‚Ein Soldat ist kein Schraubstock‘: Im Gefecht war das G36 ok. Und im Ministerium herrscht Chaos

Operation Orpheus - Nawabad, Northern Afghanistan

Vor Monaten hatte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gleich mehrere Kommissionen – extern wie intern – beauftragt, dem Debakel mit dem Sturmgewehr G36, der Standardwaffe der Bundeswehr, nachzugehen. Am (heutigen) Mittwoch gab es mehrere Berichte für die Ministerin, und nach Gesprächen mit den Experten und Leuten aus dem Ministerium scheint nun folgender Sachstand zu gelten:

  • Die bereits vor Monaten als letzte Erkenntnis des Ministeriums festgestellten technischen Probleme des Sturmgewehrs gelten weiterhin als gesetzt: Im heißgeschossenen Zustand oder bei heftigen Schwankungen der Umgebungstemperatur trifft die Waffe nicht mehr genau genug. Deshalb gilt auch unverändert: Langfristig soll das G36 durch ein neues Sturmgewehr ersetzt werden, dessen technische Voraussetzungen zurzeit definiert werden – die Beschaffung der neuen Waffe kann sich aber über ein Jahrzehnt hinziehen.
  • Die im Labor festgestellten Präzisionsprobleme hatten in den Einsätzen der Bundeswehr keine Auswirkungen. Kein deutscher Soldat wurde aufgrund dieser technischen Defizite gefährdet oder gar getötet.
    Zu diesem recht eindeutigen Ergebnis kam eine externe Kommission unter Leitung des früheren Grünen-Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei, die dafür nicht nur die Akten mit Gefechtsberichten wälzte, sondern auch rund 150 einsatzerfahrene Soldaten befragte. Für den Unterschied zwischen den technischen Tests und den Gefechtserfahrungen gab es eine recht lakonische Erklärung: Ein Soldat ist kein Schraubstock. Und im Gefecht spielen äußere Bedingungen wie Staub, Hitzeflimmern, Seitenwind oder selbst die Haltung des Soldaten eine größere Rolle als die festgestellen Präzisions-Abweichungen.
  • Ein verheerendes Zeugnis stellte eine Organisation zur Überprüfung der Organisationsstruktur und -kultur anhand des Falles G36 dem Ministeriums- und Behördenapparat aus. Es gebe zwar keinen Hauptverantwortlichen für das jahrelange Durcheinander (das Gewehr trifft nicht, das Gewehr trifft, die Munition ist Schuld, das Gewehr trifft doch nicht), aber sehr wohl eine pulverisierte Verantwortung. Niemand hatte den Überblick über den Stand des – eigentlich nicht gar so komplexen – Waffensystems Sturmgewehr. Auch hatte niemand auf dem Schirm, dass bei Einführung des G36 im Jahr 1997 eine Nutzungsdauer von 20 Jahren angepeilt wurde: Das hätte bereits vor ein paar Jahren automatisch zur Überprüfung führen müssen, ob das Gewehr aktuellen Anforderungen noch gerecht wird, oder ob über die Beschaffung eines neuen Systems nachgedacht werden müsste. Außerdem scheint selbst nach Bekanntwerden der technischen Probleme ziemliches Chaos geherrscht zu haben: Gleich zwei Gutachten zur Überprüfung dieser Vorwürfe vergab ein Abteilungsleiter kurzerhand telefonisch, schriftliche Belege dafür gibt es offensichtlich nicht. Eines dieser so an das – eigentlich angesehene – Ernst-Mach-Institut der Fraunhofer-Gesellschaft vergebenen Gutachten kam dann zu dem Schluss, dass die Munition Grund der Treffprobleme sei. Das musste dann später revidiert werden.
  • Die Herstellerfirma des G36, das Oberndorfer Unternehmen Heckler&Koch, ist der Lieferant fast aller Handwaffen der Bundeswehr – das führte zu einer Nähe zwischen dem Lieferanten und den Bundeswehr-Behörden, die die Qualität der Ware überprüfen sollen, die in die Nähe des Bedenklichen geht. Ein unangemessenes Dominanzverhältnis, hieß es aus dem Ministerium. Vor allem die Unterbringung der so genannten Güteprüfstelle, also der technischen Abnahme der Waffen, in der Firma selbst sei schon für das Rollenverständnis von Auftraggeber und Auftragnehmer ein Problem. Diese Güteprüfstelle, so eine Entscheidung am heutigen Mittwoch, wird deshalb auch aus dem Firmengelände herausgenommen. Für Korruption in den Geschäftsbeziehungen zwischen Heckler&Koch und Bundeswehr gebe es allerdings keine Hinweise.

Gekürzte Fassungen der Berichte hat das Verteidigungsministerium veröffentlicht:

Die öffentlichen Statements zur Vorlage der Berichte stehen hier zum Nachhören.

Und was bleibt nach diesen ganzen Berichten? Zum einen ist klar, dass die Verteidigungsministerin diese Untersuchungen für ihren weiteren Umgang mit dem G36 nicht gebraucht hat – ihr Urteil steht schon lange fest, sie hatte es bereits im Frühjahr in die Worte gekleidet: Das G36 hat in seinem gegenwärtigen Konstruktionsstand keine Zukunft in der Bundeswehr.

Zum anderen ist die Entscheidung, das G36 nach mehr als zwei Jahrzehnten durch ein neues Modell abzulösen, unterm Strich nicht wirklich sensationell: Zu diesem Ergebnis hätten Bundeswehr und Ministerium auch kommen können, wenn sie dem notwendigen Plan gefolgt wären und rechtzeitig, also bereits vor ein paar Jahren, über die Zukunft der Standardwaffe der Truppe nachgedacht hätten. Das Chaos, das in den vergangenen Jahren herrschte, wäre vermeidbar gewesen, und vor allem hätte es ein zusätzliches Problem nicht gegeben: die Verunsicherung der Soldaten, ob ihre Waffe noch was taugt. Denn von oben zu hören, dass ein Gewehr nicht trifft, während man im Einsatz ganz andere Erfahrungen macht – das muss man erst mal wegstecken.

Vor allem aber hat die Organisationsstudie des ehemaligen Commerzbank-Chefs Klaus Peter Müller (wieder einmal) belegt, wie standhaft der Apparat gegen Veränderungen ist, egal wer unter ihm Minister oder Ministerin ist. Denn den Vorwurf, Ministerium, Bundeswehr-Behörden und Bundeswehr hätten selbst über ihre eigenen Akten keinen richtigen Überblick, habe ich vor ein paar Jahren ziemlich wortgleich schon mal gehört: Im EuroHawk-Untersuchungsausschuss 2013 beklagte eine Vertreterin des Bundesrechnungshofs fehlendes Fachcontrolling und mangelhaftes Dokumentenmanagement. Das Management by Kraut&Rüben scheint sich seitdem kaum geändert zu haben. Und gegen eine hemdsärmelige Gutachten-Vergabe am Telefon, ohne (nachträglichen) schriftlichen Beleg, hilft auch die von Müller verlangte bessere Ausstattung mit Informationstechnik wenig.

(Archivbild 2011: Bundeswehrpatrouille mit G36 in Nawabad bei Kundus in Afghanistan – Timo Vogt/randbild.de)