65 Jahre, äh, Streitkräfte

Der (heutige) 12. November gilt als Geburtstag der Bundeswehr: Vor 65 Jahren, am 12. November 1955, überreichte der damalige Bundesminister für Verteidigung, Theodor Blank, die Ernennungsurkunden an die ersten Freiwilligen der neuen Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland. Das wird heute entsprechend begangen – allerdings: 1955 gab’s den Namen Bundeswehr offiziell noch gar nicht.

Zunächst mal zur Würdigung des Jahrestages: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat in einem Tagesbefehl nicht nur darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik damals Streitkräfte in bewusster Abgrenzung von der Wehrmacht und anderen Vorgängerarmeen aufgestellt hat. Sie hat auch in der Debatte über den Soldat als Krieger und Kämpfer, die jetzt bisweilen wieder aufflammt, sehr eindeutig Stellung bezogen:

Denn das Bild des Soldaten oder der Soldatin der Bundeswehr verharrt nicht beim Krieger und Kämpfer früherer Jahrhunderte. Treue, Tapferkeit, Gehorsam und Pflichterfüllung bleiben nur dann zeitlose soldatische Tugenden, wenn ihr Zweck in der Verteidigung von Freiheit und Demokratie liegt und wenn über ihren Einsatz im offenen, demokratischen Diskurs entschieden wird.
Diese gewandelte, demokratische Idee des Soldatentums hat sich in der Geschichte Deutschlands und der Bundeswehr bewährt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird diesen Jahrestag auch würdigen, im Rahmen eines öffentlichen (bzw. in diesen Pandemiezeiten zwar live übertragenen, aber eben begrenzten) feierlichen Gelöbnisses in seinem Amtssitz Schloss Belllevue in Berlin.

Allerdings: Als Blank (die Amtsbezeichnung wurde erst 1961 von Bundesminister für Verteidigung in Bundesminister der Verteidigung geändert) in der Bonner Ermekeil-Kaserne die ersten Erennungsurkunden überreichte, war eben von der Bundeswehr noch nicht die Rede. Sondern nur recht formlos von Streitkräften.

Blank bei der Übergabe der Urkunden an die Generale Adolf Heusinger, l., und Hans Speidel

Bevor am 1. April 1956, also erst im folgenden Jahr, die Bezeichnung Bundeswehr für die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland eingeführt wurde, hatte es eine teils emotionale Debatte über den Namen geben, und auch die erneute Verwendung des Namens Wehrmacht stand zur Debatte. Exemplarisch dafür steht die Diskussion im Bundestagsausschuss für Verteidigung am 12. Juli 1955 – ein Ausschnitt aus dem Protokoll*:

(Die Sitzung hatte bei Einsatz der stenografischen Aufnahme bereits begonnen2.)
Abg. Mende (FDP): … »Bundeswehr«, meine Damen und Herren, wäre kein glücklicher Ausdruck, selbst wenn wir ihn in Analogie zur Reichswehr wählten. Von der Feuerwehr will ich nicht sprechen, die ich ebenso hoch schätze wie die »Westfälische Rundschau«, die mich deswegen attackiert hat. Ich will der Feuerwehr wahrhaftig nicht zu nahetreten. Aber in der Bevölkerung draußen wird nicht von »Bundeswehr« gesprochen, auch nicht von »Streitkräften«, abgesehen davon, dass man diesen Ausdruck dann auch noch übersetzen müsste. In der Bevölkerung wird von »Wehrmacht« gesprochen, von »Heer«, »Marine« und »Luftwaffe«. Deshalb warne ich davor, eine andere Bezeichnung zu wählen. Ich erinnere daran, dass der Bundespräsident dem deutschen Volk auch eine neue Hymne schenken wollte. Sie wissen, was daraus geworden ist. Es gibt eine Eigengesetzlichkeit auch der vox populi. Ich bin daher der Ansicht, dass wir für die Streitkräfte die alte Bezeichnung »Wehrmacht« wählen sollten.
Abg. Schmid (SPD): Herr Vorsitzender, ich glaube, wir sollten heute noch keinen Beschluss über den Namen fassen, wir sollten uns heute auf eine deskriptive Bezeichnung beschränken. Der Ausdruck »Streitkräfte« bezeichnet genau das, was sachlich gemeint ist. Ich bin allerdings auch nicht der Meinung, dass es endgültig bei dem Wort »Streitkräfte« als Name bleiben soll. Man muss sich das überlegen. Nomina sunt odiosa, es steckt etwas darin. Ich glaube nicht, dass die Sache schon so weit durchdacht und überlegt ist, dass wir heute einen Beschluss über den Namen der Streitkräfte fassen können. Gewiss hat das Wort »Bundeswehr« einiges für sich. Das Wort »Wehrmacht« hat auch einiges für sich. Ich teile die Auffassung des Kollegen Mende, dass man in der Welt und in Deutschland selbst nur von »Wehrmacht« spricht. Das Wort selber schreckt mich nicht; es ist ja nicht Macht im Sinne von Machtpolitik gemeint. Wenn die Franzosen »forces d’armée« sagen, dann meinen sie auch nicht Macht im Sinne von böser Machtpolitik, sondern das ist nun einmal der Ausdruck für die bewaffneten Streitkräfte. Vielleicht findet man ein anderes Wort, ich weiß es nicht. Aber wir sollten einen Namen heute noch nicht beschließen, sondern sollten bei diesem Arbeitstitel bleiben. Ich finde das ganz glücklich. Das Wort »Streitkräfte« mit »sich-streiten-wollen« in Zusammenhang zu bringen, scheint mir nicht richtig zu sein; ich glaube nicht, dass wir das zu fürchten brauchen. Aber ich bitte ausdrücklich darum, dass wir heute noch keinen Beschluss über den entgültigen Namen der deutschen Streitkräfte fassen.
(…)
Abg. von Manteuffel (FDP): Wir haben es bisher in den Ausschusssitzungen eigentlich auch so besprochen, Herr Dr. Jaeger, dass wir erst später, bei der Beratung des Soldatengesetzes, darüber befinden wollten. Aber trotz der Warnung von Herrn Kollegen Mende möchte ich doch Folgendes sagen. Die Herren, die in Amerika waren, werden sich entsinnen, dass wir an zwei Tagen eine lange Diskussion im Council for foreign Relations hatten. Wir haben uns dabei dann mit McCloy, mit Mr. Warburg, mit Mr. Stone und mit fünf Journalisten unterhalten. Am Tage vorher hatte ein Interview von Herrn Kollegen Mende auch in den amerikanischen Zeitungen gestanden, in dem Herr Kollege Mende sich auch für die Bezeichnung »Wehrmacht« ausgesprochen hatte. Das ist eine Bezeichnung, die in Amerika und in Deutschland etwas bedeutet. In dieser Unterhaltung am Abend haben nun McCloy, Mr. Warburg und Mr. Stone – immerhin Präsident der Ford-Stiftung – gesagt, wie verheerend die Bezeichnung »Wehrmacht« für unsere neuen Streitkräfte in Amerika wirken würde.
Abg. Schmid (SPD): Stone ist nur der Geschäftsführer einer Abteilung,
nicht der Präsident der Ford-Stiftung!
– Das ist jetzt nicht das Maßgebende. Ich kam auf den Ausdruck »Bundeswehr«, weil ich einfach nichts Besseres wusste. Ich wollte damit auch zum Ausdruck brin- gen, dass es sich bei den jetzt aufzustellenden Streitkräften um etwas Vorläufiges handelt und dass die Bezeichnung »Wehrmacht« eigentlich den späteren gesamt- deutschen Streitkräften vorbehalten bleiben sollte. Das Wort »Bundeswehr« scheint mir der Vorläufigkeit der Bundesrepublik mehr zu entsprechen.
Abg. Schmid (SPD): Mir würde eine Bezeichnung wie »Landwehr« mehr liegen, Landwehr im alten preußischen Sinne nach 1813. Verzeihen Sie, Herr Vorsitzender, wenn ich ein preußisches Vorbild wähle.
►Heiterkeit.
In Bayern hat man es ja mehr mit Stadtsoldaten versucht.
►Erneute Heiterkeit und Zurufe.
Ich meine, »Landwehr« ist kein schlechtes Wort. Aber man kann das alles noch überlegen. Das Wort »Bundeswehr«, – ich möchte sagen, wir haben nichts gegen das Wort »Bund«,–
Abg. von Manteuffel (FDP): Ich war vorhin noch nicht zu Ende gekommen. Darf ich eben noch den einen Satz anfügen? – Ich würde es außerordentlich bedauern, wenn wir uns im Ausschuss dazu hergeben würden, den Versuch mitzumachen, der eine Zeitlang gemacht worden ist, bei dem Wort »Bundeswehr« einen Vergleich mit dem Wort »Feuerwehr« zu ziehen, der sich doch, wie ich wirklich sagen muss, Hunderttausende von Leuten freiwillig zur Verfügung stellen. Dieses In-Vergleich-Stellen der Feuerwehr mit dem Wort »Bundeswehr« würde eine Herabsetzung bedeuten. Ich glaube, wir sollten das im Ausschuss nicht mitmachen. Das wäre meine Bitte.
(…)
Abg. Schmid (SPD): Für meine Person möchte ich sagen, dass, wenn etwa nur diese beiden Überschriften hier zur Debatte gestellt würden, ich mich, so wie ich die Dinge bis jetzt sehe, für »Bundeswehr« entschließen würde und niemals für »Wehrmacht« aus all den Gründen, die zumindest außenpolitisch und psychologisch damit verbunden sind, was Herr Kollege Manteuffel ja auch schon angedeutet hat. Auf der anderen Seite scheint mir der Vorschlag, der von den verschiedensten Seiten kommt, die Entscheidung heute zu vertagen, richtig zu sein. Letzten Endes wird diese Frage bei der Ergänzung des Grundgesetzes geregelt werden müssen. Da wird davon geredet werden müssen, wie die Dinge benannt werden. Ich glaube aber, dass unsere Diskussion ergänzt werden sollte durch eine Stellungnahme des Herrn Bundesverteidigungsministers. Dazu, diese zu erbitten, habe ich mich hier zu Wort gemeldet.
(…)
Bundesminister Blank (BMVg): Meine Damen und Herren! Da wir uns dar- über im Klaren waren, dass es um die Bezeichnung »Wehrmacht« Auseinandersetzungen geben würde, haben wir in meinem Hause die Bezeichnung »Streitkräfte« eingeführt. Wir wollten mit der Wahl eines solchen Wortes gerade dieser Diskussion nicht vorgreifen. Ich kann mich meinerseits nur der Auffassung anschließen, dass man es bei dieser Bezeichnung belassen sollte, bis nach einiger Zeit die Diskussion so weit abgeklärt ist, dass man dann zu einer auch von der öffentlichen Meinung akzeptierten Bezeichnung kommt.
Vors. Jaeger (CSU): Ich darf dann als Abgeordneter erklären, dass ich bereit bin, meinen Antrag zurückzuziehen, falls Herr Dr. Mende das auch tut und sicher- gestellt wird, dass die Frage nicht am Freitag und Samstag aufgebracht wird, son- dern erst beim Soldatengesetz oder bei der Grundgesetzänderung entschieden wird.
Abg. Mende (FDP): Ich schließe mich ebenfalls dieser Auffassung an, dass wir die Anträge nicht zurückziehen, sondern zurückstellen bis zur Beratung des Solda- tengesetzes. Mein Argument für diese Zurückstellung ist, dass dadurch der Vorläu- figkeitscharakter dieses Gesetzes noch mehr betont wird. Der Berichterstatter müsste also im Plenum kurz bekannt geben,
►Zurufe: Richtig!
dass wir bewusst nicht eine endgültige Bezeichnung finden wollten, weil es sich um ein vorläufiges Gesetz oder besser um ein Vorausgesetz handelt und die endgültige Bezeichnung erst bei der verfassungändernden Gesetzgebung gefunden werden soll. Allerdings, auch ich würde im Plenum oder beim Soldatengesetz nur dann nicht in der Debatte davon sprechen, wenn das als Gentleman’s Agreement für alle gilt.
Zu der Frage der Bundeswehr und Feuerwehr, – mein Gott, Assoziationen in der Öffentlichkeit sind nicht zu vermeiden. Man tritt damit doch den Feuerwehrleuten nicht zu nahe! Es hat mir jedenfalls keiner geschrieben,
►Zwischenruf Vors. Jaeger (CSU): Da haben Sie aber Glück gehabt! obgleich sie von manchen Zeitungen ermuntert wurden. Die Feuerwehr ist doch etwas anderes. Die wollte niemals Wehrmacht sein, und die Wehrmacht wollte nicht Feuerwehr sein.
Vors. Jaeger (CSU): Die Reichswehr war auch nicht Feuerwehr.
Abg. Mende (FDP): Nun, die Entwicklung bei der Reichswehr –
Vors. Jaeger (CSU): Bei einem alten General wie dem General von Manteuffel
kann man annehmen, dass seine Bindung zur Reichswehr viel stärker ist als seine Bindung zur Feuerwehr.
Abg. Erler (SPD): Mindestens hat die Reichswehr keinen Krieg verloren.
►Abg. Mende (FDP): Doch!
Nein!
Vors. Jaeger (CSU): Kürzlich hat mir ein ausländischer Freund gesagt, er sei
gegen »Wehrmacht« aus deutschen innerpolitischen Gründen, weil die Wehrmacht den Krieg verloren habe, aus deutschen außenpolitischen Gründen, weil die Wehrmacht den Krieg begonnen habe. Das habe ich sehr lustig gefunden.
Meine Damen und Herren, wenn wir nun aber die Sache zurückstellen, also nicht entscheiden, dann sollten wir nicht länger darüber diskutieren, sondern uns damit begnügen, dass ein Gentleman’s Agreement geschlossen wird dahingehend, dass keine Seite einen Antrag stellt, den Namen »Streitkräfte« – ich glaube, »Ver- teidigungsstreitkräfte« würde zu lang, lassen wir es lieber bei »Streitkräfte« – in der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzes zu ändern.

*zitiert nach: Der Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit. September 1954 bis Juli 1955. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Burkhard Köster, Düsseldorf: Droste Verlag 2014 (= Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer, Band 3)

(Fotos: Bundesbildstelle – oben: Verteidigungsminister Blank am Rednerpult bei der Übergabe der Ernennungsurkunden an die ersten Freiwilligen, Foto unten: Übergabe der Urkunden an Heusinger und Speidel, ADN Zentralbild – alle Fotos via Wikimedia Commons unter CC-BY-SA-Lizenz)