Ortskräfte raus aus Afghanistan!

Kurze Urlaubsunterbrechung aus wichtigem Grund: Die Bundeswehr ist Ende Juni aus Afghanistan abgezogen, Personal und Gerät sind raus – aber es sind Menschen geblieben, die für die deutschen Streitkräfte gearbeitet haben. Viele von ihnen müssen – und wollen – raus aus dem Land, weil sie als Verräter von den vorrückenden Taliban bedroht werden. Das ist, neben vielen bürokratischen Hürden, auch ein finanzielles Problem.

Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hat sich zwar erfolgreich für Erleichterungen bei der Erteilung von Visa für diese Ortskräfte und ihre Familien eingesetzt;  ein anderes Problem brachte er allerdings in sehr deutscher Manier auf die Formel: Die Familien haben die Möglichkeit, ihre Einreisen individuell und eigenständig innerhalb einer bestimmten Frist zu gestalten. Klingt gut, heißt aber im Klartext: Sie müssen es selbst organisieren und finanzieren.

Allerdings: Die meisten können das nicht – und dabei geht es nicht allein um die Kosten des Flugs von Kabul nach Deutschland. Sondern, das ist die aktuelle Schwierigkeit nach dem Abzug der Bundeswehr aus Mazar-e Sharif im Norden des Landes: Allein schon um das Visum zu beantragen, müssen die früheren Bundeswehr-Mitarbeiter und ihre Familien den Weg nach Kabul finden und dort darauf warten, dass sie das Visum für Deutschland bekommen.

Das ist im Moment auch die dringendste Herausforderung für das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, das sich (nicht erst jetzt) um diese Menschen kümmert. Für viele der Ortskräfte, die keine Verwandtschaft in der afghanischen Hauptstadt haben, stellt der Verein safe houses, sichere Unterkünfte zur Verfügung – bis der Prozess der Aufnahmezusage abgeschlossen, Visum und afghanischer Pass vorhanden sind. Erst dann können sie ja in ein Flugzeug nach Deutschland steigen.

Dafür sammelt Initiator Marcus Grotian, einst selbst als Panzergrenadier in Afghanistan im Einsatz, Spenden: Für die sichere Unterbringung, für den Flug, für die spätere Betreuung auch in Deutschland. Die Spendenseite ist auf betterplace.org zu finden, und dass es – scheinbar – so viele verschiedene Spenden-Zwecke gibt, hat einen einfachen Grund: Bei betterplace geht jedes Projekt nur bis knapp 10.000 Euro – der Verein wird aber viel mehr brauchen. Safe houses in Kabul und Flugtickets, vielleicht sogar eine gecharterte Maschine gleich für mehrere hundert Menschen, das geht ins Geld.

Am liebsten allerdings, verriet Grotian im Gespräch mit Augen geradeaus!, ist ihm die Spende für die Allgemeine Unterstützung der Ortskräfte: Dann kann der Verein je nach Situation entscheiden, für welchen Zweck das Geld aktuell dringender gebraucht wird.

Aus meiner Sicht, ganz unjournalistisch und unneutral: Es gibt eine verdammte Pflicht, den Menschen zu helfen, die mit ihrer Arbeit für die Bundeswehr, aber auch für andere Einrichtungen wie die Entwicklungshilfe am Ende ihren Kopf riskiert haben. Wenn jemand noch was vom Urlaubsgeld über hat, bitte überlegen, ob eine Spende möglich ist.

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Fürs Archiv die Aussagen zu dem Thema in der Bundespressekonferenz am 8. Juli; mit Kapitän z.S. David Helmbold fürs Verteidigungsministerium und Regierungssprecher Steffen Seibert:

FRAGE: Die Verteidigungsministerin hat Hilfen für die Ortskräfte dort angeboten. Können Sie kurz erklären, inwieweit das jetzt für die, die der Bundeswehr dort geholfen haben, konkret umgesetzt wird?

HELMBOLD: In der Regierungspressekonferenz am Montag habe ich das sehr, sehr deutlich ausgeführt. Ich würde Sie bitten, da noch einmal nachzuschauen.
Wichtig ist uns: Wir sind uns unserer Verantwortung gegenüber den Ortskräften sehr bewusst. Die Ortskräfte haben an unserer Seite gestanden, als wir im Afghanistaneinsatz waren. Uns ging es darum, mit der Bundeswehr, bevor wir Afghanistan verlassen haben, zu unterstützen, wo es möglich war. Das galt insbesondere auch für die Unterstützung im Zusammenhang mit Visaformularen und Anträgen in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass es sehr, sehr viele „hand carries“ gegeben hat, mit allen Flügen, die wir im Zuge des Abzugs geleistet haben. Visaformulare wurden hin und her geflogen, zum Teil durch den Generalinspekteur selbst. In diesem Zusammenhang konnte auch der ganz überwiegende Anteil derjenigen, die zu dem Zeitpunkt antragsberechtigt waren, ihre Ausreiseformulare bekommen.
In der Zwischenzeit kommen auch Ortskräfte an. Ich habe gelesen, dass heute Nacht ein Flugzeug angekommen ist und dass da zusätzliche Ortskräfte mit Familien zurückgekommen sind. In diesem Zuge sind jetzt schon einige Hundert zurückgekommen. Sie werden auch weiterhin die Möglichkeit haben.
Wir vonseiten des Verteidigungsministeriums unterstützen weiterhin, wo wir können, auch wenn wir nicht mehr vor Ort sind.

FRAGE: Mittlerweile hat sich ein sogenanntes Patenschaftsnetzwerk von Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten, die in Afghanistan waren, gegründet. Herr Seibert, wie bewertet die Kanzlerin so ein Patenschaftsnetzwerk, das sich unter anderem deshalb gebildet hat, weil das BMI die Umzugskostenhilfe für die afghanischen Ortskräfte ablehnt und die Menschen dort selbst sehen müssen, wie sie sich die Reise nach Deutschland leisten?
Das Patenschaftsnetzwerk spricht von einem moralischen Versagen der Bundesregierung diesbezüglich, damit auch von einem moralischen Versagen der Kanzlerin. Zieht sie sich diesen Schuh an?
Herr Helmbold, wie bewertet die Verteidigungsministerin dieses Patenschaftsnetzwerk?

SEIBERT: Der Kollege aus dem Verteidigungsministerium hat es ja gerade gesagt, und das gilt für die ganze Bundesregierung: Wir werden denen helfen und helfen ihnen schon, die uns geholfen haben. Wir hatten in allen Facetten unseres Einsatzes in Afghanistan die Hilfe engagierter und kompetenter Afghanen und Afghaninnen, die uns zur Seite gestanden haben und ohne die wir unsere Aufgaben dort sicherlich nicht so hätten erfüllen können. Wir kennen die Verantwortung, die wir für diese Menschen haben.
Was Einzelheiten der Hilfe betrifft, so wird man nicht alles öffentlich machen können. Aber sicherlich ist sehr vieles im Gange.
Ich weiß nicht, was dieses Netzwerk geschrieben hat, aber ich habe auch davon gehört. Es zeigt doch eigentlich vor allem auch die enge Kameradschaft, die dort entstanden ist. Insofern nehme ich das zur Kenntnis. Aber das heißt nicht, dass sich die Bundesregierung, dass sich der deutsche Staat seiner Verantwortung nicht bewusst wäre und nicht auch nach dieser Verantwortung handelte. Die Tatsache, dass, wie wir gerade gehört haben, jetzt wieder Ortskräfte hier in Deutschland angekommen sind, zeigt ja, dass Schritt für Schritt diese Hilfe geleistet wird, und zwar sehr praktisch.

HEMLBOLD: Ich kann das nur unterstützen. Herr Seibert, Sie haben es gesagt. Die Patenschaftsnetzwerke kümmern sich in kameradschaftlicher Sicht um Ortskräfte. Aus unserer Sicht ist es sehr begrüßenswert, dass es Menschen gibt, die sich engagieren.

ZUSATZFRAGE: Die Frage war, wie Sie das Patenschaftsnetzwerk an sich bewerten, Herr Helmbold.
Herr Seibert, Sie meinten gerade, hier kämen auch Leute an. Natürlich. Das sind aber die wenigsten derjenigen, die hier ankommen könnten. Die meisten können es sich nicht leisten, mit ihrer Kernfamilie nach Deutschland zu fliegen, selbst diejenigen nicht, die ein Visum bekommen haben.
Hört die Verantwortung für die Bundesregierung also da auf, wo zum Beispiel Geld für Reisekosten fließen muss, weil Sie ja meinten: „Wir helfen denjenigen, die uns geholfen haben“?

SEIBERT: Zu diesem Satz steht die Bundesregierung. Dass wir jetzt, wenn ich es richtig im Kopf habe, zweieinhalbtausend Visa erteilt haben, ist ja etwas. Wir haben auch gehört ‑ das sollten Sie auch ernst nehmen ‑, dass viele dieser Menschen, die jetzt ein Visum bekommen haben, derzeit noch nicht ausreisen wollen. Das ist deren Entscheidung. Da, wo es einen konkreten und dringenden Ausreisewunsch gibt, wird sich die Bundesregierung bemühen, den auch zu ermöglichen.

ZUSATZFRAGE: Auch mit Geld?

STS SEIBERT: Die Einzelheiten unserer Hilfe können Ihnen die Ressorts besser nennen. Aber wir bemühen uns, unserer Verantwortung dann auch nachzukommen und den Menschen, die akut gefährdet sind und deswegen ausreisen möchten, diese Ausreise auch zu ermöglichen.

(Archivbild August 2009: Ein Soldat sucht mit Hilfe eines einheimischen Sprachmittlers das GesprŠäch mit Kindern aus einem nicht genannten Ort in den Bergen Afghanistans – Dana Kazda/Bundeswehr)