Dokumentation: Taliban rufen Ortskräfte internationaler Truppen zum Bleiben auf (m. Nachtrag)
Die Taliban haben die Afghanen, die als Dolmetscher oder andere Unterstützer der internationalen Truppen in Afghanistan tätig waren, zum Bleiben im Land aufgerufen. Sie hätten von den Taliban nichts zu befürchten – Voraussetzung sei allerdings, dass sie ihre Taten bereuten und sich künftig nicht mehr an diesem Verrat an Islam und Land beteiligen würden.
Zur Dokumentation das am (heutigen) Montag vom Islamischen Emirat Afghanistans veröffentlichte Statement:
As a large number of Afghans were misled during the previous twenty-year occupation period and worked alongside foreign forces as interpreters, guards and under other titles, and now as foreign forces are withdrawing from Afghanistan, these Afghans also seek to flee the country and are fearful.
The Islamic Emirate would like to inform all the above people that they should show remorse for their past actions and must not engage in such activities in the future that amount to treason against Islam and the country.
But none should currently desert the country. The Islamic Emirate will not perturb them, but calls them to return to their normal lives and if they do have expertise in any field, to serve their country. They shall not be in any danger on our part.
We viewed them as our foes when they were directly standing in the ranks of our enemies, but when they abandon enemy ranks and opt to live as ordinary Afghans in their homeland, they will not face any issues hence they should not remain fearful and should continue living a serene life in their own country. However, if they are using “danger” as an excuse to bolster their fake asylum case, then that is their own problem and not that of the Mujahideen of Islamic Emirate.
Auffällig ist: Die Aufforderung, die vergangenen Taten zu bereuen, steht noch vor der Zusicherung, dass diese Ortskräfte nichts zu befürchten hätten. Insofern ist natürlich die Frage, ob Afghanen nach ihrer Tätigkeit für die USA und andere internationale Truppen, z.B. die Bundeswehr, diese Erklärung glauben.
Nachtrag 8. Juni: Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben bereits 90 Prozent der berechtigten Ortskräfte einen Antrag auf Aufnahme in Deutschland gestellt.
Keimt unter den Taliban so langsam die Erkenntnis, das es entgegen derer Interessen ist, im Westen einen noch nachhaltiger schlechten Eindruck zu hinterlassen?
Die Erklärung eröffnet den ehem. Ortskräften evtl. die Möglichkeit, eines Tages nach Afghanistan zurückzukehren. Aber direkt da bleiben, während die Turbulenzen und Machtgerangel nach Abzug der Truppen ausbrechen?
Zudem, was beinhaltet Reue an Handlungen um diese Reue als glaubhaft erscheinen zu lassen? Informationen, Übersetzungsdienstleistungen, taktische Infos für den globalen Djihad?
Zudem gibt es noch DAESH (IS).
@AoR sagt: 07.06.2021 um 10:59 Uhr
Ich denke, den Taliban ist es völlig egal, welchen „Eindruck“ sie im Westen hinterlassen. Hier geht es anscheinend um den drohenden Verlust von Bildungsbürgertum, neudeutsch „brain drain“.
„Zudem, was beinhaltet Reue an Handlungen um diese Reue als glaubhaft erscheinen zu lassen?“
Die Frage habe ich mir auch gestellt, bin aber zu keinem klaren Ergebnis gekommen. Zumindest scheidet nach der Wortwahl Enthauptung als Reuemaßnahme aus.
AoR: „Die Erklärung eröffnet den ehem. Ortskräften evtl. die Möglichkeit, eines Tages nach Afghanistan zurückzukehren.“
Von Rückkehrern steht da nix. Wer jetzt „Fake“-Asyl sucht der bereut ja nicht und bekommt später bei Rückkehr erst recht Probleme.
Das generelle Problem bleibt aber: Wenn die islamischen Kräfte die Oberhand gewinnen und den Religionsstaat ausbauen ist doch wie verloren. Ich denke die Unterdrückung käme dann so oder so.
Nach jedem gewaltsam vollzogenen Regierungswechsel braucht die neue Regierung zunächst Expertise, die aus dem alten Apparat stammt. Die Taliban hatten vor ihrer Ablösung 2001 das Problem, kaum über solche Expertise zu verfügen, und scheinen daraus gelernt zu haben. Sie werden gewiss auch Verwendung für die von westlichen Ausbildern geschulten militärischen Fachleute haben. Viele von denen dürften flexibel genug sein, auch für eine andere afghanische Regierung tätig zu werden. Auch das großzügig bereitgestellte Wehrmaterial wird man gut gebrauchen können.
Der Text soll eventuell suggerieren, dass Afghanistan ein „sicheres Herkunftsland“ sein soll. Das bietet Parteien (z. B. AfD) Futter für die Bundestagswahl, die ehem. Ortskräfte nicht annehmen zu müssen.
Was anschließend mit den ehem. Ortskräften passiert, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Hört sich seltsam an. Für Afghanen sind Familie und Stamm wichtig, Aber nicht das Land als solches. Daher ist es ja eher für uns unverständlich, wenn da munter die Seiten gewechselt werden. Vielleicht zielt es ja darauf ab.
Ich bin mit Pio-Fritz der Meinung, dass den Taliban nichts gleichgültiger ist als deren Bild im ungläubigen Westen.
Ich sehe den Aufruf allerdings als Versuch, Ortskräfte zum Bleiben zu verleiten, um an möglichst vielen von ihnen Rache üben zu können. Zweifellos werden westliche Politiker den Taliban dabei indirekt Schützenhilfe leisten, indem sie die Karte „nunmehr sicheres Herkunftsland“ ziehen.
Nach all den Jahren unglaublich brutaler Akte (z.B. menschliche Schutzschilde) gegen die eigene Bevölkerung halte ich es für völlig unrealistisch zu erwarten, dass nun ausgerechnet den muslimischen Unterstützern der Okkupation durch die Ungläubigen so etwas wie Freies Geleit zugebilligt wird.
@451 sagt: 07.06.2021 um 15:05 Uhr
Ja, nee, is klar. Die Taliban haben den Text nur für den Bundestagswahlkampf verfasst, damit in DEU keine afghanischen Ortskräfte aufgenommen werden. LOL.
Leute, ich schmeiß ´ne Runde Alufolie, vielleicht gibt es ein Online-Seminar fürs Hüte falten….
Innige Reue wird wohl auf die Formel hinauslaufen….
-gib uns all deinen weltlichen Besitz, den du durch Verrätertum erlangt hast.
-Schwöre dem Emirat ewige Treue.
-bekämpfe die Feinde des Emirates.
Und dann werden wir deine Exestenz und die deiner Familie evtl. dulden.
Hilft eigentlich nur nach dem Abzug, dass Führungspersonal der Taliban durch die Zieloptik einer Predator Drohne zu betrachten.
Ich hatte das Vergnügen mit vielen Dolmetscher zusammen arbeiten zu dürfen. Zum Teil waren das wirklich hoch qualifizierte Leute, deren englische Sprachkenntnisse eigentlich ein Nebenprodukt ihrer Universitären Ausbildung war. Man könnte vermuten, das erste Teile der Taliban, ob des absehbaren Abzuges, von Kampf auf Nation Building umschalten. Von einem sicheren Umfeld wird aber meiner Einschätzung nach nicht die Rede sein können. Ganz im Gegenteil: Machtansprüche und Ressourcen/Einnahmquellen sichern führt gerade in Afghanistan i.d.R. zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Weiterhin heißt eine Verlautbarung auf strategischer Ebene noch lange nicht, das die örtliche Zelle in Kunduz das genau so sieht. Meiner Meinung nach muss man es diesen Ortskräften überlassen, ob sie ihr Leben einer solchen Verlautbarung anvertrauen, oder Asyl beantragen. Weiterhin haben wir auch eine Verantwortung für „unsere“ Ortskräfte, wenn sie sich für letzteres Entscheiden. Wenn man gesehen hat, wie ein Dolmetscher für einen verwundeten, deutschen Soldaten die Infusion hoch gehalten hat, mag man aber auch Befangen sein.
@Gandamack hat Recht, denke ich. Die Taliban von 2021 sind nicht die Taliban von 2001. Die Führungsriege ist eine andere – jünger, gebildeter, ambitionierter. Außerdem: Unsere Ortskräfte sind diejenigen „Kollaborateure“ und „Profiteure“, die wir am meisten auf dem Schirm haben, aber bei Weitem nicht die einzigen.
Die Taliban haben nichts davon, mit Drohgebärden alle Leidtragenden ihrer Ambitionen – d.h. insb. die nicht-paschtunischen Volksgruppen – zum Widerstand zu animieren. Auch vor 2001 hatten die Taliban nie das ganze Land kontrolliert. Warum sollten sie sich als Geburtshelfer einer zweiten „Nordallianz“ betätigen wollen?
Freilich muss man einschränkend sagen, dass die Taliban sich der Koransuren bewusst sein dürften, die bestimmen, dass der Gläubige das einem Ungläubigen oder Apostaten gegebene Wort brechen darf. Was aber auch bedeutet: Sie verlieren nichts durch eine solche Erklärung, die sie jederzeit brechen könnten.
@451
Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Die Taliban – die durchaus die deutschen Medien im Blick haben – werden mit Sicherheit keiner als anti-islamisch angesehenen Partei in die Hände spielen wollen. Überhaupt ist jedes in NATO-Staaten innenpolitisch wirksame Signal ihrerseits risikobehaftet: Es könnte eine Reaktion auslösen.
Vielleicht liegt aber hier der Schlüssel zum Verständnis der Erklärung. Sie könnte dazu dienen, Deutschland auch zu einem „geistigen“ Abzug aus Afghanistan zu bewegen, nach dem Motto: Geht nur und seid beruhigt, ihr könnt eure Hände in Unschuld waschen. Hier gibt es nichts zu sehen.
Nebenbei: Die Formulierung „Verrat am Land“ ist bemerkenswert. Sie scheint der gängigen (und auch nicht falschen) Beobachtung zuwiderzulaufen, dass den Volksgruppen innerhalb Afghanistans ein einigendes Nationalgefühl fehlt.
@Pio-Fritz: Ich denke auch, dass diese Erklärung als solche weniger als „Fatwa“ also eine Art Regelung zu verstehen ist. Was mich zu @Klaus Trophobie bringt, denn mit „eines Tages“ war angedeutet, dass die Taleban da erstmal liefern müssen. Die Taleban wollen sicherlich einen „Brain Drain“ verhindern.
Schon mal dran gedacht, dass die Taleban hier Verhandlungen aufnehmen wollen? Wie @muck richtig herausarbeitet, die Erklärung kann alles bedeuten.
Zudem sollte man bedenken, aus welchem Stamm hat den kein Sohn irgendwann als Ortskraft gearbeitet? Hinter den Kulissen (von Parlament und Regierung) haben die Stammesfürsten einigen Einfluss. Mit denen verscherzt man es sich besser nicht, sonst passiert am Ende das was wir 20 Jahre nicht geschafft haben: Die Taleban fliegen aus Afghanistan raus.
@451: Sie werden grinsen, ein assad-syrischer General hausiert bei der europäischen Rechten und verkauft Syrien als sicheres Herkunftsland und betont, denen die „illegal“ Syrien verlassen hätten drohten keine Repressalien. Assads Apparat versteht sich auf AgitProp und Zersetzung.
@all
Siehe Nachtrag oben.
@TW: Ist bekannt, wieviele der Anträge nicht nur bearbeitet, sondern auch bewilligt wurden?
[Die Zahl hätte ich auch gerne und habe sie bislang nicht… T.W.]
Die Meinung der breiten Weltöffentlichkeit interessiert die Taliban möglicherweise schon; die deutsche Innenpolitik vor der Bundestagswahl vermutlich eher weniger.
Meine Auffassung zu der Erklärung der Taliban ist etwas zynisch, aber ich glaube, die wissen genau, dass sie wenigstens ein paar qualifizierte Menschen benötigen, wenn das Land ohne den wirtschaftlichen Faktor der dort stationierten ausländischen Streitkräfte nicht komplett absacken soll. Die Gehälter der Dolmetscher und Ortskräfte fallen jetzt ja erstmal ersatzlos weg. Und selbst wenn das nach westlichem Ermessen Hungerlöhne gewesen sein dürften, die wurden schließlich nicht mit Glasmurmeln und Nippes bezahlt.
Und wie gesagt, aus denen die bleiben, kann man dann ja immer noch die raussuchen, die gut kooperieren und den Taliban in den Kram passen. Die anderen erschießt man dann, weil sie angeblich nicht „reuig“ genug gewesen sind – und um Exempel zu statuieren. Perfide, aber wäre ich Ortskraft ausländischer Streitkräfte gewesen, ich würde keinen Pfifferling auf diese Garantie geben.
Trennung:
Auch wenn sicherlich einige Leute politisch Münze draus schlagen wollen werden, à la „sicheres Herkunftsland“ oder ähnliches. Da zeigt sich dann, welche Werte und Tugenden diesen Figuren wirklich wichtig sind. Treue, Kameradschaft und Pflichtgefühl sind da wohl nicht dabei.
Wir reden immerhin über Menschen, die unseren Soldaten dort in zwei Jahrzehnten selbst treu und durchaus unter Lebensgefahr für sich und ihre Angehörigen gedient haben. Die und ihre Familien jetzt im Stich zu lassen, wirkt nicht nur schäbig, sondern ich halte es nur für recht und billig, diesen Leuten eine Perspektive in Deutschland zu bieten, ganz unabhängig von der deutschen Innenpolitik.
Allein schon, dass es so lange gedauert hat, bis das Thema – eigentlich ein No-Brainer – offenbar bei den Entscheidern ankam, finde ich ein Stück weit beschämend.
Sorry für die Nachfrage:
Wer sind denn B_e_r_e_c_h_t_i_g_t_e?
Anscheinend wurde einer relevanten Anzahl an Ortskräften kurzfristig erlaubt nach Deutschland einzureisen:
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/afghanistan-taliban-ortskraefte-deutschland-bundeswehr