Jung&Naiv Late Night Special: Was ist los in Ägypten?
Nach dem turbulenten Tag in Ägypten, der Entmachtung des (gewählten) Präsidenten und dem Militärputsch haben Tilo Jung und ich uns für Jung und Naiv spontan zum Gespräch mit Sultan al Qassemi verabredet, einem arabischen Blogger und Kommentator. Wir wollten wissen: Was ist da eigentlich in Kairo passiert, was bedeutet das für Ägypten, für die arabische Welt und letztendlich vielleicht auch für uns in Europa?
Das Video (aufgenommen als Google Hangout) zum Ansehen – natürlich haben wir Englisch gesprochen, weil Tilo und ich im Arabischen nicht ganz so flüssig kommunizieren…
Schön!
Jetzt wissen wir endlich bescheid.
DA SPRICHT MAN GEFÄLLIGST DEUTSCH!
Jk… Danke, dass keiner von euch einen zu starken deutschen Akzent hat, sehr gut hörbar und definitiv interessant ;)
Da haben es die Amis und die Engländer leichter beim abhören und auswerten unserer Infos. Unter Freunden ist man doch hilfsbereit. ;-)
Die internationalen Reaktionen sind Übrigends sehr zurückhaltend ausgefallen, zumindest, was die europäischen und nordamerikanischen Antworten betrifft. Die USA haben allerdings wie zu erwarten darauf verzichtet, das Wort Putsch in den Mund zu nehmen. Die arabischen Staaten überbieten sich dagegen laut AlJazeera in Lobpreisungen, u. a. mit einem schönen Statement von Herrn Assad.
Ich glaube im Übrigen, dass nicht nur die generell sinkende Wirtschaftsleistung ein Aspekt für die Intervention des Militärs gewesen ist, sondern vor allem auch das Ausbleiben der vielen Touristen. Die Armee ist ja nicht nur in der Produktion verschiedenster Güter involviert, sondern besitzt ja auch weiträumige Hotelkomplexe. Die kurzfristige Ernennung von Abdel Khayat, dem ehemaligen Mitglied von Gamaa Islamiya, als Gouverneur in Luxor, dürfte endgültig gezeigt haben, dass die Interessen des Militärs nach Stabilität und somit Grundlage für Tourismus und die Regierungsführung Morsis nicht im Einklang standen.
So funktioniert also die (erst vor gerade einmal 2 Jahren „gewonnene“) Demokratie?
Man ist nicht zufrieden-also lässt man das Militär putschen…..?
@ huey … ja
ist auch nicht ungewöhnlich für post-revolutionäre gesellschaften. herr mursi schien ähnlich wie erdogan seine position mit der eines „wahl-königs“ zu verwechseln.
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offensichtlich haben in beiden fällen weite teile der bevölkerung ein etwas anderes demokratieverständnis.
Oh, wir hatten wohl unrecht in unserer Analyse: Es war wohl doch kein Coup http://reut.rs/12IjQBP
*hust*
technische lagebeurteilungen unterscheiden sich doch des öfteren mal von diplomatischen. in der türkei hat man das putschende militär ja auch nicht zu grob angefasst, wenn es mal wieder seiner selbst zugeschriebenen wachhundfunktion nachgekommen ist.
Ein hervoragender und tiefgehender analytischer Kommentar zur Lage in :Ägypten.
Egypt: Persistent Issues Undermine Stability | Stratfor
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http://www.stratfor.com/analysis/egypt-persistent-issues-undermine-stability
„Egypt: Persistent Issues Undermine Stability is republished with permission of Stratfor
Außenminister William Hague: „Ich verurteile immer militärische Interventionen in ein demokratisches System, und hier handelt es sich um eine militärische Intervention in ein demokratisches System“. Britischer Humor ? ;-)
Zwar ist der Herr Mursi demokratisch gewählt worden, er hat aber vom Tage seiner Amtsübernahme kaum einen Zweifel daran gelassen, daß er von Demokratie wenig hält. Hätte das Volk in Deutschland in den Jahren nach ’33 da auch etwas besser aufgepaßt, wäre uns u.U. einiges erspart geblieben. An diesem Beispiel haben die Historiker das Verhalten von Demokratien schön erforschen können.
Wenn die deutsche Publizistik heute überwiegend von einem Putsch spricht, heißt das dann nicht, daß man von Volkes Meinung wenig hält und lieber einen Putsch von oben akzeptiert? Nichts anderes war die Einführung der neuen Verfassung, als sie gegen diejenigen durchgesetzt wurde, die Mubarak aus dem Amt gejagt hatten.
Gut, die ägyptische Armee hat ihre eigene Agenda, hat aber doch nur getan, wozu der Aufstand auf den Straßen Monate gebraucht hätte. Aber die Ägypter haben vor 2 Jahren ohnehin gezeigt, daß sie es satt haben, sich am Nasenring durch die Manege führen zu lassen. Das einzige für mich abschreckende Problem ist, daß die Militärführung Geschmack an dieser Wachhundrolle finden könnte. Für eine Demokratie in den Startlöchern, wie man Ägypten nach so vielen Jahren der autokratischen Herrschaft nur nennen kann, ist ein „Zurück auf Anfang“ nach einem Fehlstart nicht die übelste Alternative.
nunja. an der feststellung, dass wir hier (wieder einmal) eine putsch in ägypten beobachten durften gibt es meiner meinung nach nichts zu rütteln.
wie man das nun beurteilt ist eine andere sache. ich sehe das erstmal positiv, da mursi im wesentlichen seine brotherhood-agenda durchdrücken wollte. sowas kommt in einer stark fragmentierten post-revolutionären gesellschaft nicht immer gut an und zeugt von dem fehlenden gespür für die realen politischen verhältnisse im land.
die aktuelle herangehensweise des militärs zeugt auch von einem gewissen lernprozess bzgl des handlings von quasi-revolutionären ereignissen. wenn die sich nicht alle mit dem hammer kämmen, dürften denen die im stratforartikel schön nachgezeichneten grundlegenden probleme auch nicht entgangen sein.
das sie in diesem fall erstmal deutlich wengier auf gewalt setzen als 2011 zeigt auch, dass sie keinen konflikt mit der bevölkerung riskieren wollen, weil dann sämtliche einnahmequellen wegbrechen würde. keine militärhilfe mehr, keine entwicklungshilfe, kein tourismus.
sie können natürlich versuchen, noch ein paar jahre den finger da drauf zu halten, aber irgendwann wird dieses system aus subventionen an der steigenden bevölkerungszahl platzen.
Ich habe den Bundesregierungssprecher vorhin gefragt, ob die Bundesregierung die gestrigen Geschehnisse in Ägypten als Militärputsch bewertet:
seine Antwort: „Es sind umwälzende Ereignisse, die die Bundesregierung auch mit Sorge verfolgt, alle Seiten müssen auf Gewalt verzichten…nur schneller Übergang zu Demokratie u. Rechtsstaat kann d. Probleme lösen. Die Grundrechte aller Ägypter müssen gewahrt sein.“
Quelle: https://twitter.com/RegSprecher/status/352789712374743040
https://twitter.com/RegSprecher/status/352789848983207936
ich bin mal gespannt, ob „wir“ (= EU) da ne einheitlich europäische linie in der außenpolitik hinbekommen.
der Standpunkt: „klar war das ein putsch, aber wir können das nicht so nennen“ scheint ja erstmal tagesparole zu sein.
p.s.: diese wortakrobatik erinnert mich auch dezent an die spitzfindigkeiten darüber was denn nun ein krieg sei …
Viele Ägypter stehen wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand, was parallel zu einem Anstieg von Lebenmittel- und anderen Grundbedarfsmittel-Preisen eine revolutionäre Situation geschaffen hatte. Auch Demokratie kann man nicht essen, und dass ein demokratisches System, dass sich praktisch nicht bewährt hatte, von der Mehrheit der Menschen aufgegeben wurde, gab es auch schon in Deutschland.
In Ägypten ist jedem klar, dass dort ein Staatsstreich stattgefunden hat, und in Kairo findet die überwiegende Mehrheit der Menschen das gut. Dem Militär wurde zugejubelt. Nun muss das neue System vor allem beweisen, dass es für niedrige Brotpreise und Arbeitsplätze sorgen kann, und kann Sorgen über Menschen und ähnliches für die Masse der Menschen nachrangiges Gedöns westlichen Journalisten überlassen.
Was mich beschäftigt ist folgendes:
Man hat einen nach einer Revolution demokratisch gewählten Präsidenten.
Jetzt kommt die nächste Revolution, und schon wird er abgesetzt.
Was kommt als nächstes: Neue Wahlen, wieder wird ein Kandidat der religiösen gewählt, die Mehrheit gab es ja schon mal.
Und jetzt?
Die Demonstrationen fanden in den Städten statt, hier kann man von einem höheren Anteil der jüngeren und gebildeten Bürger ausgehen.
Auf dem Land finden anscheinend eher die Muslimbrüder Anhänger.
Also geht es neu los, oder verstehe ich das falsch, dass anscheinend der Großteil der Wahlberechtigten rechts stimmten, dies aber nicht anerkannt wird?
Oder zählt eine Mehrheit nur wenn sie auch richtig stimmt?
Werferfehler
@Werferfehler: Wenn der demokratisch gewählte Präsident sich als erstes daran macht, die Demokratie zu beschneiden, ist er zwar gewählt, aber kein Demokrat.
Ägypten übt noch Demokratie und nach der langen Abstinenz kann man es ihnen sicher nicht verdenken, daß nicht gleich der erste Versuch ein Volltreffer wird. Allerdings liegt das Versuchsfeld nun in ungünstigem Gelände und die Chancen für den nächsten Versuch sind schwieriger als beim ersten Mal.
Das man sich daran stört dass es nach der “ Revolution “ nicht den direkten Umschwung zu einer Demokratie gegeben hat, wundert mich. Deutschland hat immerhin in 2 Weltkriegen, ein Kaiserreich und 2 Diktaturen fressen müssen und musste nebenbei noch von der kompletten Entwickelte Welt besetzt werden, um zu begreifen, dass Demokratie und Kapitalismus die einzigen Mittel zum größtenteils zufriedenstellenden Miteinander sind.
Die Ägypter müssen halt solange ausprobieren, bis es passt, kritisch wird es nur wenn das ganze zu Lange dauert, dann verlieren sie entweder die Motivation oder man vergisst was zuvor für Fehler begangen wurden und man macht die selben Fehler noch einmal.
Deshalb denke ich das es gut ist, dass es jetzt Schlag auf Schlag kommt, die Aktuelle Generation erlebt live mit, dass weder Militär Autokraten noch Islamisten die Lage zum besseren verändern. Hoffentlich werden die wirtschaftlichen Probleme dazu führen das nun liberale Gedanken Einzug halten. Und das man sich mal an dem Land im Nahen Osten orientiert, welches A ein Rechtsstaat ist, B eine Demokratie, C Wirtschaftlich Gesund ist und C indem die Mehrheit der Menschen nicht danach Strebt ihre Feinde in einem Gotteskrieg zu vernichten, und wo Mann und Frau auch einfach voll und ganz glücklich sein dürfen.
@Iltis: Als alter Kenner des blockfreien Jugoslawiens (seit 1971,. Frau seit 1962, Schwiegerleute seit 1957) und noch heute guten Freunden sowie beruflichen Verbindungen zu Kroatien, darf ich zwei Dinge sagen:
1990 war ich kurz vor dem 1ten Saddam-Krieg beruflich in Ägypten und bin samt Hubschrauber unter abendteuerlichsten Bedingungen im Sept. 1990 abgehauen, aber zuvor habe ich das Rad der Geschichte ziemlich kapiert und Vieles hat mich an „Yugo“ erinnert. Egal ob sozialer Wohnungsbau, oder Produktivität der Industrie, oder auch Einbettung der subventionierten „Airline Captains“ in ein sozial priviligiertes, aber dennoch grenzwertiges Gefüge. Das ging weiter bis zum primitiven Stolz ins Fladenbrot, fünfmal am Tag, davon dreimal zum Wegschmeissen. Nach europäischer „Ehre zum Brot“ ein „Waste“!
Militärs – wir hatten auch einen teils „mitfliegenden“ Verbindungsoffizier der Ägyptischen Armee – und über deren Privilegien muss man erst gar nicht reden. Die Revolution braucht ihre „Demokratur“ um mit Abschaffung „alter Privilegen“ zur Demokratie zu finden.
Das mag in Ägypten beim ersten Anlauf zwar schief gegangen sein, ist aber eher Pech und Lehre, denn neue Systemlosikeit. Siehe Franjo Tuđman in Kroatien, und dort hat es auch Jahre bis zur echten Demokratie gedauert bzw. vorher wären die Probleme nicht gelöst oder eine gesunde Basis nicht geschaffen.
@ werferfehler
die mehrheit für mursi könnte genauso eine chimäre sein wie die für erdogan.
das die beide nüber 50% erreicht haben bedeutet nicht, dass deren kernwählerschaft ebenfalls 50% der bevölkerung ausgemacht hat.
in der türkei haben viele aKP gewählt weil sie eine glaubhafte alternative zu den korrupten vorgängern darstellen konnten. diese wähler sind jetzt auch enttäuscht und verbrüdern sich mit der opposition
in Ägypten boten die muslimbrüder ebenfalls eine glaubwürdige alternative zu einem noch nicht etablierten parteienspektrum. darum haben viele eher säkular eingestellte politiker und wähler für die bruderschaft partei ergriffen, unter der bedingung das diese dann einem breiten bündnis vorstehen und andere kräfte mit an die macht ziehen.
in beiden fällen war irgendwann die schmerzgrenze dieser taktischen wählerschaft überschritten.
@Vtg-Amtmann: Mich müssen Sie nicht überzeugen. Ich weiß, daß man eine Demokratie nicht in einem Zug aus dem Boden stampft. Der Boden will gepflügt werden, wenn man ernten will. Offenbar geht das nicht ohne eine Runde Kleinholz. Mit anderen Ländern verglichen geht es derzeit in Ägypten doch recht friedlich zu. Von Bürgerkrieg ist noch lange keine Rede.
@Frank: Welches Land haben Sie denn da im Auge, in dem Milch und Wein fließen und es Manna gibt bis zum Abwinken? Ich dachte, ich käm‘ gleich drauf, es will mir aber nicht gelingen.
Und wenn der Kapitalismus dereinst zu den Segnungen der Menschheit gerechnet werden will, muß er sich ein deutliches Stück in Richtung soziale Gerechtigkeit bewegen. Da Kommunismus und Sozialismus sich beide diskreditiert haben, fehlt dem Kapitalismus das Ausgleichsgewicht auf der sozialen Seite. Ohne dieses wird er kippen, das werden tausend Geheimdienste auf Dauer nicht verhindern.