Vorbelastet in den Einsatz

Gut zweieinhalb Jahre nach ihrer ersten Studie zur psychischen Erkrankung von Bundeswehrsoldaten an einer post-traumatischen Belastungsstörung (PTBS) im Auslandseinsatz haben die Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden eine Folgestudie vorgestellt. An den relativ niedrigen Raten von PTBS-Erkrankungen unter deutschen Soldaten hat sich offensichtlich nichts geändert; dafür kommen die Forscher zu einem anderen alarmierenden Ergebnis: Ein Fünftel aller für die Studie befragten Soldaten ging mit einer meist nicht erkannten psychischen Störung in den Einsatz – und hatte damit ein vier- bis sechsmal höheres Risiko, mit einer einsatzbezogenen neuen psychischen Erkrankung zurückzukehren. Zugleich neigten Soldaten dazu, bei solchen Problemen aus Angst vor Stigmatisierung keine professionelle Hilfe zu suchen.

Die Bundeswehr ist offensichtlich auch in dieser Hinsicht ein Spiegel der Gesellschaft: Die 20 Prozent mit psychischem Erkrankungen, so heißt es in einer Erklärung der Bundespsychotherapeutenkammer zu dem Dresdner Ergebnis, entsprächen dem Anteil unter der männlichen Gesamtbevölkerung. Und eine – erfolgreiche – Behandlung stehe auch einem erneuten Einsatz nicht im Wege: Es spricht nichts dagegen, dass ein Soldat, der psychisch krank war, aber erfolgreich behandelt wurde, seinen Dienst weiter fortsetzt – und auch an Auslandseinsätzen teilnimmt. Ein Einsatzverbot bei psychischen Vorerkrankungen wäre inakzeptabel. Sonst dürften z. B. Notärzte, die ebenfalls ein erhöhtes Risiko haben, einem traumatischen Erlebnis ausgesetzt zu werden, ihrer Arbeit nicht weiter nachgehen.

Die Wissenschaftler der TU Dresden unter Prof. Hans-Ulrich Wittchen analysierten für ihre Studie die Ergebnisse einer Querschnittsbefragung (das war die oben verlinkte aus dem Jahr 20119 und einer darauf folgenden Längsschnittstudie unter den Soldaten des 26. und 27. ISAF-Kontingents in den Jahren 2011 und 2012. Als positives Ergebnis beider Befragungen stellten die Forscher heraus, dass weitgehend unabhängig von den erlebten belastenden und traumatischen Erlebnissen und Erfahrungen mehr als zwei Drittel aller Soldaten ohne klinisch bedeutsame Störungen aus dem Einsatz zurückkehren.

Wesentliche Auszüge aus der Zusammenfassung, die Wittchen und sein Team am (heutigen) Dienstag vorgelegt haben (Hervorhebung von mir):

Die Teilnahme an Auslandseinsätzen ist für die Soldatinnen und Soldaten mit häufigen belastenden Ereignissen verbunden. 24,2% aller Einsatzsoldatinnen und -soldaten haben mindestens ein traumatisches Ereignis im Einsatz erlebt, 13 % mehr als drei Trauma-Ereignisse. Mit geringen Abweichungen bestätigte sich dieser Befund auch in der Längsschnittstudie.
2,9 % der im 20. und 21. Kontingent ISAF in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten kehrten mit einer PTBS zurück (12-Monats-Prävalenzrate). Davon war ein Drittel erstmalig an einer PTBS erkrankt. Dies entspricht gegenüber der Kontrollgruppe einem 2 bis 4-fach erhöhtem PTBS-Risiko. Auch dieses Ergebnis betätigte sich in der Längsschnittstudie (kein statistisch signifikanter Unterschied). Allerdings war in der Längsschnittstudie die einsatzbedingte Neuerkrankungsrate an einer PTBS noch etwas geringer als in der Querschnittstudie: 12 Monate nach Einsatzrückkehr waren 9 Soldaten (1,8%) von einer PTBS betroffen. Die Inzidenzrate (erstmaliges Neuauftreten im oder nach dem Einsatz) betrugt 0,4%.
Neben dem Risiko einer PTBS bestand allerdings zusätzlich ein wesentlich höheres Risiko für andere einsatzbezogene psychische Störungen, insbesondere für Angststörungen und die Alkoholerkrankungen. Auch dies bestätigte sich eindrucksvoll in der Längsschnittstudie: 3,6% erkrankten neu an Angststörungen, 1,8% an affektiven (insbesondere Depression) und 1,5% an Alkoholstörungen.
Zusammen ist hervorzuheben, dass weitgehend unabhängig von den erlebten belastenden und traumatischen Erlebnissen und Erfahrungen mehr als zwei Drittel aller Soldaten ohne klinisch bedeutsame Störungen aus dem Einsatz zurückkehren.
Kampftruppen – vor allem am Einsatzort Kunduz – wiesen im Vergleich zu anderen Einsatzsoldatinnen und -soldaten der Studienpopulation eine erhöhte PTBS-Wahrscheinlichkeit sowie ein höheres Risiko an anderen psychischen Störungen auf.
Es konnte kein stetiger Zusammenhang des psychischen Erkrankungsrisikos mit Einsatzdauer festegestellt werden. Soldaten mit kurzen (unter 3 Monaten) sowie angedeutet, solche mit langen Einsätzen (über 6 Monate), haben ein relativ erhöhtes Erkrankungsrisiko.

Inanspruchnahme, Versorgung und Behandlung
Obwohl das Vorliegen einer psychischen Störung gemäß der internationalen Kriterien von DSM-IV zumindest Abklärungs- und Interventionsbedarf implizieren sollte, wurden in der Querschnittstudie nur 18% definitiv erkannt und erhielten zumindest eine niederschwellige Therapie, während 44% aller Betroffenen mit einer diagnostizierten psychischen Störung weder erkannt, noch diagnostiziert oder behandelt wurden (Dunkelziffer 45%). Auch dieser Befund wurde in der Längsschnittstudie erhärtet; hier lag die Behandlungsrate bei nur 10,3% – keiner der PTBS-erkrankten Fälle wurde im Zeitraum 12 Monate nach dem Einsatz erkannt oder behandelt.
Vertiefende Analysen deuten an, dass von den betroffenen Soldaten offensichtlich massive Barrieren wahrgenommen werden, die sie davon abhalten, sich gegenüber den zuständigen Diensten mit ihrem Leiden zu offenbaren. Demgegenüber spielen objektive Hinderungsgründe, wie „kein Dienst vorhanden, Wartezeiten oder schlechter Zugang“ eine eher untergeordnete Rolle.
Die dem Einsatz vorausgehenden vorbereitenden und dem Einsatz folgenden nachbereitenden Maßnahmen werden überwiegend als positiv, angemessen und zielführend beurteilt. Lediglich bei den psychisch vorbelasteten Soldaten ergab sich diesbezüglich ein abweichendes und weniger positives Bewertungsbild.

Risikofaktoren für einsatzbezogene psychische Störungen
Wichtigster Prädiktor für einsatzbedingte psychische Störungen war neben dem Ausmaß an belastenden Einsatzereignissen eine bereits vor dem Einsatz bestehende psychische Störung. Jeder fünfte Soldat ging – in beiden Studienteilen – bereits mit einer manifesten, aber zumeist nicht erkannten psychischen Störung in den Einsatz. Die Verlaufsanalysen ergeben für die Gruppe der unerkannt „vorbelasteten“ Soldaten ein 4 bis 6-fach höheres Risiko mit einer einsatzbezogenen neuen psychischen Erkrankung zurückzukehren, bzw. im Falle episodischer Erkrankungen, wie der Depression, neuerlich eine Krankheitsepisode zu erleiden.
Im Vergleich zum Faktor „vor dem Einsatz bestehende psychische Störungen“ erwiesen sich alle übrigen geprüften Faktoren als statistisch wenig relevant. Dies gilt für weit zurücklegende Ereignisse, wie belastende oder traumatische Kindheitserfahrungen, ebenso wie für Persönlichkeitseigenschaften, einsatzbezogen erfahrene Kohäsion in der Truppe, wie auch experimentell erhobene Variablen der Kognition und kognitiv-affektiven Regulation.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Das Problem der einsatzbezogenen PTBS – mit einer Inzidenz von etwa 1% und einer 12-Monatsprävalenz von 2-3% – erreicht bei Weitem nicht das Ausmaß, wie es aufgrund früherer Befürchtungen erwartet wurde. Dieses Ergebnis wurde in der prospektiven Längsschnittstudie auch in der vertieften Analyse eindrucksvoll bestätigt.
Bei Anlegen gleicher methodischer Standards sind die PTBS-Raten der deutschen Soldatinnen und Soldaten etwas, aber nicht bedeutsam niedriger als bei britischen, jedoch gravierend niedriger als bei amerikanischen Soldatinnen und Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan im Einsatz waren.
Wesentlich unterschätzt hingegen wurde das Risiko anderer einsatzbezogener psychischer Störungen. Auslandseinsätze der Bundeswehr gehen mit einem hohen Belastungsausmaß – einschließlich traumatischer Ereignisse – einher, die offensichtlich massiv:
Das Ersterkrankungsrisiko für Angststörungen sowie
den Beginn einer Alkoholabhängigkeit erhöhen.
Zudem haben Soldaten mit einer Vorgeschichte an affektiven Störungen ein erhöhtes Risiko wiederum eine depressive Episode zu erleiden.
Es finden sich ferner Hinweise darauf, dass nach dem Einsatz vorbelastete Soldaten häufiger multimorbid erkranken.
Einsatzbezogene psychische Störungen werden nicht hinreichend frühzeitig erkannt, selten diagnostiziert und behandelt. Dies gilt sowohl für die Inanspruchnahme bundeswehrinterner wie auch außerhalb der Bundeswehrstrukturen aufgesuchter Dienste. Obwohl das Vorliegen einer psychischen Störung gemäß der internationalen Kriterien von DSM-IV zumindest Abklärungs- und Interventionsbedarf implizieren sollte, wurden in der Querschnittstudie nur 18% – in der Längsschnittstudie nur 10% – erkannt und behandelt.
Unter Anlegen äußerst liberaler Kriterien für „Behandlung“ (=zumindest einmaliger Kontakt zum professionellen System) kann die Dunkelziffer für PTBS und andere psychische Erkrankungen auf etwa 50% geschätzt werden.
Wegen der geringen Fallzahlen können aus der Studie keine Aussagen zur Qualität oder Akzeptanz spezifischer pharmakologischer oder psychotherapeutischer Methoden bei der Behandlung erkrankter Soldaten in oder außerhalb der Bundeswehr getroffen werden.
Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist der herausragende Stellenwert psychischer Vorerkrankungen. Diese erweisen sich – ungeachtet vieler weiterer Faktoren, die das Risiko einsatzbezogener psychischer Störungen mit beeinflussen (z.B. Grübelneigung, im Einsatz erfahrene Gruppen-Kohäsion etc) – als machtvoller und stärkster Prädiktor für einsatzbedingte Folgeerkrankungen.
Für die Bundeswehr ergibt sich daraus die Herausforderung eines verbesserten klinisch-diagnostischen Screenings vor Einsätzen, um bereits vor dem Einsatz bestehende psychische Störungen zu erkennen. Ziel eines solchen Screenings sollte primär sein, den Betroffenen das Vorliegen einer psychischen Störung ebenso wie das sich daraus ergebene erhöhte einsatzbezogene gesundheitliche Risikopotential bewusst zu machen. Daran anschließend sollte eine vertrauliche Beratung evtl. angezeigter präventiver oder therapeutischer Schritte erfolgen. Keinesfalls ist es Ziel führend, so ermittelte unerkannte psychische Störungen aktenkundig zu machen, da dies die Gefahr der Stigmatisierung oder potentieller Laufbahnnachteile in sich birgt. Es sind also einerseits geeignete, z.B. aus der Studie selbst abgeleitete gezielte diagnostische Verfahren zu erproben sowie andererseits angemessene Handlungskonsequenzen aus derartigen Befunden zu entwickeln.
Ebenso zentral ist der Befund der Studie, dass betroffene Soldaten offensichtlich massive Barrieren wahrnehmen, die sie davon abhalten, sich gegenüber den zuständigen Diensten mit ihrem Leiden zu offenbaren. Demgegenüber spielen objektive Hinderungsgründe, wie „kein Dienst vorhanden, Wartezeit, oder schlechter Zugang“ eine untergeordnete Rolle. Die offensichtlich unterschätzte zentrale Rolle von empfundenem Stigma – speziell im Kontext der Bundeswehr – sollte bei der Umsetzung von Screening-Maßnahmen entsprechend beachtet werden.
Positiv ist hervorzuheben, dass die dem Einsatz vorausgehenden vorbereitenden und dem Einsatz folgenden nachbereitenden Maßnahmen von den Soldaten überwiegend als positiv, angemessen und zielführend beurteilt werden. Lediglich bei den psychisch vorbelasteten Soldaten ergab sich diesbezüglich ein geringfügig abweichendes, weniger positives Bewertungsbild.

(Archivbild April 2013: Soldaten des Gebirgsjägerbataillons 231 aus Bad Reichenhall sichern ein  Tactical PsyOps Team in Afghanistan – Andrea Bienert/Bundeswehr via Flickr unter CC-BY-ND-Lizenz)