Dokumentation: NATO-Gipfel zum Ukraine-Krieg – Gipfelerklärung (auf Deutsch), Selenskij-Rede

Die NATO hat sich am (heutigen) Donnerstag auf einem Sondergipfel ihrer Staats- und Regierungschefs in Brüssel mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine befasst. Zur Dokumentation und fürs Archiv die gemeinsame Gipfelerklärung in deutscher Sprache und die Rede, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an die Allianz gerichtet hat:

Die gemeinsame Erklärung (hier im englischen Original) in der Übersetzung der deutschen NATO-Vertretung:

Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO

Brüssel, den 24. März 2022

Wir, die Staats- und Regierungschefs der dreißig Verbündeten der NATO, sind heute zusammengekommen, um die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine – die seit Jahrzehnten schwerwiegendste Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit – anzugehen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat den Frieden in Europa erschüttert und verursacht gewaltiges menschliches Leid und Zerstörung.

Wir verurteilen die russische Invasion der Ukraine auf das Schärfste. Im Einklang mit der Resolution zur Aggression gegen die Ukraine, die bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 2. März 2022 verabschiedet wurde, rufen wir Präsident Putin auf, diesen Krieg umgehend zu beenden und die Streitkräfte aus der Ukraine abzuziehen, und rufen Belarus auf, seine Komplizenschaft einzustellen. Russland sollte das Urteil des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen vom 16. März befolgen und militärische Operationen umgehend aussetzen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine bedroht die globale Sicherheit. Sein Anschlag auf internationale Normen macht die Welt weniger sicher. Die Eskalationsrhetorik des Präsidenten Putin ist verantwortungslos und destabilisierend.

Mit ihrem heldenhaften Widerstand gegen den brutalen Eroberungskrieg Russlands hat die ukrainische Bevölkerung Menschen weltweit inspiriert. Wir verurteilen nachdrücklich die verheerenden russischen Angriffe auf Zivilpersonen, darunter Frauen, Kinder und gefährdete Gruppen. Wir werden mit dem Rest der internationalen Staatengemeinschaft zusammenarbeiten, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen einschließlich Kriegsverbrechen zu verantworten haben. Wir sind zutiefst besorgt angesichts der erhöhten Gefahr von sexualisierter Gewalt und Menschenhandel. Wir rufen Russland nachdrücklich auf, humanitären Hilfsorganisationen einen schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang sowie sichere Fluchtwege für die Zivilbevölkerung zu erlauben und die Lieferung humanitärer Hilfe nach Mariupol und in andere belagerte Städte zu ermöglichen. Wir verurteilen ebenfalls die Angriffe auf zivile Infrastruktur, unter anderem diejenigen, die Kernkraftwerke gefährden. Wir werden die Lügen Russlands bezüglich seines Angriffs auf die Ukraine weiter widerlegen und erfundene Narrative oder konstruierte Operationen „unter falscher Flagge“ aufdecken, mit denen weitere, unter anderem gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gerichtete Eskalationen vorbereitet werden. Jegliche Verwendung chemischer oder biologischer Waffen durch Russland wäre inakzeptabel und würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.

Russland muss seine ernsthafte Bereitschaft zu Verhandlungen unter Beweis stellen, indem es sofort eine Waffenruhe umsetzt. Wir rufen Russland auf, sich konstruktiv auf glaubwürdige Verhandlungen mit der Ukraine einzulassen, um konkrete Ergebnisse zu erzielen, angefangen von einem belastbaren Waffenstillstand bis hin zu einem vollständigen Rückzug seiner Truppen aus ukrainischem Hoheitsgebiet. Die fortgesetzte Aggression Russlands bei laufenden Gesprächen ist bedauerlich. Wir unterstützen die Bemühungen der Ukraine, Frieden herbeizuführen, sowie diejenigen, die auf diplomatischer Ebene von den Verbündeten unternommen werden, um auf Russland einzuwirken, den Krieg zu beenden und das menschliche Leid zu lindern.

Wir stehen in uneingeschränkter Solidarität an der Seite des Präsidenten Selensky, der ukrainischen Regierung und der mutigen ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Heimat verteidigen. Wir ehren all diejenigen, die durch die russische Aggression getötet, verletzt oder vertrieben wurden, sowie ihre Familien. Wir bekräftigen unsere rückhaltlose Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, was auch für ihre Hoheitsgewässer gilt.

Die Ukraine hat gemäß der Charta der Vereinten Nationen ein Grundrecht auf Selbstverteidigung. Seit 2014 haben wir die Fähigkeit der Ukraine, dieses Recht auszuüben, umfassend unterstützt. Wir haben die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet, wodurch ihre militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten gestärkt und ihre Resilienz verbessert wurden. Die NATO-Verbündeten haben ihre Unterstützung verstärkt und werden die sich weiterhin verteidigende Ukraine fortwährend politisch und praktisch unterstützen. Auch in Bereichen wie der Cybersicherheit und dem Schutz vor chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen werden die NATO-Verbündeten weiterhin Hilfe leisten. Die NATO-Verbündeten leisten ebenfalls umfassende humanitäre Unterstützung und nehmen Millionen Flüchtlinge auf. Die Außenministerinnen und -minister werden unsere Unterstützung für die Ukraine bei ihrem Treffen im April weiter besprechen.

Wir sind geeint in unserer Entschlossenheit zur Abwehr der Versuche Russlands, die Grundsätze der internationalen Sicherheit und Stabilität zu zerstören. Wir ziehen Russland und Belarus zur Rechenschaft. Es wurden Russland massive Sanktionen und schwere politische Kosten auferlegt, um diesem Krieg ein Ende zu setzen. Wir bleiben entschlossen, den koordinierten internationalen Druck auf Russland aufrechtzuerhalten. Wir werden uns weiterhin eng mit einschlägigen Akteuren und anderen internationalen Organisationen, einschließlich der Europäischen Union, abstimmen. Die transatlantische Abstimmung ist für eine wirksame Antwort auf die gegenwärtige Krise nach wie vor entscheidend.

Wir rufen alle Staaten einschließlich der Volksrepublik China auf, die internationale Ordnung einschließlich der in der VN-Charta verankerten Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit zu wahren, von jeglicher Unterstützung für die russischen Kriegsanstrengungen abzusehen und jegliche Maßnahme zu unterlassen, die Russland die Umgehung von Sanktionen erleichtert. Wir sind besorgt über die jüngsten öffentlichen Äußerungen von Amtsträgern der Volksrepublik China und rufen China auf, die Verstärkung der falschen Narrative des Kremls, insbesondere im Hinblick auf den Krieg und die NATO, einzustellen und eine friedliche Lösung des Konflikts zu fördern.

Wir bleiben den Grundprinzipien verpflichtet, auf denen die europäische und globale Sicherheit beruht, einschließlich dem Recht eines jeden Staates, seine Sicherheitsvorkehrungen ohne Einflussnahme von außen zu wählen. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur Politik der offenen Tür der NATO nach Artikel 10 des Vertrags von Washington.

Wir stellen Partnern, die von Bedrohungen und Einmischung durch Russland betroffen sind, maßgeschneiderte Unterstützung zur Verfügung und werden auf der Grundlage ihrer Ersuchen und unserer langjährigen Partnerschaftsprogramme unsere Hilfe aufstocken, damit sie der böswilligen Einflussnahme durch Russland standhalten und ihre Resilienz stärken können. Im April werden die Außenministerinnen und -minister über konkrete Vorschläge beraten, um unsere Unterstützung für diese Partner zu erweitern.

Wir werden weiterhin alle erforderlichen Schritte ergreifen, um die Sicherheit der Bevölkerungen unseres Bündnisses sowie jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu schützen und zu verteidigen. Unser Bekenntnis zu Artikel 5 des Vertrags von Washington ist unerschütterlich.

Als Reaktion auf das Vorgehen Russlands haben wir die Verteidigungspläne der NATO aktiviert, Elemente der NATO-Reaktionskräfte verlegt und 40 000 Truppen an unserer Ostflanke sowie Luft- und Seefähigkeiten dem direkten Kommando der NATO unterstellt, unterstützt durch nationale Verlegungen. Wir sind ebenfalls dabei, vier zusätzliche multinationale Gefechtsverbände in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn einzurichten. Wir treffen sämtliche Maßnahmen und Entscheidungen zur Sicherstellung der Sicherheit und Verteidigung aller Verbündeten in allen Bereichen und im Rahmen eines 360-Grad-Ansatzes. Unsere Maßnahmen bleiben präventiv, verhältnismäßig und nichteskalierend. Wir werden nun die Transformation der NATO zur Anpassung an eine neue und gefährlichere strategische Realität beschleunigen, unter anderem durch die Annahme des nächsten Strategischen Konzepts in Madrid. Angesichts der seit Jahrzehnten schwerwiegendsten Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit werden wir ebenfalls unser längerfristiges Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv erheblich stärken und das gesamte Spektrum an einsatzbereiten Streitkräften und Fähigkeiten weiterentwickeln, die zur Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen Abschreckung und Verteidigung erforderlich sind. Diese Schritte werden durch erweiterte Übungen gestützt, wobei der Schwerpunkt verstärkt auf kollektiver Verteidigung und Interoperabilität gesetzt wird.

Wir erhöhen die Resilienz unserer Gesellschaften und unserer Infrastruktur, um der böswilligen Einflussnahme durch Russland entgegenzuwirken. Wir stärken unsere Cyberfähigkeiten und -abwehr und leisten im Fall von Cyberangriffen gegenseitige Unterstützung. Wir sind bereit, denjenigen Kosten aufzuerlegen, die uns im Cyberraum Schaden zufügen, und steigern den Informationsaustausch sowie die Erstellung von Lagebildern, verbessern die Zivilverteidigung und stärken unsere Fähigkeit, auf Desinformation zu reagieren. Wir werden zudem unsere Vorbereitung und Reaktionsfähigkeit auf chemische, biologische, radiologische und nukleare Bedrohungen verbessern. Bei unserem Treffen in Madrid werden wir weitere Beschlüsse fassen.

Die Schritte, die wir ergreifen, um die Sicherheit unseres Bündnisses und des euro-atlantischen Raums sicherzustellen, werden angemessene Mittel erfordern. Die Verbündeten sind dabei, ihre Verteidigungsausgaben substantiell zu erhöhen. Wir haben heute beschlossen, unsere Bemühungen zu beschleunigen, um unsere Verpflichtungen im Rahmen der Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich in vollem Umfang zu erfüllen. Im Einklang mit unserer in Artikel 3 des Vertrags von Washington festgeschriebenen Verpflichtung werden wir unsere individuelle und kollektive Fähigkeit, gegen jede Form von Angriff Widerstand zu leisten, weiter stärken. Bei unserem Treffen in Madrid werden wir zusätzliche Pläne dazu einreichen, wie die Zusage zu Investitionen im Verteidigungsbereich erfüllt werden kann.

Der unbegründete Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt eine grundlegende Herausforderung an die Werte und Normen dar, die allen Menschen auf dem europäischen Kontinent Sicherheit und Wohlstand gebracht haben. Die Entscheidung Präsident Putins, die Ukraine anzugreifen, ist ein strategischer Fehler mit schwerwiegenden Folgen, auch für Russland und die russische Bevölkerung. Wir bleiben einig und entschlossen in unserem Willen, der Aggression Russlands entgegenzutreten, der Regierung und den Menschen in der Ukraine zu helfen und die Sicherheit aller Verbündeten zu verteidigen.

Selenskyjs Rede, wie sie auf der Webseite des ukrainischen Präsidenten veröffentlicht wurde:

Speech by President of Ukraine Volodymyr Zelenskyy at the NATO Summit

24 March 2022

Dear attendees!

I am addressing you from Kyiv, our capital, which has been fighting for a month already, just as our entire state.

Yes, it is true – we are not in the Alliance. Not in the most powerful defense union in the world. Not one of the 30 states under the umbrella of joint protection. Under the umbrella of Article 5. It feels like we are in the „gray zone“. Between the West and Russia. But we defend all our common values. And we are bright people! And we have been defending all these values for a month now!

A month of heroic resistance. A month of the darkest suffering.

A month of unpunished destruction of the peaceful state, and with it – the whole architecture of global security. All this is before the eyes of the whole world.

Over the decades, Russia has accumulated considerable resources, military resources, manpower and equipment, air bombs, missiles.

They invested crazy money in death while the world invested in life. But Ukraine is holding on bravely! At the cost of thousands of lives. At the cost of destroyed cities. At the cost of almost ten million migrants. Three and a half of them are already in your territories, in the territories of NATO countries. I am grateful for the support of these people. And people, unfortunately, continue to leave their homes. They are fleeing the terror that the occupiers brought with them.

The very first hours of the invasion meant brutal missile strikes for us. During the month of the war, Russia fired more than a thousand different missiles at our cities. Made hundreds of air raids.

On February 24, I addressed you with a perfectly clear, logical request to help close our skies. In any format. Protect our people from Russian bombs and missiles. We did not hear a clear answer. Ukraine does not have powerful anti-missile weapons, and has a much smaller aircraft fleet than Russia. Therefore, their advantage in the sky is like the use of weapons of mass destruction.

And you see the consequences today – how many people were killed, how many peaceful cities were destroyed.

The Ukrainian army has been resisting for a month in unequal conditions! And I have been repeating the same thing for a month now. To save people and our cities, Ukraine needs military assistance – without restrictions. As Russia uses without restrictions its entire arsenal against us. Destroys all living things. Any objects – from houses to churches, from food warehouses to universities, from bridges to hospitals.

Ukraine asked for your planes. So that we do not lose so many people. And you have thousands of fighter jets! But we haven’t been given any yet.

We asked for tanks. So that we can unblock our cities that are now dying – Mariupol, Berdyansk, Melitopol, others. Cities where Russia is keeping hundreds of thousands of people hostage and artificially creating famine – no water, no food, nothing there.

You have at least 20,000 tanks! Ukraine asked for a percent, one percent of all your tanks to be given or sold to us! But we do not have a clear answer yet… The worst thing during the war is not having clear answers to requests for help.

Ukraine never wanted this war. And does not want to fight for years. We just want to save our people. We want to survive! Just survive! Like any nation, we have the right to it. The right to life. The right to this one percent.

And I do not blame NATO – I want to be clear. You are not guilty. It’s not your missiles, it’s not your bombs that are destroying our cities. This morning, by the way, there were phosphorus bombs. Phosphorus Russian bombs. Adults were killed again and children were killed again. I just want you to know that the Alliance can still prevent the deaths of Ukrainians from Russian strikes, from Russian occupation, by providing us with all the weapons we need.

Yes, we are not in the Alliance. And I do not make these claims. But Ukrainians never thought that the Alliance and the Allies were different.

That in matters of life and death you can be a force separately, but together – no. That NATO may be afraid of Russia’s actions. I am sure you already understand that Russia does not intend to stop in Ukraine. Does not intend and will not. It wants to go further.

Against the eastern members of NATO. The Baltic states, Poland – that’s for sure. Will NATO then stop thinking about it, worrying about how Russia will react? Who can be sure of that? And do you have confidence that Article 5 can work?

„Budapest“ hasn’t worked for us already. Our Budapest Memorandum. Has not worked for peace in Ukraine.

And I will tell you honestly – today Budapest is not working for peace in Ukraine as well. Yes, we receive help from individual members of the Alliance. I am very grateful. Ukrainians are sincerely grateful for this. To each of you who gives what you have, supporting us.

But what about the Alliance? The question of Article 5 is fundamental. I just want you to know what we think about it. And I sincerely wish you that we are wrong in our assessments and in our doubts. I sincerely wish that you actually have a very strong Alliance. Because if we are wrong, the world is safe. But if we are at least one percent right, I ask you to reconsider your attitude. Your own estimates. And really take care of security, security in Europe and, consequently, in the world.

You can give us one percent of all your aircraft. One percent of all your tanks. One percent! We can’t just buy it. Such a supply directly depends only on NATO’s decisions, on political decisions, by the way.

MLRS systems. Anti-ship weapons. Means of air defense. Is it possible to survive such a war without it?

So when it’s finally available, it will give us and you as well, one hundred percent security. And we need one. And the only thing I demand from you… After such a month of war. This is a request for the sake of our military. After such a war against Russia … Never, please, never tell us again that our army does not meet NATO standards.

We have shown what our standards are capable of. And how much we can give to the common security in Europe and the world. How much we can do to protect against aggression against everything we value, everything you value. But NATO has yet to show what the Alliance can do to save people. To show that this is truly the most powerful defense union in the world. And the world is waiting. And Ukraine is very much waiting. Waiting for real actions. Real security guarantees. From those whose word is trustworthy. And whose actions can keep the peace.

Truly. All offers are on the table. Our needs are on the table. We need peace immediately. The answers are up to you.

I am thankful to those who help us! Thank you!

Glory to Ukraine!

(Foto: Bundeskanzler Olaf Scholz und der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis beim Gipfel – Foto NATO)