Gabriel: „Nicht auf der angeblichen Ohnmacht ausruhen“

In der derzeitigen innenpolitischen Debatte über mögliche Koalitionen und Regierungsbildung spielen Außen- und Sicherheitspolitik eine, wenn überhaupt, untergeordnete Rolle. Deshalb als wichtiger Merkposten die Rede, die der amtierende Außenminister und SPD-Politiker Sigmar Gabriel am (heutigen) Dienstag vor dem Berlin Foreign Policy Forum der Körber-Stiftung gehalten hat. Kernaussagen: Europa muss stärker zum außen- und sicherheitspolitischen Akteur werden, und Deutschland damit auch – und sowohl die Union als auch Deutschland können nicht mehr wie bisher darauf bauen, dass die USA es schon richten werden.

Offensichtlich sehr direkt an Deutschland gerichtet beendete Gabriel die Rede mit der Aussage:

Dann stellen sich Machtfragen, das wird nicht angenehm. Aber wie sagte Willy Brandt?
„Es mag so sein, dass Macht den Charakter verdirbt, aber Ohnmacht nicht minder.“
In diesem Sinne sollen wir uns nicht auf der angeblichen Ohnmacht ausruhen.

Die komplette Rede steht hier auf der Webseite des Auswärtigen Amtes zum Nachlesen*, einige Passagen, die aus sicherheitspolitischer Sicht auffallen:Zum geschwundenen Zutrauen zu den USA als globale Ordnungsmacht:

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die US-amerikanische Rolle – trotz gelegentlichen Zwistes – als behütend gesehen haben, beginnt also längst zu bröckeln.
Die USA werden unser wichtigster globaler Partner bleiben. Es gibt keinen Zweifel: wir werden diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen und pflegen. Diese Partnerschaft wird aber allein nicht ausreichen, um unsere strategischen Interessen zu wahren.
Der US-Rückzug geht nicht auf die Politik eines einzelnen Präsidenten zurück. Er wird sich auch nach der nächsten Wahl nicht grundlegend ändern.
Es darf deshalb auch kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland und Europa angesichts dieser Lage viel mehr tun und wagen müssen als bisher.
Um es ganz offen zu sagen: Es geht um ein Risiko, das uns zum Handeln zwingt. Wir dürfen nicht zusehen, wie sich neue Räume entwickeln, auf die wir keinen Einfluss ausüben.
Wir müssen handeln, auch wenn jedes aktive Vorgehen ein Risiko in sich birgt – das Risiko des Scheiterns. Dieses Risiko können wir uns nicht ersparen. In der Vergangenheit haben wir es den USA überlassen und wenn es schiefging, hatten wir dann jemanden, auf den wir mit dem Finger zeigen konnten.
Deutschland muss mehr in die eigene Stärke und die Einigkeit und Kraft der EU investieren.

Zur künftigen Ostpolitik, oder besser: zum Umgang mit Russland:

Klar ist: Es kann heute keine deutsche Ostpolitik mehr geben, es muss zwingend eine europäische Ostpolitik sein. Wir können erfolgreiche Ostpolitik nur gestalten, wenn unsere neuen NATO- und EU-Partner in Mittel- und Osteuropa mit an Bord sind.
Mit ihren ganz spezifischen historischen Erfahrungen, die andere sind als unsere. Aber gerade wir Deutschen haben an dieser Entspannung nach wie vor ein existentielles Interesse.
Angesichts dieser Aufgaben ist unser Verständnis für die notwendige Aufgabenstellung der EU beinahe furchterregend zu nennen. Wir gehen mit der Europäischen Union um, als hätten wir noch eine zweite auf Lager.
Da wird auf andere gezeigt, da wird offen gedroht, da gibt es Blockaden, Kampfabstimmungen, und nicht zuletzt giftige Klischees.
Eugen Roth hat einmal gesagt „Zu fällen einen schönen Baum, braucht’s eine halbe Stunde kaum. Zu wachsen, bis man ihn bewundert, braucht er, bedenk‘ es, ein Jahrhundert.“
Die Spannungen zwischen den Regierungen in der EU haben zugenommen. Und indem die Regierungen das Übel in den Verhandlungen in Brüssel sehen, machen sie es manchen Medien leicht, immer neue Frontstellungen zu entdecken: Der Süden gegen den Norden, der Westen gegen den Osten.
Vielleicht liegt es daran, dass wir im Sinne Dahrendorfs unsere gemeinsamen Interessen immer noch nicht verstanden haben.
Die EU ist eben nicht gegründet worden, um diese Interessen nach Außen als etwas Verbindendes zu entdecken. Tragischer Weise scheint die EU ausgerechnet in dieser Phase, in der die Weltlage sie zu mehr Aktion im Äußeren nötigt, das innere Versöhnungsprojekt langsam verschleißen zu lassen.
Deswegen sage ich: Wir brauchen zuallererst eine Schubumkehr, wenn wir nicht in einigen Jahren vor den Trümmern der EU stehen wollen – und damit übrigens hilflos in der Welt. Es ist eben ein Fehler zu glauben, die EU beinhalte den Verlust nationaler Souveränität. Diese Form der nationalen Souveränität gibt es in der Welt von heute und morgen nicht – wir erringen sie zurück über den Umweg der EU. Die Europäische Union ist ein Souveränitätsgewinn für ihre Mitgliedsstaaten und nicht ein Souveränitätsverlust.
Gerade in der Außenpolitik muss die Europäische Union über sich hinauswachsen. In der unruhigen Welt von heute können wir Europäer uns nur im Zusammenschluss behaupten.

Zu einem Hauptthema des weiteren europäischen Vorgehens, der Gemeinsamkeit von Frankreich und Deutschland:

Deutschland und Frankreich kommen nur dann zusammen, wenn wir uns auf gemeinsame Orientierungspunkte darüber einigen können, wie es in Europa weiter gehen soll.
Die Richtung muss stimmen. Über die Route, aber auch über konkrete Inhalte, wird noch viel zu reden sein.
Wir brauchen jetzt eine Dynamisierung der europäischen Integration, keine blinde und ziellose, sondern eine, die an den neuralgischen Punkten ansetzt und die zentralen Macht- und Zukunftsfragen adressiert.
Für diese Dynamisierung muss auch Deutschland Impulse setzen. Zu oft hat sich unser Land in den vergangenen Jahren eine hinhaltende, eine blockierende oder gar eine exzentrische Position geleistet.
Derzeit steht es mit Blick auf europapolitische Initiativen eher 10 zu 0 für Frankreich. Bei diesem Spielstand sollte es nicht bleiben.
Das wird uns viele ernste Diskussionen über Wirtschafts- und Finanzfragen bescheren. Und auch in der Sicherheitspolitik sind wir gefordert, gemeinsame Linien zwischen Deutschland und Frankreich für Europa zu finden:
Das alles wird nicht einfach sein. Vielleicht muss Frankreich dafür in Finanzfragen etwas deutscher und Deutschland in der Sicherheitspolitik etwas französischer werden.

Beim letzten zitierten Satz stellt sich dann natürlich die Frage, was so etwas konkret bedeuten könnte, wenn Deutschland in der Sicherheitspolitik etwas französischer werden sollte. Sowohl die Fähigkeit als auch den Willen zu weltweiter Intervention? Das anstreben einer – dann europäischen – strategischen Autonomie zum Beispiel in der Rüstung? Da wäre noch einiges im Detail auszubuchstabieren.

Und da wird sich dann auch die Frage stellen, ob und wie die hier von Gabriel skizzierten Ansprüche in eine neue Bundesregierung, wie auch immer sie aussehen wird, einfließen können.

* Anmerkung 1: Da bei Regierungs-Webseiten nie so klar ist, wie dauerhaft dort eingestellte Texte verfügbar bleiben, erlaube ich mir, den Text der Rede hier als pdf-Datei zu archivieren:
20171205_Gabriel_Rede_Berliner_Forum_Koerber

Anmerkung 2: Wer diesen Eintrag zur Einladung als Gabriel- oder Sozi-Bashing versteht, hat was falsch verstanden.

(Foto: Außenminister Sigmar Gabriel, SPD bei seiner Rede im Rahmen des ‚Berlin Foreign Policy Forum‘ der Körber-Stiftung in Berlin – Florian Gaertner/photothek.net )