Dokumentation: Merkel zu Afghanistan, 16. August 2021
Vor dem Hintergrund der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag (16. August) mit einem öffentlichen Statement zu Wort gemeldet. Darin ging es vor allem um die Fehleinschätzungen, die zu dieser Situation führten, und auch um die Lehren daraus. Zur Dokumentation das Transkript ihrer Stellungnahme und einige Fragen und Antworten im Anschluss:
Merkel: Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich habe am Wochenende und vorhin gemeinsam mit anderen Bundesministern die Vorsitzenden der Fraktionen im Deutschen Bundestag über unser Bild der Lage in Afghanistan und über die laufenden Bemühungen unterrichtet, wie wir Menschen von Afghanistan, von Kabul aus in Sicherheit bringen. Darüber möchte ich jetzt auch Sie und damit natürlich die Öffentlichkeit informieren. An der Unterrichtung haben neben mir der Vizekanzler Olaf Scholz, der Außenminister, die Verteidigungsministerin, der Innenminister, der Entwicklungsminister und der Chef des Kanzleramtes teilgenommen.
Seit dem Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan müssen wir erleben, wie die Taliban in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit Provinz für Provinz, Stadt für Stadt wiedererobern und das ganze Land erneut unter ihre Kontrolle gebracht haben. Das ist eine überaus bittere Entwicklung. Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklung natürlich ganz besonders für die Menschen in Afghanistan, diesem Land, das in seiner Geschichte immer wieder so geschunden wurde. Sie ist furchtbar für die Millionen Afghanen, die sich für eine freiere Gesellschaft eingesetzt und die mit Unterstützung der westlichen Staatengemeinschaft auf Demokratie, auf Bildung, auf Frauenrechte gesetzt und dabei auch wichtige Fortschritte erreicht haben.
Die Entwicklung in Afghanistan ist aber natürlich auch für Deutschland und die anderen verbündeten Nationen bitter, die unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 20 Jahre in Afghanistan gegen den Terrorismus und für freiheitlichere Strukturen gekämpft haben. Die Verbündeten und natürlich auch unsere Bundeswehr haben zusammen mit vielen zivilen Organisationen Wichtiges geleistet. Niemals dürfen wir die Menschen vergessen, die diesen Einsatz mit ihrem Leben ‑ unter ihnen auch 59 Deutsche ‑ oder aber mit Narben an Leib und Seele bezahlt haben. Deshalb denke ich in dieser Stunde gerade auch an den Schmerz ihrer Angehörigen und Freunde, gerade jetzt, da alles so vergeblich erscheint.
Ich habe die Fraktionen am Wochenende und vorhin darüber unterrichtet, dass wir jetzt alles daransetzen müssen, unsere Landsleute in Sicherheit zu bringen, also die Mitarbeiter der Deutschen Botschaft und die Mitarbeiter von in Afghanistan tätigen deutschen Organisationen auszufliegen. Ein Teil der Mitarbeiter der deutschen Botschaft wurde ja bereits gestern nach Doha gebracht.
Wir haben den Fraktionsvorsitzenden gemeinsam noch einmal erläutert, was wir tun, um Schutz suchenden afghanischen Menschen, vor allen Dingen Ortskräften, auch Hilfe angedeihen zu lassen. Ich will es vielleicht noch einmal erläutern. Von den Ortskräften, die insbesondere mit der Bundeswehr, aber auch mit der Bundespolizei zusammengearbeitet hatten ‑ das waren etwa 2500 Personen inklusive ihrer Familien ‑, sind bereits 1900 in Deutschland. Ein Teil wird vermutlich auch bereits in sicheren Drittländern sein.
Im Augenblick geht es aber um Menschen, die vor allen Dingen auch im Bereich der Entwicklungshilfe mit uns als Ortskräfte gearbeitet haben. Der Bundesentwicklungsminister hat eben berichtet, dass es etwas über tausend Personen gibt, die mit der GIZ und der KfW zusammengearbeitet haben. Das Entwicklungsministerium hat alle kontaktiert, ebenso Personen, die mit der Welthungerhilfe und anderen NGO zusammengearbeitet haben; das sind etwa 500. Davon haben sich bis jetzt etwas über 500 oder knapp 600 gemeldet. Mit denen wird man versuchen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sie außer Landes zu bringen.
Unsere Bundeswehr hat ihren Einsatz begonnen, und zwar mit drei A400M-Transportmaschinen. Eine davon ist im Augenblick im Anflug auf Kabul. Aber die Situation am Flughafen ‑ darüber haben uns die Verteidigungsministerin und der Außenminister informiert ‑ ist ‑ das wissen Sie auch aus den Pressemitteilungen ‑ sehr angespannt. Wir hoffen, dass unser erster A400M bald landen kann.
Die Bedingungen in Kabul sind also extrem schwierig. Deshalb ist es unabdingbar, dass die deutschen Bemühungen in die internationalen Anstrengungen eingebunden werden. Die Ansprechpartner am militärischen Teil des Kabuler Flughafens sind vor allen Dingen die USA und die Türkei. Ich darf sagen: Wir bekommen Hilfe von befreundeten Staaten, und wir helfen, wo nötig, auch anderen.
Ich habe in diesem Zusammenhang heute auch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gesprochen. Wir werden uns sehr intensiv sowohl über die Evakuierung als auch über nachfolgende Entwicklungen abstimmen. Ich glaube, dass es hierbei eine sehr enge deutsch-französische Zusammenarbeit geben wird.
Wir werden das Bundestagsmandat am Mittwoch im Kabinett beschließen. Genauso werden wir auch darüber sprechen, was im Zusammenhang mit Fluchtbewegungen absehbar ist. Hierbei geht es vor allen Dingen darum, dass wir den Nachbarstaaten helfen, in die die afghanischen Flüchtlinge gegebenenfalls kommen ‑ das ist vor allen Dingen Pakistan ‑, und dass wir Kontakt zum UNHCR aufnehmen. Auch darüber werden wir am Mittwoch im Kabinett sprechen.
Es gibt einen engen Kontakt des Außenministers, der Verteidigungsministerin, des Innenministers. Am Mittwoch wird es einen europäischen Innenministerrat geben. Am Mittwoch wird es einen europäischen Außenministerrat geben. Wir werden auch als Staats- und Regierungschefs in Bezug darauf in Kontakt bleiben, ob und gegebenenfalls wann es sinnvoll erscheint, einen europäischen Sonderrat zu machen, gerade auch mit Blick auf internationale Unterstützung der Nachbarländer von Afghanistan. Im Augenblick steht im Vordergrund aber die operative Evakuierung und alles zu tun, um möglichst viele Menschen in Afghanistan noch außer Landes zu bringen.
Wir haben mit den Fraktionsvorsitzenden verabredet, dass wir uns morgen wieder kontaktieren werden. Wir werden das jetzt sehr engmaschig tun, um den Deutschen Bundestag hierbei auch bestmöglich in die Entwicklungen, die wir auch nicht alle voraussehen können, einzubeziehen.
Das war es von meiner Seite als Information an Sie.
Frage: Frau Bundeskanzlerin, nach Afghanistan stellt sich die Frage der Lehren für die anderen deutschen Auslandseinsätze, zum Beispiel in Mali. Stehen wir da nicht vor einem ähnlichen Problem? Die Bundesregierung hatte ja immer damit argumentiert, dass auch „state building“ bzw. „nation building“ ein Teil des deutschen Konzepts seien. Ist das nicht gescheitert? Muss man daraus Lehren für die anderen Auslandseinsätze ziehen?
Merkel: Na ja, wir müssen ja jetzt zur Kenntnis nehmen, dass bei dem NATO-Einsatz in Afghanistan eine eigenständige Rolle Deutschlands oder europäischer Kräfte nicht möglich ist. Wir haben vielmehr immer gesagt, dass wir von den Entscheidungen der amerikanischen Regierung elementar abhängen. Da stellt sich die Situation in Mali etwas anders dar. Hier gibt es einen sehr starken französischen Beitrag. Wir unterstützen von deutscher Seite aus MINUSMA. Das ist eine Unterstützung eines politischen Prozesses zum Zusammenhalt von Mali, der aber längst nicht so umfassend ist, wie wir uns Hoffnungen im Hinblick auf Afghanistan gemacht haben.
Ich muss ganz klar sagen: Wir müssen uns diese Fragen stellen. Die kann ich heute nicht abschließend beantworten. Ich kann nur sagen, dass jetzt schon klar ist, dass unsere Hoffnungen, dass wir neben der Bekämpfung des Terrorismus ‑ ‑ ‑ Was das anbelangt, ist es ja inzwischen so, dass Al-Qaida heute solche Anschläge auf die Vereinigten Staaten von Amerika, wie es ihn am 11. September 2001 gegeben hat, nicht aus Afghanistan heraus machen könnte – Aber alles, was sich daran angeschlossen hat, ist nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir es uns vorgenommen haben. Das ist eine Erkenntnis, die bitter ist. Sie ist bitter für die vielen Afghanen, die auf diesem Weg sehr, sehr aktiv mitgemacht haben. Aber ganz offensichtlich ist es eben nicht eine so starke Entwicklung gewesen, dass das schon gelungen wäre. Auf jeden Fall dauert es zeitlich sehr, sehr viel länger, als wir es uns gedacht haben. Wir waren jetzt immerhin fast 20 Jahre in Afghanistan. In dieser Zeit ist es nicht gelungen. Insofern muss man sagen, dass das keine erfolgreichen Bemühungen waren und dass man daraus Lehren ziehen muss, ja, und seine Ziele bei solchen Einsätzen auch kleiner fassen muss, glaube ich.
Frage: Frau Bundeskanzlerin, gilt der Satz noch, dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, oder war das vom damaligen Verteidigungsminister Struck der Versuch, die Unterstützung in der Bevölkerung zu verbessern, was die nachfolgenden Regierungen dann mit übernommen haben?
Merkel: Wenn man vom damaligen Zeitpunkt ausgeht ‑ ‑ ‑ Ich will noch einmal erinnern, als dieser Einsatz Ende des Jahres 2001 beschlossen wurde, da ging es um die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika und damit auch um unsere Sicherheit.
Inzwischen ist die Frage etwas relativiert, weil Al-Qaida und der IS im Augenblick nicht so einen Stützpunkt haben. Ich sage jetzt aber auch wieder „im Augenblick“. Ich bin sehr vorsichtig mit weiteren Prognosen. Wäre das der Fall, dann hätten wir wieder eine terroristische Bedrohung. Insofern war dieser Satz richtig. Er ist im Augenblick vielleicht etwas relativiert. Aber er war aus der damaligen Perspektive von Herrn Struck ‑ ich habe ihn ja auch übernommen; ich will mich da gar nicht in irgendeiner Weise relativieren ‑ richtig.
Wenn man einmal überlegt, wie auch jetzt Enttäuschungen und Entwicklungen vieler Menschen, die jetzt vielleicht ihre Heimat verlassen müssen, damit zusammenhängen, dann hat das auch im entfernten Sinne immer etwas mit Sicherheit zu tun ‑ aber im Augenblick sicher nicht so elementar, wie wir das im Jahre 2001 und Anfang der 2000er Jahre hatten. Aber es ist kein Satz gewesen ‑ dem würde ich entschieden widersprechen ‑, der zur politischen Opportunitätsbildung dienen sollte.
Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihrer Sommerpressekonferenz am 22. Juli mit Bezug auf die Ortskräfte gesagt: „Ich möchte, dass wir denen, die uns sehr stark geholfen haben, auch wirklich einen Ausweg bieten.“ Etwas später haben Sie hinzugefügt: „Es gibt jetzt in einer bestimmten Gruppe Menschen, die noch nach Deutschland kommen müssen. Für die müssen wir jetzt auch vernünftig vorsorgen.“ Müssen Sie heute Abend nicht zugeben, dass Sie mit diesem Wunsch und diesem Vorhaben gescheitert sind? Denn von vernünftiger Vorsorge kann ja offensichtlich keine Rede mehr sein.
Merkel: Aus der damaligen Perspektive dieser Sommerpressekonferenz ging es ja ausdrücklich nicht um all die Menschen, die uns im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit geholfen haben. Wir haben alle ‑ da übernehme ich auch die Verantwortung ‑ die Entwicklung falsch eingeschätzt. Ich schließe mich da dem Bundesaußenminister an. Die gesamte internationale Staatengemeinschaft ist davon ausgegangen, dass wir die Entwicklungszusammenarbeit fortsetzen können. Der Bundesentwicklungsminister hat übrigens heute gesagt, dass viele der Kräfte das auch wollen. Das ist ja auch eine Hilfe für Afghanen, wenn Entwicklungszusammenarbeit selbst unter den Taliban versucht wird fortzusetzen.
Das ist das Gros der Menschen, denen wir noch nicht helfen konnten. Von den 2500 Ortskräften, die wir damals in Rede hatten, sind, wie gesagt, 1900 in Deutschland eingetroffen. Das ist nicht viel gemessen an den vielen Menschen, die sich auch engagiert haben. Wir haben inzwischen lange Listen von Menschen, die für die Freiheit eingetreten sind, die aber nicht im engeren Sinne Ortskräfte waren, die für die Bundeswehr gearbeitet haben.
Also die Lageeinschätzung zur Pressekonferenz im Sommer ‑ das will ich ausdrücklich sagen ‑ ging davon aus, dass wir länger Zeit haben, hier Lösungen zu finden. Die Dinge haben sich beschleunigt. Die afghanische Armee hat keinen oder wenig Widerstand geleistet, aus welchen Gründen auch immer. Da haben wir eine falsche Einschätzung gehabt. Das ist nicht eine falsche deutsche Einschätzung, sondern sie ist weit verbreitet.
Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erwähnt, Sie haben lange Listen. Wem ist es Deutschland im Augenblick denn noch wichtig, bei der Flucht aus Afghanistan zu helfen? Es gibt viele NGO-Mitarbeiter. Es gibt Frauenrechtlerinnen, und es gibt auch Journalisten, die international gearbeitet und auch in der Landessprache publiziert haben. Was sagen Sie den Menschen, die auf keinen Listen stehen und nun darauf hoffen, dass Deutschland ‑ ähnlich wie 2015 ‑ für Flüchtlinge offen sein wird?
Merkel: Ich sage Ihnen erst einmal: Unser Hauptziel ist, gerade denen, die uns sehr direkt geholfen haben, eine Perspektive zu bieten. Ob wir sie umsetzen können, das hängt jetzt von den Gegebenheiten in Kabul ab. Das haben wir leider nicht mehr voll in der Hand. Aber wir werden auch danach in Gesprächen mit den Taliban und über alle unsere Kanäle versuchen, möglichst vielen Menschen zu helfen.
Wenn es jetzt um die vielen geht, die nicht direkt mit deutschen Institutionen zusammengearbeitet haben und für Deutschland tätig waren, die aber trotzdem große Angst und Sorge haben ‑ und davon gibt es ja leider sehr viele Menschen ‑, dann müssen wir schauen, dass sie eine sichere Bleibe in der Umgebung von Afghanistan haben. Wir dürfen hier nicht den Fehler wiederholen, den wir früher gemacht haben, zu dem wir auch Stellung genommen haben, dass wir eben nicht ausreichend Geld an UNHCR, an das Welthungerhilfeprogramm, gegeben haben, und sich Menschen aus Jordanien, Libanon und Syrien dann direkt auf den Weg nach Europa gemacht haben. Es geht jetzt darum, dass wir heute schneller sind und schnell den Nachbarstaaten Hilfe anbieten.
Danke schön. Ich werde Sie weiter auf dem Laufenden halten.
Das Audio dazu:
(Kommentare dazu bitte in den anderen Threads zum Thema Afghanistan, damit es nicht zerfasert)
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