Taliban übernehmen Kabul, Bundeswehr-Evakuierungsmission startet Montag (Neufassung)
Die Taliban haben nach schneller Einnahme großer Teile Afghanistans auch die Hauptstadt Kabul und damit die Kontrolle über das ganze Land übernommen. Der afghanische Präsident floh ins Ausland. Die westlichen Nationen, allen voran die USA, flogen Botschaftspersonal und ihre Staatsbürger aus. Die Bundeswehr soll am Montag zu einer militärischen Evakuierungsmission starten.
Die Einnahme Kabuls war zwar erwartet worden, die Geschwindigkeit am (heutigen) Sonntag kam dennoch überraschend: Innerhalb weniger Stunden brachten die Taliban die Hauptstadt in ihre Gewalt, ohne das es zu größeren Kämpfen kam. Der Vormarsch der Aufständischen auf Kabul hatte sich bereits am Vortag abgezeichnet; am Sonntag standen sie zwar an den Rändern der Stadt, verzichteten aber zunächst auf ein militärisches Vorgehen.
Nach Berichten afghanischer Medien gab es Verhandlungen zwischen der Regierung von Präsident Aschraf Ghani und Taliban-Vertretern im Präsidentenpalast, und am Nachmittag meldete als erster der Sender TOLO News, dass der Präsident das Land verlassen habe. Er soll sich im benachbarten Taschidkistan aufhalten. Auch andere Regierungsmitglieder wie der bisherige Verteidigungsminister verließen das Land.
Update: der geflüchtete Präsident meldete sich am Abend auf seiner Facebook-Seite, machte aber zu seinem Aufenthaltsort keine Angaben. Zur Dokumentation die (etwas holprig von Google Translate übersetzte) Erklärung:
Liebe Landsleute!
Heute bin ich auf eine schwierige Wahl gestoßen. Ich muss mich den bewaffneten Taliban stellen, die den Palast betreten oder das Land verlassen wollen, in dem ich mein Leben in den letzten 20 Jahren dem Schutz und der Pflege gewidmet habe. Ohne Kontrolle würden unzählige Patrioten den Märtyrertod sterben und die Stadt Kabul verwüstet werden, was zu einer großen humanitären Katastrophe in der Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt führen würde. Die Taliban hatten deutlich gemacht, dass sie bereit seien, einen blutigen Angriff auf ganz Kabul und die Bevölkerung von Kabul Sharif zu verüben, um mich zu vertreiben. Um eine Flut von Blutvergießen zu verhindern, beschloss ich zu gehen.
Die Taliban haben das Urteil mit Schwert und Waffe gewonnen und sind nun dafür verantwortlich, die Ehre, das Eigentum und das Selbst ihrer Landsleute zu schützen. Aber die Legitimität der Herzen hat sie nicht überzeugt. Nie in der Geschichte hat trockene Gewalt irgendjemandem Legitimität verliehen und wird es auch nie tun. Sie stehen nun vor einer neuen historischen Bewährungsprobe. Entweder wird es den Namen und die Ehre Afghanistans bewahren oder anderen Orten und Netzwerken den Vorrang geben. Viele Menschen und viele Schichten haben Angst und haben kein Vertrauen in die Zukunft. Die Taliban müssen sicherstellen, dass alle Völker, Ethnien, verschiedenen Schichten, Schwestern und Frauen Afghanistans einen klaren Plan haben, um Legitimität zu gewinnen und die Herzen der Menschen zu gewinnen und mit den Menschen zu teilen. Ich werde meinen Leuten immer mit Ideen und Programmen dienen. Viele weitere Neuigkeiten für die Zukunft!
Die Taliban gelangten offensichtlich ungehindert bis in den Präsidentenpalast (s. Foto oben). Nachdem sie zunächst angekündigt hatten, nicht mit bewaffneten Kämpfern in Kabul einzurücken, änderte sich das am Sonntagnachmittag: Ein Sprecher der Aufständischen kündigte an, die Taliban würden Sicherheitsaufgaben in der Stadt übernehmen, weil Polizei und Sicherheitsdienste nicht mehr funktionieren würden:
Das Islamische Emirat gab am Morgen eine Erklärung ab, dass unsere Truppen Kabul verlassen haben und wir Kabul nicht militärisch betreten wollen.
Doch nun gibt es Berichte, dass Bezirke in Kabul evakuiert wurden, die Polizei ihren Job als Sicherheitsdienst aufgegeben hat, Ministerien evakuiert und Sicherheitspersonal der Kabuler Verwaltung geflohen sind.
Damit Gott bewahre, dass sich die gewöhnlichen Diebe und Räuber in Kabul nicht vermischen, die Täter dem Volk keinen Schaden zufügen, befahl das Islamische Emirat seinen Truppen, in die Gebiete von Kabul einzudringen, aus denen der Feind ging.
Es besteht die Gefahr von Diebstahl und Raub.
Daher sollten die Bürger von Kabul keine Angst vor den Mudschaheddin haben, unsere Truppen werden sehr leicht in die Stadt Kabul eindringen, sie werden mit niemandem zusammenarbeiten darf jemandes Haus betreten oder jemanden belästigen oder ärgern.
Islamisches Emirat Afghanistan
(Übersetzung via Google Translate)
Unterdessen lief die Evakuierung der Botschaften in Kabul an. Die USA flogen mit Chinook-Hubschraubern ihr Personal aus der Vertretung an den Flughafen der Hauptstadt aus:
The United States military stepped up its evacuation of American diplomatic and civilian staff. A core group of American diplomats who had planned to remain at the embassy in Kabul were being moved to a diplomatic facility at the international airport, where they would stay for an unspecified amount of time, according to a senior United States official.
On the civilian side of the airport, a long line of people waited outside the check-in gate, unsure if the flights they had booked out of the country would arrive.
berichtet die New York Times. Zudem flogen die US-Truppen das Personal weiterer Botschaften wie der Italiens aus. Die Niederlande kündigten die Entsendung einer eigenen Maschine an.
Das symbolträchtige Foto dazu:
US helicopters seen this morning at US embassy Kabul. It seems the evacuation is underway. Photo by @AP pic.twitter.com/YxMQQeRF29
— Liz Sly (@LizSly) August 15, 2021
In Deutschland kündigten Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Sonntagabend an, dass eine Evakuierungsmission der Bundeswehr in der Nacht zum (morgigen) Montag anlaufen werde. Dafür sollen nach den Worten der Verteidigungsministerin A400M-Transportmaschinen vom Fliegerhorst Wunstorf starten und in Kabul deutsche Staatsbürger, aber auch frühere Beschäftigte deutscher Institutionen wie der Bundeswehr aufnehmen. Sie sollen zunächst in ein neutrales Drittland gebracht werden – das nannten weder Maas noch Kramp-Karrenbauer beim Namen, es dürfte sich aber um das benachbarte Usbekistan handeln.
Die Statements der beiden Regierungsmitglieder zum Nachhören:
(O-Töne von der TV-Liveübertragung abgenommen und deshalb nicht ganz vollständig)
Maas hatte zuvor via Twitter mitgeteilt, die verbliebene Kernmannschaft der deutschen Botschaft sei bereits an den Flughafen von Kabul verlegt worden:
Ich habe heute Morgen entschieden, das Personal der Botschaft #Kabul zum militärischen Teil des Flughafens zu verlegen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dort inzwischen eingetroffen und stellen ihre Arbeitsfähigkeit her. (1/2)
— Heiko Maas 🇪🇺 (@HeikoMaas) August 15, 2021
Unklar bleibt vorerst, wie viel Zeit der Bundeswehr für ihre Mission in der afghanischen Hauptstadt bleibt und wie viele Personen tatsächlich ausgeflogen werden können. Nach Informationen des Spiegel-Kollegen Matthias Gebauer haben die USA nur für 72 Stunden zugesagt, den Flughafen zu sichern – inwieweit danach noch Militärmaschinen anderer Nationen landen und starten können, ist unklar.
Die Taliban haben zwar zugesichert, dass Ausländer das Land auf dem Weg über den Flughafen verlassen können. Das dürfte dann aber kaum für die Ortskräfte gelten, die ja eben ausgeflogen werden, damit sie den neuen Herren des Landes nicht in die Hände fallen.
Die A400M-Transporter der Luftwaffe werden von Fallschirmjägern der Bundeswehr begleitet, die für die unmittelbare Absicherung der Maschinen sorgen sollen. Eine weiträumige Absicherung des Flughafens könnten diese wenige hundert Mann allerdings kaum leisten, wenn die USA das Gelände nicht mehr sichern.
(Foto: Screenshot von Al Jazeera, Live-Bericht von Taliban im Präsidentenpalast in Kabul)
Naja. Dass ist ja erst die Übernahme der Stadt. Und wann stellt sich jemand hin und ruft offiziell das Kalifat Afgh aus?
Interessant ist ja auch wass mit der LW passiert. Den Supertucanos. Den MD 500 usw. Die Piloten sind da und ausgebildet und die Techniker sind auch da und ausgebildet. Wird man dass verkommen lassen, oder fragt man nett bei dem Iran nach support nach? Villeicht könnten die Talib denen 1 Tucano überlassen. Zum nachbauen. Reverse Engineering.
@Dante: bald, sehr bald. Und es wird ein Emirat sein.
Ich kann mich kaum von den News abwenden. Es ist eine Niederlage von unfassbarem Ausmaß. Und zugleich ist es ein geradezu obszönes Versagen. Ich kann es kaum fassen. Es schmerzt so! Der 20 Jahre währenden Unfähigkeit, die Lage in Afg halbwegs realistisch einzuschätzen und entsprechend zu handeln, folgte im Finale eine groteske Bürokratie-Show, mit geplanten Charterflügen für ortskräfte „bis Ende August“, aber nur wenn auch alle den Passierschein a38 eingereicht haben, persönlich beim Bürgeramt in Bottrop, in Begleitung ihrer Eltern. In der Zeit musste ich nun lesen, dass ein Angebot der USA, deren frühere Luftbrücke mit zu nutzen, abgelehnt wurde. Und die Evakuierung der Botschaftsmitarbeiter beginnt, wenn das Postamt in Hintertupfing aufmacht. Viele, sehr viele Menschen werden unsere Unfähigkeit mit ihrem Leben bezahlen. Wer soll uns noch vertrauen? Es ist der Stoff für einen kompletten Regierungsrücktritt. Nach diesem Ereignis kann eigentlich keine einzige von unseren „wünsch dir die Welt wie sie dir gefällt“-Vorgehensweisen in der Außenpolitik fortbestehen, im Prinzip müssen wir bei 0 anfangen. Aber das werden wir nicht. Nichts wird passieren. Wir werden mit den Schultern zucken und nichts tun. Es ist zum verrückt werden.
@PioFritz
Bin immer für eine persönliche Ansprache, nacher heißt sagen die Leute ich wusste von nichts.
Zum Thema Erspressung, denken wir doch erst einmal an Ortskräfte da fällt mir einiges ein was an Geld fließen kann. Dann denke ich an die mutigen Frauen, da zahlt der Westen garantiert damit die am Leben bleiben. Nicht zuletzt das Thema Migration, da gehen Milliarden EUR jährlich drauf. Die lassen sich von uns alles versilbern.
Durchhaltewillen sprechen sie an. Der Drogenkrieg wird auch nie gewonnen trotzdem wird niemand in Deutschland den Zoll und die Polizei von den Aufgaben entbinden. Es gilt ein Level zu halten welcher akzeptabel ist und womit wir leben können. Das Angagement in Afghanistan wäre auf die nächsten 20 Jahren günstiger als die Konsequenzen welcher wir jetzt tragen.
Bundeswehr wie immer zu spät, zu zaghaft, ohne USA keine Möglichkeit. Man sollte sich in Berlin schämen, aber Stop: erst die Zuständigkeit klären „Whoops, wer konnte denn schon ahnen, dass die Taliban so schnell sind und ihre Absicht konsequent verfolgen?“ Wie lange sind die Marines schon am Flughafen in Kabul?
Selbst am Ende eine Blamage.
Ja gut aber wer stellt jetzt den Ortskräften die Ausreisedokumente aus? War ja schon ein Problem als die Regierung noch da war. Muss ja alles seine Richtigkeit haben. Wollen ja nicht, dass da staatsrechtliche Unregelmäßigkeiten entstehen.
Scholl-Latour hat Recht behalten: Eine Guerillia-Truppe muss nicht siegen. Sie muss nur so lange überleben, bis die Regulären müde werden. Die Taliban-Kämpfer auf ihren Mopeds erinnern ein wenig an die Vietcong, die nach Jahren des ungleichen Kampfes aus ihren Hölen gekommen sind, um die Früchte ihres Sieges zu ernten.
Der Afghanistan-Krieg hat nie die innenpolitische Bedeutung in den westlichen Ländern erlangt, wie der Vietnam-Krieg. Aber die Bilder und das Ergebnis ähneln sich. Mal sehen, ob die USA in den nächsten Jahrzehnten noch mal denselben Fehler machen oder ob die Chinesen irgendwann diese Rolle in Asien übernehmen, wenn ihre Investitionen mal in Gefahr geraten.
Unglaublich diese Fehleinschätzungen. Der Westen hat es anscheinend nie verstanden, wie die Afghanen wirklich ticken.
Tja da haben sie also gewonnen….wer 20 Jahre der geballten westlichen Macht standhält + 10 Jahre den Russen und offenbar genug Rückhalt in der eigenen Bevölkerung genießt hat es wohl auch verdient. Nicht falsch verstehen ich hätte mit auch ein anderes Ende gewünscht aber so bleibt wohl nichts anderes übrig als Tatsachen anzuerkennen, sich den Staub abzuklopfen und weiter geht’s.
Ich warte noch auf den ultimativen Propagandaerfolg (vermutlich Morgen) wenn hunderte afghanische Zivilisten von ihren ehemaligen Befreiern und Demokratiebringern mit Waffengewalt von der Runway ferngehalten werden das sind Bilder für die Geschichtsbücher. Alles in allem ein voller Sieg der Gegenseite könnte mir Denken im Kreml knallen die Korken so erbärmlich war deren Abzug nicht.
Es ist mir unbegreiflich warum wir erst morgen mit der „Evakuierung“ beginnen.
Mal wieder zeigt das AA und das BMI samt Ministern deutlich was sie nicht können: schnell und pragmatisch Entscheidungen treffen.
Aber wer weiß vielleicht ist der zuständige Sachbearbeiter für die Kostenübernahme erst Montag wieder im Dienst oder aber die Gleichstellungsbeauftragte muss erstmal die Weisung gegenzeichnen, wir werden es nie erfahren.
Aber schön zu sehen wie sich der außenpolitische Diletantismus vor der internationalen Öffentlichkeit von seiner schönsten Seite zeigt.
Ach noch ein kleiner Fun Fact am Rande:
Die TB sind mit den erbeuteten Materialien der ANA besser ausgestattet als große Teile der Bundeswehr. Neben dem ganzen gedöns wie Westen und Nässeschutz, konnten die TB nicht unwesentliche Mengen an WBG‘s, Nachtsichtgeräte der 3. Gen., PRC 148 sowie Waffenaufsätze wie LLM‘s erbeuten.
Wollen wir hoffen, dass wir nie mehr in dieses Land zurückkehren, sonst fliegt uns all das so richtig um die Ohren.
manmuss sich mal vor Augen führen, dass die viertgrößte Wirtschaftsmacht dieses Erdballs (übrigens Deutschland) nicht in der lage sein soll autonom einen (in Worten Einen) Flughafen so lange gegen eine bessere Badelatschen Soldateska zu verteidigen bis eine niedrige dreistellige Zahl von Landsleuten ausgeflogen ist und dies administrativ/militärisch/technisch so zügig umzusetzen, dass die Operation nicht durch Zeitablauf Makulatur wird.
Eigentlich müsste man in AA/Kanzleramt vor Scham in Grund und Boden versinken (gerade die Inhaberin der Richtlinienkompetenz) stattdessen die übliche bräsige Verantwortungsdiffusion.
prädikat erbärmlich auf vielerlei ebenen
@ Felix Ich denke bis Ende der Woche können noch Leute ausgeflogen werden. Dann pünklich zum Freitagsgebet. Klappe zu Affe Tod. Würde auch zeitlich gut zur Ausrufens des Kalifats passen. Freitag ist der Sonntag im Islam. Passt für eine Regierungsübernahme.
[Vorsicht vor Begriffsverwirrung, von der Ausrufung des Kalifats ist nicht die Rede.
Ein Kollege von der ‚Zeit‘ hat das ganz gut erklärt:
https://twitter.com/abususu/status/1427000431767588867
T.W.]
Es bleibt nur die Hoffnung, dass nun die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Nachdem der IS die irakische Armee teilweise überrannt hat und jetzt die TB mal eben ein Land im Handstreich nehmen können wir nicht in Mali oder anderswo auf „Train and Assist“ setzen. Wenn Deutschland also tatsächlich am Hindukusch verteidigt wurde, müssen wir uns eingestehen, dass wir verloren haben. Ich habe keine Vorstellung davon wie es nun weitergehen kann, aber der Westen hat ein echtes Exportproblem mit seinen Werten und Vorstellungen. Vielleicht lässt sich heutzutage Macht nur noch mit Infrastrukturprojekten projizieren und nicht mit einer Armee?
Kann mir kurz irgendwer erklären, weshalb die ANA in diesem „Kampf“ keinen einzigen Schuss abgibt? Die sind teilweise bestens ausgerüstet, jedenfalls viel besser als die TB. Ein ganzes Korps ergibt sich einfach so und überlässt Flugzeuge und Hubschrauber den TB? Gleichzeitig gibt es offenbar viele Afghanen, die nicht in einem islamischen Emirat leben wollen. Warum kämpfen die nicht?
@Dante: Hieß es nicht, dass die Wartungsarbeiten bei der ANA-Luftwaffe von Vertragspartnern der USA durchgeführt worden sind und diese mit dem Abzug der US-Streitkräfte ebenso das Land verlassen haben? Wenn dem so ist, dann wird da wohl nicht lange weitergeflogen.
wird interessant wie verhindert werden soll, dass die militärische evakuierung schlicht von verzweifelten zivilisten überrannt wird? Wie sind dann die ROE?
https://twitter.com/bsarwary/status/1427002551858311173?s=20
https://twitter.com/saadmohseni/status/1426958272645435398
Nochmal für dumme. Wenn die Talib ihren Staat kriegen, wo ist dann der Unterschied zum IS?
@ dante
„Nochmal für dumme. Wenn die Talib ihren Staat kriegen, wo ist dann der Unterschied zum IS?“
IS ist eine messianisch internationalistisch orientierte sunnitische Gruppierung die quasi die islamistische Weltrevolution zum Ziel hat.
Die Taliban sind im wesentlichen eine afghanische religiös nationalistische Bewegung (früher primär pashtunisch, mittlerweile wohl ethnisch deutlich heterogener) die keine grenzüberschreitenden Ambitionen hat (zumindest bisher)
kurzform: IS will Sharia für die Welt, die Taliban begnügen sich mit Afghanistan
Bezeichnend für die mediale Diskussion und auch hier im Forum:
Man arbeitet sich am BMVg, „der Bw“, dem AA oder irgendwelchen untergeordneten Entscheidungsträgern ab oder umgekehrt globalgalaktisch „dem Westen“.
Wir haben eine Bundeskanzlerin seit 16 Jahren im Amt. 2005-2021. Fast deckungsgleich mit dem AFG-Einsatz.
Die BKin bestimmt ja angeblich die Richtlinien der Politik.
Und die will doch immer ein freundliches Gesicht zeigen, sonst wäre es nicht mehr ihr Land.
Die wird einfach so ausgespart.
Ich bin es zwar gewöhnt aber ich werde es weiterhin nicht akzeptieren.
Ach ja: Obama war übrigens POTUS von 2009-2017. Da fielen ja auch die vielen strategischen Entscheidungen für AFG. Ist der verantwortlich? Trump (igitt bäääääh) hat ja am Ende nur das ausgesprochen, was klar erkennbar war, wenn man denn was erkennen wollte. Die aktuelle Umsetzung ist übrigens unter der Verantwortung von Biden…..
Sorry, ich wollte nicht stören.
Peter Scholl-Latour soll 2014 im Auswärtigen Ausschuss gesagt haben, die afghanische Armee bestünde aus „gesinnungslosen Tagelöhnern“. Damals stand die Ausbildungsmission Resolute Support im Raum, die er für völlig sinnlos hielt. In der Zeit wurde ja grundsätzliche Kritik an ihm laut, dass er nicht wissenschaftlich arbeiten würde und im Wesentlichen sein Bauchgefühl kundgäbe.
Das was wir in dieser Woche erlebt haben, ist ja vorauseilende Kapitulation.
Wieso ist uns (bzw. der politischen Führung in Deutschland) der moralische Zustand, die innere Einstellung der afghanischen Armee völlig verborgen geblieben? Oder wurde die Führung dank allseits beliebtem „grünmelden“ nicht in Kenntnis gesetzt?
Solche Hintergrundinformationen über den inneren Zustand der Nation müssen doch vom Auslandsgeheimdienst beigesteuert werden. Aber da scheint der BND genauso wenig drüber gewusst zu haben wie die übrigen westlichen Dienste.
@Dante:
Taliban -> Emirat = regionaler (hier: nationaler) Machtanspruch – zumindest bisher
IS -> Kalifat = globaler Machtanspruch
@ megaria Und daher der Iran. Die haben Die Technik und freuen sich. Und dass sehr schnell gegen lLebensmittel Lieferungen.
Ich frage mich wirklich, wie die gesamte deutsche Regierung nach dieser – das kann sich kein Märchenerzähler fiktiv ausdenken – „Krönung“ zum Ende, welches politisch lautet „Deutschland evakuiert erst, wenn auch der letzte Talib ordentlich im Präsidentenpalast in Kabul seinen Platz genommen hat.“ noch in irgendeinen Spiegel schauen kann, ohne sofort seinen Rücktritt für jahrelanges Dauerversagen einzureichen?
@wacaffe
Weder in AA noch im Bundeskanzleramt wird man den geringsten Anlass sehen, „vor Scham in den Boden zu versinken“. Man hat ja nach Schema F alles richtig gemacht. Die tatsächliche Lage interessiert Juristen und Stabsoffiziere nach meiner Erfahrung (mein früherer Referatsleiter war zweimal in Afghanistan) nicht im geringsten.
Die von Ihnen angesprochene „bräsige Verantwortungsdiffusion“ stört nur uns Laien, die noch glauben, Versagen sollte auch Konsequenzen haben. Sie ist in der heutigen Praxis ein zentraler Pfeiler, um im öffentlichen Dienst Karriere zu machen.
wacaffe sagt:
15.08.2021 um 22:45 Uhr
„… nicht in der lage sein soll autonom …“
Natürlich sind wir dazu in der Lage. Wir sind auch zu ganz anderen Dingen in der Lage, aber wie immer sind wir nicht bereit die Kosten zu tragen. Nicht nur finanzielle Kosten, sondern auch Menschenleben (tote Soldaten).
Das finde ich auch überhaupt nicht verwerflich.
Man muss immer jede Aktion abwägen und „durchrechnen“ auch wenn es zynisch klingt.
Was haben wir denn davon, wenn man jetzt ohne Verhandlungen mit den Taliban auf Biegen und Brechen nach Kabul eigene Truppen in Brigadestärke schicken würden (oder schon vor paar Tagen geschickt hätte). Nach einem zähen Kampf um den Flughafen mit dutzenden toten eigenen Soldaten und mit Sicherheit auch hunderten toten Zivilisten im Umfeld des Flughafens hat man welches Ziel erreicht?
Die langfristigen Folgen (Deutschland hätte dann mit Sicherheit auch hunderte Taliban auf dem Gewissen) sind dann doch nicht abzusehen.
Dann doch lieber so, mit Verhandlungen. Und Verhandlungen dauern und natürlich ist es am Anfang in einer Lage immer sehr konfus.
Wahrscheinlich fließt viel Geld oder es wird andere Zugeständnisse geben. Nicht nur gegenüber den Taliban, sondern auch gegenüber deren Schutzmächten. Soll mal keiner glauben, dass die Taliban ganz allein ohne einen Partner agiert haben oder auch agieren können. Bitte nicht so naiv sein.
Momentan ist die Lage natürlich sehr verworren, aber es wird jetzt auch immer so getan als würde das Außenministerium nichts tun.
Im Hintergrund spielen sich die wichtigsten Aktionen ab und nicht die Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen.
Afghanistan hat 38 Millionen Einwohner und davon hat sich ein großer Teil (aber natürlich weit weniger als die Mehrheit) die letzten 5-10 Jahre nicht so verhalten, wie es die Taliban wollen.
Um die geht es jetzt und nicht nur um die paar Tausend Ortskräfte am Flughafen.
Auch wenn es wieder zynisch klingt, aber man muss immer das Gesamtbild im Auge haben und lieber „opfere“ ich einen Teil der Ortskräfte (die vielleicht doch nicht so viel zu befürchten haben), aber dafür erregt man nicht die Gemüter der neuen Machthaber und schafft so vielleicht eine bessere Ausgangsbasis für alle Afghanen.
Die Methode Brechstange (Flughafen unter Kampf halten) endet dann in der Gesamtbetrachtung über die nächsten Jahre in einem Fiasko.
Man merkt doch auch selbst, dass die Welt nicht so einfach ist:
Die Afghanische Regierung hat die letzten Tage allen Ausreisewilligen Steine in den Weg gelegt (Pass beantragen). Mit Sicherheit gab es da im Vorfeld schon die eine oder andere Aussprache mit den Taliban (vielleicht über die Schutzmächte) und damit war eigentlich die Messe schon gelesen.
Kein Einheimischer in dem Land will einen Bürgerkrief wie in Syrien oder Libyen, deshalb verhandelt man und gibt kampflos seine Armee auf. Nach den Bildern und Videos aus den anderen Ländern auch verständlich.
Wen wundert es denn… am Samstag hat man in der Bundesregierung Handlungsbedarf erkannt. Dachte wohl auch das man locker ein bis zwei Wochen Zeit hätte bis Kabul fällt….. und dann hat sich die Lage im Halbstunden Takt geändert.
Und Zuhause ist immer noch Wochenende, genau so ein Wochenende an dem 95% des Standortes Zuhause bei Mutti im Garten sitzt und Bier trinkt. Wenn man dann Montag soweit ist in Kabul zu landen ist das echt „Worpspeed“ für die BW.
Ändert aber nichts daran, dass sich Annegret, Angela, Heiko und Horst ihre Hände in Blut gebadet haben. Dem Blut der Ortskräfte die wir schon vor Monaten hätten rausholen sollen. Jetzt können wir froh sein alle deutschen da heil raus zu bekommen. Saigon 75 / Kabul 21 Geschichte wiederholt sich.
Wenn die USA uns nicht den Flughafen KABUL offenhalten würden, dann wären wir noch nicht einmal mehr in der Lage, unser Botschaftspersonal auszufliegen. Am Ende dieses 20-jährigen BW-Einsatzes hat man im AA und BMVg sogar das Ende noch verschlafen.
WIR.KÖNNEN.GAR.NIX.
Flughafen voller Schutzbedürftiger, welche dem Westen Glauben schenkten, von einer freien Lebensweise. Ich bin gespannt wie entsetzt und empört man sich gibt und die Floskel „wir Verurteilen dies schärfste“ die Runde macht. Ich hoffe es kommt nie zu Bildern von Auswirkungen, was passiert wenn die USA den Flughafen nicht mehr sichern. Aber lasse man doch die Ministerien rund um Seehofer, AKK und Maas die Verantwortung jeweils weiterreichen und vom Kanzleramt („wir denken vom Ende an“) wird das Thema gemieden. Ich schäme mich fremd als aktiver Soldat miterleben zu müssen, wie stümperhaft und heuchlerisch mit Krisen und Partnern umgegangen wird. (Fregatte BY Indopazifik, AFG,…) Wer soll uns noch glauben? Bindung Diensteid…
So wie es aussieht wurde wohl der Großteil oder sogar alle Angehörigen der Botschaft mit einer US Maschine nach Katar ausgeflogen.
Ich denke mal, da sind nur noch NGO’s und vielleicht ein par Privatleute vor Ort, die noch raus wollen.
Da zeigt sich mal wieder schnell und flexibel auf sich veränderte Situationen zu reagieren, ist nicht gerade die Stärke deutscher Politik.
Guten Morgen, mal eine naive Frage an die militärisch Vorgebildeten.
Wäre es eigentlich möglich, auch jetzt noch, alle größeren Flughäfen in Afghanistan mit Special Forces / Fallschirmjägern für ein paar Tage zu sichern, um die verbliebenen Ortskräfte rauszuholen? Also Kommunikation an die Taliban: „ Achtung wir kommen jetzt. Köpfe für 5 Tage unten lassen.“
Könnte die BW für 1-2 Flugplätze so etwas?
Ich konnte es kaum fassen, zu lesen und zu hören was dort in AFG jetzt passiert. Das die Ortskräfte jetzt um ihr Leben bangen,ist ja verständlich. 2015 sind mit der Flüchtlingskriese hunderte in die BRD ohne Dokumente eingereist. Warum müssen dann Ortskräfte,die für „uns “ gearbeitet haben,alle ihre Ausweise/ Visa vorzeigen. Sowas macht doch dann keinen Sinn,weil man ja eigentlich weiss,wer für die BRD gearbeitet hat. Die Ortskräfte werden ja auch schließlich überprüft,bevor sie für die BRD arbeiten. Allgemein gesehen halte ich es für ein sehr großes Desaster, was in AFG passiert. Alle sind gespannt auf das was kommt.
@Nur So
Die meisten Afghanen verfügen nicht über zuverlässige Identitätsnachweise. Es gibt zwar biometrische Reisepässe, die jedoch häufig gefälscht bzw. gestützt durch Korruption mit falschen Angaben ausgestellt werden. Ohne eine sorgfältige Prüfung kann man nicht kontrollieren, wer tatsächlich nach Deutschland einreist. Angesichts der Erfahrungen mit der Einreise von IS-Terroristen nach Europa ab 2015 wäre es unverantwortlich, bei Einreisen aus Afghanistan auf solche Prüfungen zu verzichten.
Im Übrigen ist das in der Diskussion im Vordergrund stehende Problem der ehemaligen Ortskräfte im Vergleich zur Gesamtproblematik relativ unbedeutend. Aus Sicht militanter Islamisten hat der Westen gerade eine katastrophale und spektakuläre Niederlage erlitten. Das wird diesen Kräften (und anderen Gegnern des Westens) weltweit Auftrieb geben. In Deutschland scheint das noch niemandem richtig klar geworden zu sein.
Warum die Afghanische Armee nicht schießt? Warum sollte sie? Es ist für einen niederen Kommandeur doch sehr viel angenehmer, eine geordnete Kapitulation zu vereinbaren und damit ggf. im Rahmen einer von den Taliban verordneten Sicherheitsarchitektur künftig weiterhin eine Rolle zu spielen (oder auch nur nicht gleich erschossen zu werden), als seine Leute in einen offensichtlich sinnlosen, bzw. mindestens extrem riskanten Kampf zu schicken und dafür zu riskieren, sich von den eigenen Männern eine Kugel einzufangen.
Hinzu kommt: Die ANA war von Anfang an geplagt von gewaltigen Problemen. Korruption, Analphabetismus, Material- und Nachschubschwund, Drogenmissbrauch, Desertion und allgemeine Disziplinlosigkeit unter Soldaten… Anfangs existierten zahlreiche Soldaten nur auf dem Papier, Einheiten wurden mit Phantomsoldaten künstlich aufgebläht; den Sold strichen die korrupten Offiziere ein.
Bei gemeinsamen Operationen haben NATO-Truppen den Afghanischen Soldaten vorher wenige Stunden vor dem Beginn oft die Mobiltelefone wegnehmen müssen, um zu verhindern, dass diese bei Familienmitgliedern oder Freunden über Details von bevorstehenden Einsätze prahlten oder gar gegenseitige Warnungen mit Taliban-Kämpfern auf der Gegenseite austauschten. Sprit und Ausrüstung wurden immer wieder gestohlen oder veruntreut…
Es bestand und besteht auf der Ebene des einfachen Soldaten in Afghanistan – und schätzungsweise auch bei den Offizieren und Unteroffizieren schlicht kein Interesse, effektiv gegen die aus dortiger Sicht voraussichtlich am Ende sowieso gewinnenden Taliban zu kämpfen. Ein echtes Interesse besteht wohl lediglich im Falle interner Machtkonflikte entlang von Clanstrukturen.
Es liegt mir fern, hierüber zu urteilen. Ich bin kein Afghane und muss auch nicht dort leben. Und meine europäische Sicht aus der Tradition der Aufklärung ist vielleicht auch nicht die richtige, um sie einem Land ohne Transformationswillen überzustülpen. Solange nämlich die ganz überwiegende Zahl der Menschen dort kein Interesse hat, an den grundlegenden Strukturen etwas zu ändern, wird es absehbar genau so bleiben, wie es ist. Geld in das Land zu pumpen wird auch im Wesentlichen nur korrupte Machthaber fett machen, die sich und ihren Spezis die Taschen polstern, statt das Geld für den Zweck einzusetzen, für den es gedacht ist. Bloß jetzt eben andere als zuvor. Das muss man wissen und auf dieser Grundlage abwägen, was man dort letztlich erreichen will.
Aber mich überrascht nun wirklich nicht, dass kein ANA-Soldat wirklich gegen die Taliban kämpft… Wofür denn? Für ein Gesellschaftssystem, das man selbst nicht wirklich versteht und vielleicht auch selbst gar nicht haben möchte?
P.S. Im Übrigen gibt es zahlreiche Reiseziele, bei denen afghanische Staatsangehörige keine Visa benötigen: https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Afghan_citizens
Wer davon ausgeht, in Afghanistan nicht sicher zu sein, konnte bis zur Schließung der Flughäfen problemlos in einen dieser Staaten ausreisen und brauchte dafür nur einen Reisepass. Davon abgesehen konnten Afghanen (egal ob ehemalige Ortskräfte oder nicht) für andere Staaten ganz normal Visa beantragen und bekamen diese in der Regel auch in vielen sicheren Staaten, etwa am Persischen Golf. Was es dort nicht gibt, ist sozialstaatliche Absicherung, die in den meisten Fällen das eigentliche Motiv hinter dem Wunsch der Ausreise nach Deutschland sein dürfte. Das sollte man dann aber auch ehrlich benennen und nicht so tun, als hätte es für diesen Personenkreis nicht zahlreiche andere legale Möglichkeiten dazu gegeben, sich in andere Staaten zu begeben.
Wenn man mal gründlich drüber nachdenkt, dann ist dieses Ende wahrscheinlich besser als ein immer währender Bürgerkrieg a la Syrien. Und man muss zugeben, dass wir 20 Jahre lang ein unfähiges, korruptes Regime gefüttert und damit auch Schaden angerichtet haben, einschließlich der Hoffnungen, die dazu verdammt waren enttäuscht zu werden. Die Taliban, auf der anderen Seite, waren bei all ihrer Grausamkeit und ihrem Extremismus letztlich die besser organisierten Herrscher. Man kann davon ausgehen, dass sie das Land kompetenter regieren werden als das was vorher da war. Und vielleicht sind diese Taliban anders als die in den 90ern. Ja, wir müssen mit Aufwind für den globalen dschihadismus rechnen, und das bedeutet Gefahr für uns. Andererseits dürften auch die Islamisten gelernt haben, dass allzu öffentliche Unterstützung für internationalen Terrorismus und Bedrohung anderer Länder Gegenreaktionen hervor ruft. Hoch auf der Agenda wird stehen, nicht sofort die nächste Invasion auf den Plan zu rufen. Ich habe den Eindruck, mit dem dschihadismus etabliert sich eine politische Ideologie, die auch irgendwann „erwachsen“ wird. Im guardian las ich zb eine Analyse zum IS in Nordafrika, der zunehmend staatstragende Töne anschlägt. Man distanziert sich von der mörderbande Boko Haram. Und nachdem alle anderen Eliten und Ideologien in den betreffenden Ländern ndern im Dauerversagen begriffen sind, mag hier eine Alternative entstehen. Nicht dass ich den Frauenhass und den brutalen Extremismus gut heiße. Nur eben potenziell erfolgreich. Es könnte sein, dass das Ziel, ein weltweites Kalifat, über halbwegs stabil regierte Territorien besser zu erreichen ist als über „stumpfen“ Terrorismus. Man wird ja auch Talente brauchen. Die Taliban der 90er hatten jedenfalls keine hochkompetente PR Abteilung. Vielleicht wird es eine Mischung aus extremster Brutalität und Härte gegen abweichler und einem echten Versuch des Guten Regierens geben. Darauf klug zu reagieren ist die Aufgabe für den Westen.
@wacaffe
Die Sicherung des eigentlichen Flugfeldes sieht laut Twitter-Videos so aus: Stacheldraht, Reizgas, Warnschüsse..
Und wenn das nicht hilft, Schüsse auf die Menschen. Grundsätzlich dürfte das ja jeder so ähnlich in der Grundausbildung zum Wach- und Sicherungssoldaten gelernt haben.
Es hat zwar wohl schon Tote am Flughafen gegeben, aber die Ursache ist noch nicht klar – Schüsse der Sicherungskräfte, Massenpanik, etwas anderes?
@Felix
Würde die Taliben eben nicht als dschihadistisch beschreiben (im Gegensatz beispielsweise zum IS), weil die Taliban – von der üblichen Rhetorik abgesehen – primär Regional- und Lokalinteressen verfolgen. Es geht ihnen vor allem darum, sich selbst nach ihren traditionalistischen islamischen/islamistischen Vorstellungen zu reagieren und das abzusichern, indem sie die Macht in Kabul übernehmen. Es wird sicher auch Versuche von einzelnen Gruppen geben, künftig in Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan stärker aktiv zu werden, darauf sind die Nachbarländer aber vorbereitet, an der Nordgrenze sichert Russland ab, die Grenze zu Pakistan wurde in den letzten Jahren ausgebaut und abgesichert und der Iran wird sicher auch aktiv sein. Im Kern geht es also nicht darum, im dschihadistischen Sinne einen großen Feldzug des Islam nach dem Vorbild Mohammeds durchzuführen, sondern primär darum Afghanistan und ihre eigenen Dörfer und Kleinstädte unter ihre Kontrolle zu bringen. Im Gegensatz zum IS oder Al Quaida sind die TB auch stark traditionalistisch und tribalistisch ausgerichtet und haben einen starken Regionalbezug, was sie von transnational operierenden Dschihadistisch-terroristischen Gruppen unterscheidet, denen es primär darum geht, den Westen zu bekämpfen und einen Dschihad der terroristischen Nadelstiche zu führen.
@Diploman: wurden bei der Sicherheitsüberprüfung der Orstkräfte keine Fingerabdrücke genommen?
@Diploman
Es ist ja eine Frage womit man rechnet. Erstens haben diese Leute wohl genauso wenig mit einem so schnellen Sieg der Taliban gerechnet wie wir. Und zweitens haben sie wohl – mit einiger Berechtigung – damit gerechnet, dass wir sie im Fall der Fälle rausholen. Es ist ein bisschen wie im Geschichtsunterricht, wo alle fragen: Warum sind die nach 1933 nicht alle gleich geflogen? Ja warum, weil man die Zukunft nicht wissen kann.
Ich möchte – nur mal spaßeshalber – wissen, wieviele herausragend gute Referenten und Referatsleiter im BMVg die schonungslose Analyse und Vorhersage des jetzigen Status Quo in Verbindung mit unliebsamen Empfehlungen in diversen VzE und VzI wohl die weitere Karriere gekostet hat, weil es – anstatt sich mit realpolitischen Problemen auseinanderzusetzen – für die politische Leitung des Hauses bequemer und einfacher war, „den Boten zu erschießen“ …?
@wacaffe Wenn die militärische Evakuierung derart überrannt werden sollte, wie man es anhand der Bilder vorausahnen kann, sind ROE sehr schnell hinfällig. Dann befindet man sich bereits in der Selbstverteidigung.
Insgesamt kann man da aus deutscher Sicht nur beschämt auf den Boden schauen.
Überrascht kann eigentlich niemand sein oder hat jemand ernsthaft etwas von der ANA erwartet?
Bei der Beurteilung der afghanischen Armee und der anderen Sicherheitskräfte des Landes war offenbar entweder der durchaus wesentliche Unterschied zwischen Kampfkraft und Einsatzwert unbekannt oder es wurde fahrlässig oder sogar vorsätzlich deren Kampfkraft einfach für ihren Einsatzwert genommen.
Anders ist die Überraschung, wie schnell und nahezu kampflos Armee und Sicherheitskräfte sich in Nichts aufgelöst haben, nicht zu erklären.
Jahrelang wurde die deutsche Öffentlichkeit belogen, nun ist die Realität für viele überraschend. In den Köpfen der Menschen, die aus eigenem Erleben Afghanistan nicht kennen, sind Bilder von brunnenbohrenden Soldaten, „westlichen“ Afghaninnen und Mädchenschulen.
Die Wahrheit, dass in Afghanistan ein Bürgerkrieg herrscht und dabei die Bundeswehr eine vom „Westen“ eingesetzte Vasallenregierung stützte, durfte so nicht gesagt werden.
Wie die Taliban es in den letzten Jahren, trotz größtmöglicher Luftunterstützung der USA für die afghanischen Sicherheitskräfte, geschafft haben immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, wurde nicht in Rahmen von Talk – Shows verarbeitet. Auch wurde kaum erwähnt, dass selbst als der Westen über 100.000 Soldaten in Afg hatte, die Taliban in großen Gebieten das Sagen hatten (da gab es keine Patroullien, sondern ab und an eine militärische Operation).
Es gab Gefechte zwischen den Taliban und der Bundeswehr. Offiziell wurde aber immer nur von einem „feigen Anschlag“ gesprochen, wenn ein deutscher Soldat im Kampf gefallen ist.
Die derzeitige Realität ist nicht schön. Jeder Krieg muss aber irgendwann enden. Vielleicht überlegen sich unsere Politker in Zukunft, was sie wirklich wollen, welche Opfer andere für ihre Entscheidung tragen sollen und hören sie auf die Öffentlichkeit zu belügen.
Mein Respekt gilt den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die versucht haben mit ungenügender personeller und materieller Unterstützung ihren Auftrag zu erfüllen.
Seit 2009 sind in Afghanistan 59 Bundeswehrsoldaten gestorben (35 im Gefecht gefallen). Es sind 2.442 US-Soldaten gefallen und rund 40.000 afghanische Sicherheitskräft. 54.000 Taliban wurden getötet (die Zahlen schwanken etwas je nach Quelle). 38.559 Zivilisten wurden durch Waffengewalt getötet und 72.334 verletzt bzw. verstümmelt (offiziell erfasste Fälle). Wofür?
Der 20-jährige NATO Einsatz in Afghanistan hat über 2 Billionen Dollar gekostet, vor allem US-amerikanische Dollars.
Der rasante Vormarsch der Taliban in den letzten Tagen erfolgt überwiegend kampflos. Der größte Teil der 300.000 Mann starken und relativ gut ausgerüsteten afghanischen Armee (z.B. mehr Kampfhubschrauber als die Bundeswehr) ergibt sich ohne Widerstand einer Truppe von rund 75.000 aktiven Talibankämpfern. Das 209. Armeekorps, das die wichtige Stadt Masar-i-Scharif verteidigen sollte (ehemaliges Hauptquartier der Bundeswehr), hat bei Annährung der Taliban kampflos die Waffen gestreckt. Das 215. Armeekorps, das die zweitgrößte Stadt Dschlalabad und den gesamten Süden verteidigen sollte, ist komplett übergelaufen. Es ist unklar, ob die Sicherheitskräfte ernsthaft versuchen werden, die letzte Bastion in Kabul zu verteidigen. Sicherheitskräfte, die sich ergeben, werden entwaffnet und nach Hause geschickte. Massaker an Sicherheitskräften, die den Kampf einstellen, sind nicht bekannt.
Afghanistan ist eines der drei Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge in Deutschland leben. Die von der Politik propagierte „Beseitigung der Fluchtursachen“ hat offenbar mit militärischen Mitteln wieder mal nicht funktioniert. Frau Baerbock will jetzt die Tore öffnen und aus humanitären Gründen noch mehr Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Mit Flugzeugen sollen die guten Afghanen bzw. „Ortskräfte“ ab Montag nach Deutschland gebracht werden. „Kein Platz im Flieger sollte leer bleiben.“ fordert Habeck, Co-Chef der derzeit kleinsten Oppositionspartei im Bundestag.
Der innenpolitische Sprecher der CDU M. Middelberg widerspricht den Grünen und hält die Idee für verfehlt, eine weitere große Anzahl von afghanischen Flüchtlingen in der EU aufzunehmen:
Das Engagement der EU muss auf eine Flüchtlingsaufnahme in der Region ausgerichtet werden.
Die in deutschen Medien euphemistisch als „Ortskräfte“ Bezeichneten nennt man sonst „Kollaborateure“. Viele Ortskräfte haben auch als Informanten für die Taliban gearbeitet um sich abzusichern. Vor Ort kommt die Entwicklung nicht überraschend.
News: Kabul wurde heute übergeben! Nicht nur militärisch hat sich die NATO blamiert. Auch die Auslandsgeheimdienste haben mit ihrer Lageeinschätz voll daneben gelegen. Kabul wird sich noch 30-90 Tage halten und wir können morgen langsam damit beginnen, unsere Kolaborateure auszufliegen? FAIL! Die Taliban werden die Kollaborateure abziehen lassen. Sie wollen kein großes Massaker, auch wenn einige Medien Einzelfälle groß aufbauschen.
Btw: Erich Weinert schrieb schon 1928 ein Gedicht über die Zivilisierung Afghanistans:
Der große König der Afghanen
Der sprach zu seinen Untertanen:
Ich hab das Abendland bereist,
Und bin ganz voll vom neuen Geist!
Wir müssen uns modernisieren,
Um mit der Welt zu konkurrieren!
Doch letzten Endes fehlt uns nur
Die europäische Kultur! (…)
Doch Amanullahs Bergbewohner
Verhauten die Kulturdragoner,
Die rings herum Afghanistan
Mit Zivilisation versahn.
Da wurde Amanullah wütig:
Die Bande wird zu übermütig!
Ich hab im Abendland studiert,
Wie man das Volk zivilisiert!
Drauf schickte er ein Heer Soldaten,
Und schoss mit Bomben und Granaten
Die Bergbewohner kurz und klein.
Nun werden sie wohl artig sein! (…)
Die armen Hirten dahingegen
Die wissen jetzt. Der Bombensegen,
Der da in ihre Hütten fuhr,
War europäische Kultur.
[Nein, das mit den Gedichten machen wir hier nicht. Weitere Aufsätze dieser Art fliegen raus. T.W.]
Da ich in Kunduz eingesetzt war, muss ich mich selbst heute kritisch fragen: Was hat GIRoA eigentlich im Chahar Dareh gemacht? Was haben wir als BW dort getan? Hätte uns etwas auffallen müssen?
ANA war ja nur in den wenigsten Fällen zu gemeinsamen OPS bereit (Kein Benzin, Kein Bock usw). Also auch NULL Präsenz im Raum. Die ANP hat uns immer begleitet aber eher im Sinne eines Ortskundigen und Koordinators der Milizen (CIP) die aus Hesco-Sandburgen ein paar 100 Meter Weg überwacht haben und eher eine zweifelhafte Rolle spielten.
Als wir eine größere Ortschaft genommen hatten wollten die Leute eine Ausbesserung der Straße und Sitzmöbel für die Schule. Geplant wurden von deutscher Seite aber öffentliche Klos für Frauen.
Nach der Operation Halmazaq wurden Strommasten aufgestellt die aber von vielen Dörfern nicht genutzt wurden, weil man die Erwartung hatte ISAF solle die Hausanschlüsse fertig machen.
Mir wurde noch Shape, Clear, Hold, Build eingetrichtert. Ich glaube Shape and Clear hat militärisch irgendwo funktioniert aber „Hold“ muss durch örtliche Sicherheitsbehörden geleistet werden und „Build“ wird nicht durch den CIMIC Offz abgedeckt.
Ich bin mir nicht mal sicher ob wir „Hold“ mit Präsenz im Raum überhaupt ansatzweise erfüllt haben oder einfach als zeitweises Übel toleriert wurden.
Letztlich bleiben das Land und die Menschen für mich persönlich ein Rätsel.
Wir haben da niemanden erreicht.
Eine Armee kann Angriffsziele nehmen, Räume verteidigen oder verzögert im Kampf preisgeben. Dabei können wir mit Partnern üben aber ich kenne kein historisches Beispiel indem man erfolgreich Partner über ein Waffentraining hinaus mit Erfolg schulen konnte selbstständig zu operieren.
So schneidet dieses Organisationsversagen auch in meine persönliche Einsatzgeschichte. Bitter.
Das musste ich mir mal Abladen. Danke.