Taliban übernehmen Kabul, Bundeswehr-Evakuierungsmission startet Montag (Neufassung)

Die Taliban haben nach schneller Einnahme großer Teile Afghanistans auch die Hauptstadt Kabul und damit die Kontrolle über das ganze Land übernommen. Der afghanische Präsident floh ins Ausland. Die westlichen Nationen, allen voran die USA, flogen Botschaftspersonal und ihre Staatsbürger aus. Die Bundeswehr soll am Montag zu einer militärischen Evakuierungsmission starten.

Die Einnahme Kabuls war zwar erwartet worden, die Geschwindigkeit am (heutigen) Sonntag kam dennoch überraschend: Innerhalb weniger Stunden brachten die Taliban die Hauptstadt in ihre Gewalt, ohne das es zu größeren Kämpfen kam. Der Vormarsch der Aufständischen auf Kabul hatte sich bereits am Vortag abgezeichnet; am Sonntag standen sie zwar an den Rändern der Stadt, verzichteten aber zunächst auf ein militärisches Vorgehen.

Nach Berichten afghanischer Medien gab es Verhandlungen zwischen der Regierung von Präsident Aschraf Ghani und Taliban-Vertretern im Präsidentenpalast, und am Nachmittag meldete als erster der Sender TOLO News, dass der Präsident das Land verlassen habe. Er soll sich im benachbarten Taschidkistan aufhalten. Auch andere Regierungsmitglieder wie der bisherige Verteidigungsminister verließen das Land.

Update: der geflüchtete Präsident meldete sich am Abend auf seiner Facebook-Seite, machte aber zu seinem Aufenthaltsort keine Angaben. Zur Dokumentation die (etwas holprig von Google Translate übersetzte) Erklärung:

Liebe Landsleute!
Heute bin ich auf eine schwierige Wahl gestoßen. Ich muss mich den bewaffneten Taliban stellen, die den Palast betreten oder das Land verlassen wollen, in dem ich mein Leben in den letzten 20 Jahren dem Schutz und der Pflege gewidmet habe. Ohne Kontrolle würden unzählige Patrioten den Märtyrertod sterben und die Stadt Kabul verwüstet werden, was zu einer großen humanitären Katastrophe in der Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt führen würde. Die Taliban hatten deutlich gemacht, dass sie bereit seien, einen blutigen Angriff auf ganz Kabul und die Bevölkerung von Kabul Sharif zu verüben, um mich zu vertreiben. Um eine Flut von Blutvergießen zu verhindern, beschloss ich zu gehen.
Die Taliban haben das Urteil mit Schwert und Waffe gewonnen und sind nun dafür verantwortlich, die Ehre, das Eigentum und das Selbst ihrer Landsleute zu schützen. Aber die Legitimität der Herzen hat sie nicht überzeugt. Nie in der Geschichte hat trockene Gewalt irgendjemandem Legitimität verliehen und wird es auch nie tun. Sie stehen nun vor einer neuen historischen Bewährungsprobe. Entweder wird es den Namen und die Ehre Afghanistans bewahren oder anderen Orten und Netzwerken den Vorrang geben. Viele Menschen und viele Schichten haben Angst und haben kein Vertrauen in die Zukunft. Die Taliban müssen sicherstellen, dass alle Völker, Ethnien, verschiedenen Schichten, Schwestern und Frauen Afghanistans einen klaren Plan haben, um Legitimität zu gewinnen und die Herzen der Menschen zu gewinnen und mit den Menschen zu teilen. Ich werde meinen Leuten immer mit Ideen und Programmen dienen. Viele weitere Neuigkeiten für die Zukunft!

Die Taliban gelangten offensichtlich ungehindert bis in den Präsidentenpalast (s. Foto oben). Nachdem sie zunächst angekündigt hatten, nicht mit bewaffneten Kämpfern in Kabul einzurücken, änderte sich das am Sonntagnachmittag: Ein Sprecher der Aufständischen kündigte an, die Taliban würden Sicherheitsaufgaben in der Stadt übernehmen, weil Polizei und Sicherheitsdienste nicht mehr funktionieren würden:

Das Islamische Emirat gab am Morgen eine Erklärung ab, dass unsere Truppen Kabul verlassen haben und wir Kabul nicht militärisch betreten wollen.
Doch nun gibt es Berichte, dass Bezirke in Kabul evakuiert wurden, die Polizei ihren Job als Sicherheitsdienst aufgegeben hat, Ministerien evakuiert und Sicherheitspersonal der Kabuler Verwaltung geflohen sind.
Damit Gott bewahre, dass sich die gewöhnlichen Diebe und Räuber in Kabul nicht vermischen, die Täter dem Volk keinen Schaden zufügen, befahl das Islamische Emirat seinen Truppen, in die Gebiete von Kabul einzudringen, aus denen der Feind ging.
Es besteht die Gefahr von Diebstahl und Raub.
Daher sollten die Bürger von Kabul keine Angst vor den Mudschaheddin haben, unsere Truppen werden sehr leicht in die Stadt Kabul eindringen, sie werden mit niemandem zusammenarbeiten darf jemandes Haus betreten oder jemanden belästigen oder ärgern.
Islamisches Emirat Afghanistan
(Übersetzung via Google Translate)

Unterdessen lief die Evakuierung der Botschaften in Kabul an. Die USA flogen mit Chinook-Hubschraubern ihr Personal aus der Vertretung an den Flughafen der Hauptstadt aus:

The United States military stepped up its evacuation of American diplomatic and civilian staff. A core group of American diplomats who had planned to remain at the embassy in Kabul were being moved to a diplomatic facility at the international airport, where they would stay for an unspecified amount of time, according to a senior United States official.
On the civilian side of the airport, a long line of people waited outside the check-in gate, unsure if the flights they had booked out of the country would arrive.

berichtet die New York Times. Zudem flogen die US-Truppen das Personal weiterer Botschaften wie der Italiens aus. Die Niederlande kündigten die Entsendung einer eigenen Maschine an.

Das symbolträchtige Foto dazu:

In Deutschland kündigten Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Sonntagabend an, dass eine Evakuierungsmission der Bundeswehr in der Nacht zum (morgigen) Montag anlaufen werde. Dafür sollen nach den Worten der Verteidigungsministerin A400M-Transportmaschinen vom Fliegerhorst Wunstorf starten und in Kabul deutsche Staatsbürger, aber auch frühere Beschäftigte deutscher Institutionen wie der Bundeswehr aufnehmen. Sie sollen zunächst in ein neutrales Drittland gebracht werden – das nannten weder Maas noch Kramp-Karrenbauer beim Namen, es dürfte sich aber um das benachbarte Usbekistan handeln.

Die Statements der beiden Regierungsmitglieder zum Nachhören:

Maas_zu_Afghanistan_15aug2021     

 

AKK_zu_Afghanistan_15aug2021     

 

(O-Töne von der TV-Liveübertragung abgenommen und deshalb nicht ganz vollständig)

Maas hatte zuvor via Twitter mitgeteilt, die verbliebene Kernmannschaft der deutschen Botschaft sei bereits an den Flughafen von Kabul verlegt worden:

Unklar bleibt vorerst, wie viel Zeit der Bundeswehr für ihre Mission in der afghanischen Hauptstadt bleibt und wie viele Personen tatsächlich ausgeflogen werden können. Nach Informationen des Spiegel-Kollegen Matthias Gebauer haben die USA nur für 72 Stunden zugesagt, den Flughafen zu sichern – inwieweit danach noch Militärmaschinen anderer Nationen landen und starten können, ist unklar.

Die Taliban haben zwar zugesichert, dass Ausländer das Land auf dem Weg über den Flughafen verlassen können. Das dürfte dann aber kaum für die Ortskräfte gelten, die ja eben ausgeflogen werden, damit sie den neuen Herren des Landes nicht in die Hände fallen.

Die A400M-Transporter der Luftwaffe werden von Fallschirmjägern der Bundeswehr begleitet, die für die unmittelbare Absicherung der Maschinen sorgen sollen. Eine weiträumige Absicherung des Flughafens könnten diese wenige hundert Mann allerdings kaum leisten, wenn die USA das Gelände nicht mehr sichern.

(Foto: Screenshot von Al Jazeera, Live-Bericht von Taliban im Präsidentenpalast in Kabul)