‚Fortschrittsbericht Afghanistan‘: Bundesregierung sieht ‚mangelnden politischen Willen‘ in Kabul

Wenn die Bezeichnung Fortschrittsbericht Afghanistan für den jährlichen Bericht der Bundesregierung an den Bundestag nicht festgelegt wäre, hätten sich die beteiligten Ressorts vielleicht eine etwas weniger optimistische Überschrift für ihre ausführliche Meldung zur Lage am Hindukusch  ausgedacht. Denn trotz unbestreitbarer Fortschritte, die mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in Afghanistan erreicht wurden. scheint es in einem ganz wichtigen Punkt nicht wirklich vorwärts zu gehen. Augen geradeaus! liegt der Bericht vor, der am kommenden Mittwoch im Bundeskabinett verabschiedet werden soll. Die Kernaussage zu Staatswesen und Regierungsführung:

Die internationale Staatengemeinschaft hat ihre Hilfszusagen u.a. auch an Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung und bei der Regierungsführung geknüpft. Gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sind jedoch Ziele, deren flächendeckende Umsetzung noch aussteht. Das liegt sowohl an der Schwäche der afghanischen Institutionen als auch an mangelndem politischen Willen. Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme hemmen den Aufbau und die Entwicklung Afghanistans. Korruption stellt dabei das größte Hindernis dar. Die afghanische Regierung hat sich wiederholt zur Korruptionsbekämpfung verpflichtet. (…) Allerdings gibt es anderthalb Jahre nach dem Präsidialdekret kaum Fortschritte zu verzeichnen: Laut des Korruptionsindexes von Transparency International gehört Afghanistan mit Somalia und Nord-Korea auch 2013 zu den korruptesten Ländern der Welt. (…)
Die afghanische Regierung und  Justiz tun sich unverändert schwer damit, die für Korruption Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Aber auch bei der Gesetzgebung gibt es weiterhin Versäumnisse.

In einer Linie mit Somalia, einem zerfallenen Staat, und Nord-Korea – das ist gemessen an der diplomatischen Sprache des Berichts eine mehr als vernichtende Kritik. Aber Korruption ist bei weitem nicht das einzige Problem. Im Bericht der Bundesregierung werden auch die Probleme der Frauen aufgegriffen, vor allem basierend auf den Erkenntnissen der UN. Und die ohnehin angespannte Situation könnte noch schlimmer werden:

Vertreter der Zivilgesellschaft und Frauenorganisationen äußern sich besorgt, dass Frauenrechte im Friedens- und Versöhnungsprozess mit Ex-Kriegsfürsten und Taliban aufgegeben werden könnten. Die Bundesregierung wird ihren Einfluss geltend machen, damit Frauenfragen angemessene Berücksichtigung finden, wenn Friedensverhandlungen mit den Taliban tatsächlich in Gang kommen.

An dieser Formulierung finde ich, vielleicht ungerecht, eines am Interessantesten: Die Absicht der Bundesregierung, Friedensverhandlungen mit den Taliban aktiv zu begleiten. Vielleicht habe ich das bislang überhört?

Immerhin gibt es auch positive Meldungen:

In der vergangenen Dekade wurden beim zivilen Wiederaufbau des Landes nach Jahrzehnten des Kriegs und Bürgerkriegs deutliche Fortschritte gemacht. Den meisten Afghaninnen und Afghanen geht es heute deutlich besser als vor zehn Jahren. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf hat sich von 700 US-Dollar im Jahr 2002 auf 1.400 US-Dollar im Jahr 2011 verdoppelt. Mehr Menschen als zuvor haben heute Zugang zu Wasser und Strom, ärztlicher Versorgung und Bildung. Die Lebenserwartung ist deutlich angestiegen. Zahlreiche Straßen, Brücken, Bewäserungskanäle und andere zerstörte Infrastruktur wurden rehabilitiert oder neu gebaut und erhebliche Fortschritte beim Aufbau von Verwaltung und rechtsstaatlichen Strukturen erzielt. Gleichwohl wird Afghanistan die Vorgaben der Milleniumsentwicklungsziele (Millenium Development Goals, MDG) der Vereinten Nationen bis 2015 nicht erreichen.

Pardon, das heißt: Von der Grenze, unter der die Menschen verhungern, ist es auf eine Einkommenshöhe bitterer Armut gestiegen. Und auch das gehört als bitterer Beigeschmack zur scheinbar positiven Meldung: Was an Wirtschaftsentwicklung da ist, dürfte mit dem Abzug oder der Reduzierung der internationalen Truppen deutlich zurückgehen. Da ist der Bericht recht klar:

Die afghanische Wirtschaft steht 2014 vor großen Herausforderungen. Mit dem Abzug der ISAF-Truppen bis ende 2014 werden sich der Zufluss externer Ressourcen und die Nachfrage nach Dienstleistungen reduzieren. Das afghanische Wirtschaftswachstum ist analog dazu zwischen 2012 und 2013 bereits von 12 Prozent auf ca. 3 Prozent zurückgegangen und wird den Rückgang externer Zuflüsse auch perspektivisch nur schwer kompensieren können. Davon ist insbesondere der Dienstleistungssektor betroffen. Die Weltbank schätzt, dass bis zu 80.000 Personen ihren Arbeitsplatz bei ISAF verlieren könnten.

Und die Sicherheit – das, was aus deutscher Perspektive am meisten interessiert? Da gibt es laut Bericht eine ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage* in den Bevölkerungszentren und entlang der bedeutsamen Verkehrsinfrastruktur. In diesem Bereich würden immerhin rund 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben. Im Umkehrschluss: Die Taliban und andere Regierungsfeindliche Kräfte (RFK) beherrschen Teile des Landes. Wo aber weniger Menschen leben. Und warum leben dort weniger Menschen? Die Zahl der Binnenvertriebenen ist im Laufe des Jahres 2013 auf einen neuen Höchststand von 590.000 Personen bzw. 92.000 Familien gestiegen, heißt es in dem Fortschrittsbericht.

Etwas detaillierter zur Sicherheitslage für das deutsch geführte ISAF-Regionalkommando Nord:

Besonderes Kennzeichen der Sicherheitslage im Regionalkommando Nord bleibt die enge Verstrickung von RFK mit Kräften der Organisierten (Drogen-) Kriminalität (O(D)K, aber auch mit lokalen bzw. regionalen Machthabern. Das führt zu einer schwer zu durchschauenden Gemengelage, geprägt von unterschiedlichen Motiven, bei gelegentlich aber auch gemeinsamen Interessen von RFK und O(D)K. Beide Gruppen haben Interesse an zeitlich und räumlich befristeteter Zusammenarbeit bzw. der Duldung von Aktivitäten der jeweils anderen Gruppe. Auch daher bleibt die Sicherheitslage im Regionalkommando Nord heterogen.
Entscheidend für Nordafghanistan ist, dass die ANSF [Afghan National Security Forces, T.W.] in den bevölkerungsreichen Gebieten und entlang der wichtigen Hauptverkehrsachsen eine „überwiegend kontrollierbare“ beziehungsweise in den Räumen mit mittlerer und erheblicher Bedrohung eine zumindest „ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage“ gewährleisten und damit ihre Schutzfunktion wahrnehmen konnten. Eine Ausnahme stellen die südwestlichen Distrikte der Provinz Faryab dar, die tendenziell durch eine „überwiegend nicht kontrollierbare Sicherheitslage“ gekennzeichnet sind.

Das mit dem Südwesten Faryabs hatte ich bislang so noch nicht wahrgenommen. Und es wird sicherlich interessant zu hören, wie der Regierungssprecher am Mittwoch nach dem Kabinett die Lage in Afghanistan öffentlich bewertet.

* Nach den gescheiterten Versuchen, die Zahl der Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und ISAF-Truppen als Maß für die Sicherheitslage zu nehmen – sei es, weil die afghanischen Zahlen als unzuverlässig eingeschätzt wurden, sei es, weil der dabei gezählte Anstieg der Anschläge einer positiven Entwicklung zu widersprechen schien –, hat sich eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe auf eine neue qualitative Bewertungsmethode der Sicherheitslage in Afghanistan verständigt. Sie wird seit einigen Wochen auch für die Unterrichtungen des Verteidigungsministeriums für das Parlament verwendet und nun auch in dem Fortschrittsbericht:

Kontrollierbare Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage eines Raumes gilt als kontrollierbar, wenn bestehende Bedrohungen keine Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghanischen Bevölkerung, der afghanischen Regierung und der Vertreter der internationalen Gemeinschaft darstellen. Es ist gegenwärtig keine Verschlechterung der Sicherheitslage zu erwarten. Die Autorität der afghanischen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen ist gegeben.

Überwiegend kontrollierbare Sicherheitslage: Die Sicherheitslage eines Raumes gilt als überwiegend kontrollierbar, wenn bestehende Bedrohungen
eine nur geringe Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghanischen Bevölkerung, der afghanischen Regierung und der Vertreter der internationalen Gemeinschaft darstellen. Dies kann eine räumlich und zeitlich eng begrenzte Verschlechterung der Sicherheitslage einschließen. Die Autorität der afghanischen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen steht nicht nachhaltig in Frage.

Ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage eines Raumes gilt als ausreichend kontrollierbar, wenn bestehende Bedrohungen eine Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghanischen Bevölkerung, afghanischen Regierung und der Vertreter der internationalen Gemeinschaft darstellen. Dies kann eine
räumlich und zeitlich begrenzte Verschlechterung der Sicherheitslage einschließen. Die Autorität der afghanischen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen wird weiterhin grundsätzlich anerkannt.

Überwiegend nicht kontrollierbare Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage eines Raumes gilt als überwiegend nicht kontrollierbar, wenn bestehende Bedrohungen eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghanischen Bevölkerung, afghanischen Regierung und der Vertreter der internationalen Gemeinschaft darstellen. Es ist kurzfristig keine Verbesserung der Sicherheitslage zu erwarten. Die Autorität der afghanischen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen steht in Frage.

Nicht kontrollierbare Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage eines Raumes gilt als nicht kontrollierbar, wenn bestehende Bedrohungen die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der afghanischen Bevölkerung, afghanischen Regierung und Vertreter der internationalen Gemeinschaft drastisch einschränken oder unterbinden. Es ist gegenwärtig keine Verbesserung der Sicherheitslage zu erwarten. Die Autorität der afghanischen Verwaltungs- und Regierungsstrukturen ist de facto nicht gegeben.

(Foto: Blick auf Kabul – Adam Blackburn via ISAFmedia auf Twitter unter CC-BY-Lizenz)