAN-Dossier zur Sicherheitslage in Kunduz: „Thematic Dossier VIII: The evolution of insecurity in Kunduz“. Auch die älteren Paper sind lesenswert, weil sie einen Überblick über die Akteure und die strukturellen Sicherheitsprobleme in der Provinz bieten.
Eine persönliche Leseempfehlung für Interessierte mit etwas mehr Zeit wäre das Buch „War comes to Garmser“. Ist zwar eine andere Region (mit stärkerem Taliban-Einfluss), aber zeigt sehr gut wie afghanische Sicherheitspolitik aus erstere Hand aussieht, auf welchen Ebenen wie agiert wird, wo die Stärken und Schwächen der Taliban liegen und wie sich internationale und afghanischen Institutionen oft selbst der größte Feind sind.
Beide Quellen zeigen auch, dass der Schwerpunkt des politischen Geschehens in Afghanistan eben auf der Gemeinde-Ebene liegt. Darüber hinausgehend Netzwerke oder Konsens für gemeinsames Handeln zu entwickeln ist anstregend, genauso wie das reinregieren von außen in die Gemeinden.
Nicht zuletzt deswegen ist das Gerede von „Volksgruppen“ und „Stämmen“ auch so ne Nullnummer. Die Zersplitterung setzt deutlich unterhalb an, und bei den Bündnissen spielt Ethnie eine sehr nachrangige Rolle.
M.E. unlösbar.
Aber das wussten wir schon länger.
Einen Afghanen kann man nur mieten aber nicht kaufen.
Wer thematisch noch tiefer einsteigen möchte, dem sei dieses Buch von 1988 empfohlen:
http://press.princeton.edu/titles/4280.html
Auch wenn es sich nicht primär mit AFG beschäftigt, erklärt es die Eigendynamiken zwischen den einzelnen Regierungsebenen in einem „Staat“ mit nicht voll entwickelten Institutionen sehr gut – insbesondere warum sich die „Staatsinstitutionen“ regelmäßig selbst im Weg stehen.
@J.R.: Danke für die ausführliche Antwort und die Literaturhinweise.
Es läuft also wieder alles auf die (Ent-)kolonialisierung zurück. Eine gewisse Komik lässt sich nicht verleugnen, oder? Nach westlichem Staatesverständnis haben wir Staaten, deren Grenzen wir selbst nach eigenen Interessen oder gänzlich willkürlich gezogen haben, als souverän anerkannt. Nun versagen diese künstlichen Gebilde und dasselbe westliche Staatenverständnis verbietet uns, die unsinnigen Grenzen zu korrigieren. Stattdessen bauen wir auf die Kooperation mit schwachen Zentralregierungen von failed states, die so nie hätten existieren sollen, um die Symptome unserer Fehler zu bekämpfen. Ende nicht in Sicht.
Aber genug schwadroniert, ich hätte da noch zwei Fragen:
„Da wird dann auch schnell klar, dass das Setzen auf die alte Warlord-Riege die Probleme nicht lösen wird.“
Aber auf denn dann? Wenn die demokratische Zentralherrschaft nach westlichem Vorbild versagt und eine dauerhafte militärische Besatzung (defacto Rekolonialisierung) politisch keine Option ist – auf wen könnte man dann setzen, außer auf bereits etablierte lokale Eliten? Jedes Dorf der Selbstverwaltung überlassen ginge bei der Sicherheitslage ja auch nicht. Die wären nicht lange selbstverwaltend.
„Nicht zuletzt deswegen ist das Gerede von “Volksgruppen” und “Stämmen” auch so ne Nullnummer. Die Zersplitterung setzt deutlich unterhalb an, und bei den Bündnissen spielt Ethnie eine sehr nachrangige Rolle.“
Kann man das so allgemein sagen? Was ist mit den Paschtunen? Die haben doch, trotz Stammeskultur, auch eine Nationalbewegung, oder nicht? Und wenn man denen, statt sie durch die Afgh.-Pak.- Grenze zu spalten, einen eigenen „Staat“ eingeräumt hätte, wären sie vielleicht nicht zur Rekrutierungsgrundlage für Islamisten geworden. Soweit aber nur meine Überlegung dazu.
Letzten Endes sind solche Gedanken natürlich Traumtänzerei, aber in letzter Zeit frage ich mich verstärkt, wie Afghanistan sich wohl entwickelt hätte, würde Ahmad Schah Massoud noch unter den Lebenden weilen …
Jedenfalls finde ich es gut, dass Sie den Hindukusch auch weiterhin im Blick behalten, Herr Wiegold. Schließlich wird er uns Deutsche wohl noch ziemlich lange verfolgen. Auf welche Weise auch immer.
Uns interessiert so vieles, mich sogar auch KFOR und das Kosovo, auch wenn man darüber nicht viel hört. Aber für eine 1-Mann-Seite ja auch nicht möglich über alles zu berichten, aber denke da bin ich auch nicht der Einzige, der wissen möchte, wie es da aktuell aussieht und ggf. weitergeht.