Dokumentation: Ex-Diplomaten und -Generale rufen zu „Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ auf

In diesen Tagen der Unklarheit über ein mögliches Vorgehen Russlands gegen die Ukraine und der angespannten Situation zwischen Russland und der NATO ein Merkposten: Unter anderem mehrere frühere deutsche Diplomaten und Generale haben zu einem Neuanfang im Verhältnis zu Russland aufgerufen. Aus dem Papier, das am (heutigen) Sonntag vom Politikwissenschafter Johannes Varwick, einem der Unterzeichner,  veröffentlicht wurde:

Mit allergrößter Sorge beobachten wir die sich abermals verstärkende Eskalation im Verhältnis zu Russland. Wir drohen in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rückt. Von dieser Lage kann niemand profitieren, und dies liegt weder in unserem noch im russischen Interesse. Es gilt deshalb jetzt alles zu tun, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Ziel muss es sein, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. Es bedarf einer glaubwürdigen Russlandpolitik der NATO und der EU, die nicht gutgläubig-naiv oder beschwichtigend, sondern interessengeleitet und konsequent ist. Jetzt ist nüchterne Realpolitik
gefragt.

Fest steht: Die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten in Übungen und insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte sind inakzeptabel. Dennoch führen Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiter. Eine einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist nicht erfolgreich; wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – Russland nicht zur Umkehr bewegen können. Vielmehr sieht sich Russland aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch aggressives Auftreten die Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sowie die Wahrung seines Einflussbereiches im postsowjetischen Raum. Damit steigen die Gefahren für die russische
Wirtschaft (Ausschluss aus dem SWIFT-System) und einer Destabilisierung der Sicherheitslage besonders in Europa deutlich.

All dies darf seitens des Westens nicht als Entschuldigung für tatenloses Zusehen oder für die Akzeptanz der Eskalationsverstärkung verstanden werden. Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden.

Die Unterzeichner, unter ihnen der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General a.D. Klaus Naumann, und der frühere deutsche NATO-Botschafter Ulrich Brandenburg, schlagen dafür vier Punkte vor: Eine Konferenz zur Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchiktektur; vorerst ein Verzicht auf Stationierungen und Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn; eine Wiederbelebung des politischen wie militärischen Dialogs zwischen der NATO und Russland sowie weitergehende Angebote des Westens zur ökonomischen Zusammenarbeit.

Das mag für viele nicht einfach sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede Alternative ist deutlich schlechter. Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Deutschland sollte alles unterlassen, was seine feste Verankerung im transatlantischen Verbund schwächen
könnte, sollte auf De-Eskalation hinwirken und auf Vereinbarungen dringen, die den Einsatz militärischer Mittel in Europa jenseits der Bündnisverteidigung ausschließen. Dies sollte nicht als Einladung an Russland zur Veränderung des territorialen Status quo in Europa missverstanden werden, aber es gibt für die Ukraine-Krise keine militärische Lösung, die nicht zu einer unkontrollierbaren Eskalation führt.

Der komplette Aufruf und die Liste der Unterzeichner hier.