Lektionen aus dem Krieg gegen die Ukraine: Schnell wirksame Schritte zur besseren Versorgung Verwundeter

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auf vielen Ebenen gezeigt, was ein konventioneller Krieg bedeutet – nicht zuletzt für die Zahl der Verwundeten und ihre Versorgung. Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen Jahren auf die sanitätsdienstliche Betreuung von Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen konzentriert und sieht sich mit der Orientierung auf Landes- und Bündnisverteidigung mit anderen und neuen Anforderungen konfrontiert. Sanitäts-Stabsoffizierin Dr. Stephanie Krause hat die aus ihrer Sicht wichtigsten Lektionen des Kriegs gegen die Ukraine und mögliche Schlussfolgerungen aufgeschrieben – ihre persönliche Einschätzung und Meinung, nicht die offizielle Sicht des Sanitätsdienstes der Bundeswehr:

Nach deutlich über einem Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind die Erkenntnisse über die sanitätsdienstliche Versorgung auf allen Ebenen sowohl der russischen, vor allem aber der ukrainischen Streitkräfte auch in der Truppe in Deutschland angekommen – nicht zuletzt über die Schilderungen in sozialen Medien. Inzwischen gibt es auch erste Überlegungen, was das für uns als Sanitätsdienst der Bundeswehr bedeuten kann oder besser muss. Zusammenfassend haben diese Erkenntnisse gezeigt, dass wir – medizinisch gesehen – zwar inzwischen eine der besten Einsatzarmeen für das Internationale Krisenmanagement geworden sind. Aber die Veränderung zu Streitkräften, die sanitätsdienstliche Unterstützung in Large Scale Combat Operations in der Bündnis- oder gar der Landesverteidigung stemmen können, müssen wir schneller voranbringen.

In der aktuellen Situation gilt leider, dass außer dem Feststellen von Handlungsbedarf (kein Erkenntnisproblem, wie der damalige Generalinspekteur Eberhard Zorn schon 2022 äußerte) hinsichtlich manifester Entwicklungen in sanitätsdienstlich-fachlichen Fragen sowohl in der Truppe als auch von außen wahrnehmbar nicht viel passiert zu sein scheint – abgesehen von Forderungen nach einer Umfangserhöhung der Sanitätskräfte aller Ebenen. Die Deutungshoheit über nötige fachliche Maßnahmen, bis zur infrage/in-Abrede-Stellung sanitätsdienstlicher (NATO) Grundsätze liegt derzeit (gefühlt) in der Hand des Deutschen Heeres. Natürlich wird unter Fachleuten natürlich viel und lebhaft hinter den Kulissen diskutiert, auf die Truppe wirkt sich das aber nicht unmittelbar und sichtbar aus.

Folgende Erkenntnisse aus dem Kriegsgeschehen liegen unter anderem zusammengefasst vor (die Reihenfolge bedeutet keine Bewertung):

• Überdehnte Räume und somit lange Transportwege über Land zu Fuß, Straße und Schiene mit teilweise improvisierten Transportmitteln und nicht koordinierten Spontantransporten. Lufttransport spielt so gut wie keine Rolle.
• Lange Verweildauer von hohen Verwundetenzahlen in den Sanitätseinrichtungen der verschiedenen Ebenen einschl. ganz vorne beim Verwundetensammelpunkt (Casualty Collection Point, CCP) auf Kompanieebene, mit daraus folgenden Konsequenzen wie z.B. Wundinfektionen sowie erhöhter Amputationsrate bei lang anliegendem Tourniquet.
• Permanente Überlastung der Sanitätseinrichtungen, aber auch des ersthelfenden Nicht-Sanitätspersonals, auf Grund der langen Betreuungszeiten und Anzahl der Verwundeten, einschließlich einer bestehenden Ressourcenknappheit in nahezu allen Bereichen des Sanitätsmaterials (Blut, Verbandsmittel, Medikamente u.v.m).
• Verletzungsmuster 44 Prozent im Bereich der Extremitäten mit Schuss-/ Explosions-/Splitterverletzungen sowie 32 Prozent Kopf- und Halsverletzungen, aber ein ebenso hohes Aufkommen an Infektionskrankheiten bei schlechten Unterbringungsbedingungen der Truppe.

Dazu anzumerken ist, dass die ukrainischen Streitkräfte wie die deutschen entlang einer Rettungskette von vorn nach hinten planen und die an die NATO angelehnten Definitionen nutzen, sprich vom Verwundetensammelpunkt (CCP) zur Role 4.

Die den sanitätsdienstlichen Planungsrationalen zu Grunde liegenden Ableitungen mit der Formel 10-1-2 (gem. NATO AJP 4.10: 10 Minuten bis Ersthilfe, 1 Stunde bis notfallmedizinische Versorgung, 2 Stunden bis chirurgische Erstversorgung) sowie entsprechenden Berechnungen anhand von Ausfallraten zur notwendigen Alimentierung des Sanitätsdienstes sind gemacht. Auch in diesem Krieg sterben die Menschen an bekannten Verletzungsmustern und Folgen mit Schwerpunkt in der ersten Stunde nach nach Verwundung. Die Forderungen nach einem Aufwuchs, personell und materiell, liegen auf dem Tisch und bedürfen nun einer Billigung und weiteren Umsetzung. Diese werden sich jedoch, berücksichtigt man nur die Herausforderungen bei der Nachwuchsgewinnung und dem Halten des Stammpersonals sowie die Dauer der notwendigen Ausbildungen zum Fachpersonal, in den kommenden fünf Jahren noch nicht auswirken können.

Es ist weithin bekannt und auch hinreichend öffentlich kommuniziert, dass der Ist-Zustand des Sanitätsdienstes mit der Unterstützung der Division25 bereits ein All-in erfordert (vgl. Interview mit dem Inspekteur des Sanitätsdienstes in Europäische Sicherheit und Technik vom 1. April 2020). Hier ist nun Handeln im gesamtstaatlichen und streitkräftegemeinsamen Kontext nötig.

Doch wie kann der erkannte Bedarf schneller wirksam und einfacher umsetzbar gedeckt werden?

Einige Beispiele, wie rasch Quick Wins im Sinne sicht- und spürbarer Veränderungen erzielt werden könnten:

1. Ausbildung des Nicht-Sanitätspersonals stärken
Das Nicht-Sanitäts-Personal trägt die Hauptlast der Versorgung in den ersten Minuten und auch Stunden. Hierzu befähigen wir aktuell ausgewähltes Nicht-Sanitäts-Personal im Zuge Einsatz-Ersthelfer B (EEH-B) Trainings entlang des MARCH-Schemas (Massive Hemorrhage/ Airway/Respiration/Circulation/Hypothermia) gemäß des Konzeptes Tactical Combat Casualty Care.
Bereits auf der Ebene Einsatz-Ersthelfer A (EEH A) muss allerdings der nächste Schritt getan werden. Nicht nur bedarf es einer deutlich längeren Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten. Es müssen zum einen die Abnahme eines Tourniquets und der Ersatz durch einen adäquaten (Druck)Verband sowie die Fähigkeit der Entlastung eines Spannungspneumothorax ausgebildet werden. Die in den NATO AMedP 8-12 und 8-15 festgelegten Maßnahmen stellen hier die Grundlage dar. Ebenfalls muss in der Ausbildung ein deutlich stärkerer Fokus auf Verletzungen im Schädel-Hirn- und Gesichtsbereich gelegt werden.

Der Ukraine-Krieg zeigt, dass auf Grund der langen Liegezeiten bereits im CCP medizinische Maßnahmen wie weiter gehende Wundversorgung, Gabe von Antibiotika und Blut(ersatzstoffen) notwendig sind. Es ist daher schleunigst eine erweiterte Befähigung entlang der Prolongued Casualty Care auf das MARCHH-PAWS-L (wie oben plus Head Injury/ Pain Control/ Antibiotics/ Wounds/ Splinting/ Logistics) für einen erweiterten Personenkreis der kämpfenden und kampfunterstützenden Truppe herzustellen. Hier bieten sich die EEH B an.

Dazu bedarf es im Vorfeld einer raschen juristischen Klärung, um Handlungssicherheit herzustellen, sowie einer Ausbildung des ausbildenden Sanitätspersonals. Die Ressourcen in den Ausbildungseinrichtungen, hier vor allem Zeit und Verbrauchsgüter, sind zu schaffen. Zusätzlich muss auch das Thema palliative Betreuung Sterbender angegangen werden, weiterhin die Lagerung und pflegerische Versorgung Verwundeter.

2. Ausstattung mit Sanitätsmaterial
Aktuell umfasst die Ausstattung aller SoldatInnen unter anderem Morphin-Autoinjektoren und ein Tourniquet. Allerdings ist Morphin in der ausgegebenen Menge nicht viel, und ein Mensch hat vier Gliedmaßen. Das bedeutet: Die Ausstattung ist unzureichend angesichts der komplexen Verletzungsmuster, die in einem Gefecht mechanisierter Kräfte mit langer Verweildauer der Verwundeten in den Stellungen zu erwarten sind. Sie muss also dahingehend umfassend ergänzt und erweitert werden, einschließlich notwendiger Anpassungen wie vorkonfektionierte Antibiotika für die unter 1. genannten Maßnahmen der Ersthelfer B.

3. Gefechtsdienst aller (Sanitäts)Truppen
Auch die SoldatInnen, die sich unter dem Schutzzeichen des Roten Kreuzes bewegen, müssen für das Überleben auf dem Gefechtsfeld ausgebildet und trainiert werden. Der Umgang mit den Handwaffen unter Belastung, das Führen von Fahrzeugen und das Orientieren im Gelände und anderes mehr ist nicht nur für das Sanitätspersonal, sondern auch für das Überleben der ihnen anvertrauten Verwundeten zwingend notwendig. Hier gilt es Ressourcen im Sinne freier Zeiträume zu schaffen, in denen das Sanitätspersonal von anderen Aufträgen entlastet wird.

Die permanente Bindung der Sanitätsstaffeln und der Bundeswehrkrankenhäuser in der realen Gesundheitsversorgung erfordern hier neue Ideen, wie auch dieses Personal seinen militärischen Aufgaben wieder mehr nachkommen kann, um im Ernstfall nicht zu einer Belastung der Truppe zu werden. Darüber hinaus muss bei Übungsvorhaben des Deutschen Heeres darauf bestanden werden, dass das Training realistischer sanitätsdienstlicher Versorgung einschließlich der Auswirkung von Verlusten nicht nur auf die Gefechtsführung auf allen Ebenen immer ein Teil der Ausbildung sein muss. Auch dafür bedarf es ausreichender Sanitätskräfte zur Unterstützung, die dann ggf. nicht für die Realversorgung von „eye candy Vorhaben“ zur Verfügung stehen

Ausblick: Das Undenkbare denken!

Zum militärischen Denken gehört auch immer ein Worst Course of Action und mögliche Reaktionen darauf. Das Undenkbare nicht zu denken, wäre angesichts von Zeitenwende, Demographie, GenZ-Diskussion und sinkenden Einstellungszahlen fahrlässig. Bei gleichbleibenden politischen Ambitionen Deutschlands, im Rahmen der Bündnisse zu agieren und die Kräfte unverändert anzuzeigen, muss auch langfristig hinterfragt (und auch eine Antwort gegeben) werden, wie umzugehen ist mit dem Missverhältnis zwischen Sanitätskräften und zu unterstützender Truppe.

Die Antwort, die durch die Raucherecken bestimmter Teilstreitkräfte wabert, lautet oft im Krieg sterben nun einmal Menschen und wir können nicht jeden retten. Das ist zwar richtig, aber ebenso kaltschnäuzig, muss es doch unser Anspruch sein, auch in einem eventuellen Krieg mit den Erfahrungen, für die unsere ukrainischen Freunde und Freundinnen gerade einen enorm hohen Blutzoll zahlen, besser vorbereitet ins Gefecht zu gehen.

Die Truppenführenden – und niemand sonst! – müssen hier Verantwortung über- und das Thema mit ganz oben auf die Agenda nehmen.

Wie hoch ist der Preis, den man zu zahlen bereit ist, wenn es zum scharfen Ende kommt? Diese Frage ist durch die verantwortlichen militärischen Führenden und die politische Leitung zu beantworten. Vor allem gegenüber den kämpfenden Soldatinnen und Soldaten und ihren Angehörigen, die sich bisher immer auf eine den Umständen angepasste, aber bestmögliche Versorgung verlassen konnten, wenn sie ihr Leben für unsere Freiheit aufs Spiel setzen.

(Archivbild August 2023: Das Sanitätsregiment 3 demonstriert Verteidigungsminister Boris Pistorius auf dem Standortübungsplatz Dornstadt die taktische Verwundetenversorgung in der Rettungsstation – Patrick Grüterich/Bundeswehr)