Einfach mal erklärt: Abschreckung, Verteidigung, Eindämmung

Wer sich mit der Materie befasst, kann meistens erklären, was Abschreckung eigentlich bedeutet. Oder Verteidigung. Oder, da wird es schon komplizierter, Eindämmung. Mein Co-Podcaster Frank Sauer hat einfach mal aufgeschrieben, wie man das mal einfach erklären kann – auch für die, die sich sonst damit nicht beschäftigten. Sozusagen als kleine Argumentationshilfe.

Abschreckung. Verteidigung. Eindämmung. Begriffe, die (leider) mit Blick auf Russland wieder eine entscheidende Rolle spielen. Was sie bedeuten – und was aus ihnen folgt. Eine kurze Darstellung in einfachen Worten, gedacht für Laien und für wenn am Wochenende die Oma fragt.

Abschreckung beruht auf der Androhung von Strafe, um damit das Verhalten eines Gegners zu beeinflussen. Er soll von unerwünschtem Verhalten abgehalten werden, weil er einsehen muss, dass dieses sich für ihn nicht lohnt. Abschreckung gelingt, wenn ich die Fähigkeiten dazu habe, dem Gegner schmerzhafte Vergeltung zuzufügen, sollte er mich angreifen. Und, wenn ich ihm glaubwürdig vermittle, dass ich im Falle der Fälle meine Vergeltungsdrohung auch wirklich wahr mache.

Konventionelle Abschreckung hat keine übermäßig solide Erfolgsbilanz. Wenn Staat A 100 Panzer hat, und Staat B hat 110 Panzer, dann heißt das noch lange nicht, dass Staat B damit Staat A auch sicher abschreckt, weil er aufgrund seiner zusätzlichen Panzer den Angriff As garantiert zurückschlagen und den Krieg sicher gewinnen würde. Logistik, Training, Technologie, Moral, Führung, Gelände, Wetter, Glück, Pech – viele Faktoren entscheiden in der konventionellen Kriegsführung mit. Krieg ist keine Rechenoperation. Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen können dazu führen, dass eine Seite einen Krieg anfängt, von dem sie eigentlich hätte abgeschreckt sein sollen. Putin dachte zum Beispiel, dass er in drei Tagen Kyjiw einnehmen kann. Tja.

Trotzdem ist konventionelle Abschreckung als Faktor natürlich nicht unbedeutend – mit Blick auf unseren Fall hier in Europa vor allem deswegen, weil die Situation nicht nur aus Staat A und Staat B besteht, sondern weil der Staat Russland die ganze NATO als Gegenüber hat.

Gemäß der mit Russland getroffenen Vereinbarungen stationierte die NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts keine größeren und dauerhaften Truppenkontingente in den ehemaligen Sowjet- und dann neuen NATO-Staaten (auch keine Nuklearwaffen übrigens). Daher rotierte Deutschland ins Gastland Litauen bislang stets nur rund 1.000 SoldatInnen. Andere NATO-Staaten taten das gleiche für Estland, Lettland, Polen. Die Idee hinter dieser Präsenz: einen „Stolperdraht“ spannen! Greift Russland an, wäre unweigerlich die NATO involviert! In diesem Fall stünde Artikel 5 des NATO-Vertrags im Raum, der besagt, dass ein Angriff auf ein Land ein Angriff auf alle ist. Achtung: Der NATO-Rat berät und beschließt. Artikel 5 ist kein Automatismus! Er wurde bislang nur einmal „aktiviert“ – um den USA nach 9/11 beizustehen.

Der alte Plan war also wie folgt: Würde der kleine Stolperdraht – z.B. in einem der baltischen Staaten – ausgelöst und Beistand nach Artikel 5 ausgerufen, dann würden alle NATO-Mitgliedsstaaten (militärisch) zur Hilfe eilen und das überfallene NATO-Land befreien. Die NATO-Präsenz hatte also eine doppelte Funktion: Die baltischen Staaten und Polen schreckten Russland so stärker ab als sie dies alleine geschafft hätten – und für die vier war die Präsenz die Rückversicherung, im Extremfall nicht im Stich gelassen zu werden.

Der alte Plan kollabierte jedoch mit der russischen Invasion 2022 und dem entsetzlichen Leid in den besetzten ukrainischen Gebieten: Es wurde klar, dass es für Staaten inakzeptabel ist, Russland Territorium zeitweilig besetzen zu lassen und dieses erst später zu befreien. Um sich als Land also nicht erst überrennen (und seine Bevölkerung ermorden, foltern, vergewaltigen, verschleppen) lassen zu müssen, soll fortan die konventionelle Abschreckung durch mehr Verteidigungsfähigkeit unterfüttert werden. Quasi „Brandmauer statt Stolperdraht“. Das Baltikum und Polen sollen jetzt von Anfang an auf ihrem Territorium wirksam verteidigt werden. Kein Staat soll Territorium aufgeben müssen. Deswegen will die Bundeswehr nun ab spätestens 2027 auch eine Brigade (also rund 4.800 SoldatInnen) dauerhaft in Litauen stationieren.

Man sieht: die Trennlinie zwischen konventioneller Abschreckung und Verteidigung ist bisweilen unscharf. Aber es gilt die Daumenregel: Man macht konventionelle Abschreckung, um möglichst gar nicht erst in eine Situation zu geraten, in der man sich verteidigen muss.

Zwischenfazit: Wir müssen in Europa – in Deutschland – konventionell ausrüsten und aufrüsten. Das ist kacke, weil das Geld an vielen anderen Stellen benötigt wird. Aber es sollte klar geworden sein, dass Abschreckung und, im schlimmsten Fall, Verteidigung dies erfordern.

Jetzt zur nuklearen Abschreckung. Die ist besonders. Der Grund dafür liegt in der riesigen Zerstörungskraft von Nuklearwaffen. Nuklearwaffen destillieren das Konzept der Abschreckung auf seine Reinform. Wenn nämlich Staat A 100 Interkontinentalraketen hat, und Staat B hat 110, dann sind im Falle des nuklearen Schlagabtauschs garantiert beide tot. Selbst wenn beide, rein hypothetisch, jeweils einen Großteil der Raketen des Gegners vor dem Einschlag abfangen können. Nur ein paar Sprengköpfe reichen nämlich, um inakzeptable Kosten zu verursachen. Und ein paar Sprengköpfe kommen eben einfach immer durch. Es gibt keine wirksame Verteidigung gegen Nuklearwaffen. Deswegen: Pure Abschreckung.

Zufälligerweise habe ich ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie problematisch das mit der nuklearen Abschreckung in Theorie und Praxis ist, was schief gehen kann, und warum man sich nukleare Abschreckung deswegen bitte nicht als hundertprozentig stabil vorstellen darf.

Trotzdem würde ich – mehr noch als im Falle der konventionellen Abschreckung – die nukleare Abschreckung als wesentlichen, und zwar politischen mehr als militärischen, Faktor in zwischenstaatlichen Prozessen selbstverständlich niemals wegdiskutieren. Dass nukleare Abschreckung aktuell wirkt, merken wir daran, dass keine NATO-Staaten der Ukraine mit eigenem Militär zu Hilfe eilen. Wir sind abgeschreckt. Russland hat man aber auch erfolgreich abgeschreckt – deswegen sind Putins Nukleardrohungen weniger geworden.

Zu guter Letzt: Eindämmung. Dieser Begriff wurde nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt, um die Strategie des Westens zu beschreiben, mit der die Ausdehnung der Sowjetunion in Europa verhindert werden sollte. Aber Vorsicht: Russland heute ist nicht die Sowjetunion, und die nächsten Jahre werden nicht einfach eine Neuauflage des Kalten Krieges. Der Begriff ist trotzdem hilfreich, weil unter ihn Abschreckung und Verteidigung fallen, er aber noch weiter reicht. Neben den militärischen Elementen der Auseinandersetzung mit Russland, ist nämlich auch die „Grauzone“ im Spiel. Der Kreml lässt (sogar im Berliner Tiergarten) politische Morde begehen, hackt die Bundestags-IT, sät Desinformation und finanziert in ganz Europa demokratiefeindliche Parteien.

Diesem schon länger anhaltenden „hybriden Krieg“ Russlands werden wir uns in Europa zukünftig entschiedener stellen müssen. Primär schaffen wir das durch „Resilienz“ – also indem wir russische Beeinflussungsversuche am besten an uns abperlen lassen. Das gelingt, indem wir die neuen krisenhaften Realitäten anerkennen, unsere Demokratie verteidigen und unsere Werte leben, auch, aber nicht nur an der Wahlurne, indem wir online nicht jeden Unfug für bare Münze nehmen, indem der Staat kritische Infrastrukturen schützt uvm.

Das hier Gesagte gilt nur, wenn die NATO weiter geschlossen und die nuklearen Sicherheitsgarantien der USA für Europa erhalten bleiben. Worauf ich hinaus will: Sollte im November Trump zum US-Präsident gewählt werden, stehen diese Grundbedingungen auf der Kippe. So oder so müssen wir in Europa für unsere Sicherheit im konventionellen Bereich aber mehr tun – ganz gleich, wer in den USA Präsident(in) wird oder bleibt. Denn die USA konzentrieren sich längst auf China. Russland ist damit primär unser Problem, nicht das der USA. Sollte Trump die nuklearen Sicherheitsgarantien für Europa aushebeln, dann stecken wir richtig im Schlamassel. Denn Frankreich, das einzige EU-Land mit Nuklearwaffen, kann und wird nicht so ohne Weiteres einspringen. Großbritannien noch weniger.

Deswegen müssen mehr Menschen Sicherheitspolitik besser verstehen und auch mit Begriffen wie Abschreckung, Verteidigung und Eindämmung (wieder, bedauerlicherweise) etwas anfangen können. Um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Ich hoffe, dieser kurze Text hilft ein wenig dabei.

Abschließend der Versuch, ein Missverständnis zu verhindern: Natürlich braucht es immer auch Diplomatie und Friedensbemühungen. Natürlich will ich zurück zu Rüstungskontrolle, Abrüstung und auf lange Sicht hin zu einem kooperativen statt konfrontativen Verhältnis zu Russland. Aber wenn nichts Unvorhergesehenes (an ein Wunder grenzendes) passiert, dann wird sich diese Wendung zum Positiven erst in vielen Jahren, ja Jahrzehnten einstellen. So nachhaltig hat Putins Krieg Europa leider verändert. Zeitenwende! Danke fürs Lesen. Gruß an Oma.