Bericht aus der Schlammzone

Der Autor des besprochenen Buches im Afghanisan-Einsatz (Foto © Joël van Houdt)

Joe war im Krieg, in diesem Krieg in Afghanistan, der nun schon über elf Jahre dauert. Er hat Sprengfallen erlebt und wurde beschossen, er hat tagelange Gefechte durchgestanden und er hat auf Menschen geschossen, sehr wahrscheinlich etliche getötet. Und über seine sieben Monate in einer Kampfeinheit am Hindukusch hat Joe ein Buch geschrieben.

Das wäre vermutlich – relativ – normal, wenn Joe ein amerikanischer Soldat wäre. Aber der Spitzname Joe täuscht: Johannes Clair war Fallschirmjäger der Bundeswehr, Stabsgefreiter, und als Soldat der Task Force Kunduz vom Juni 2010 bis Januar 2011 rund um Kundus im Einsatz. Im Golf-Zug, Nachfolger der Einheit, die im Karfreitagsgefecht 2010 in Isa Khel bei Kundus drei Leute verlor.

Um es gleich zu sagen: Ich bin begeistert von Vier Tage im November, diesem Buch eines (inzwischen ausgeschiedenen) Stabsgefreiten, der den Krieg in Afghanistan schildert, wie ihn die Mannschaftssoldaten der Kampftruppen erleben. Nicht die – bei allem Interesse und Engagement dann doch – außenstehende Sicht eines Reporters, nicht die leicht am großen Bild orientierte Schilderung eines Offiziers (Meine Absicht war es…). Aber auch nicht die Auseinandersetzung eines an Leib oder Seele verwundeten Soldaten mit seinem Einsatz. Sondern der Bericht eines Soldaten vorne an der Front – aus der Schlammzone.

Ein durch eine Sprengfalle leicht verwundeter deutscher Soldat wartet auf den Abtransport im Distrikt Char Darrah bei Kundus, 10. Juli 2010 (Foto © Joël van Houdt)

Nicht, dass Clair nicht immer wieder reflektieren würde, was er da tut und warum er das tut. Nicht, dass er seine Arbeit ausschließlich darin sieht, Befehle auszuführen. Im Gegenteil – Die Überlegungen des damals 25-jährigen durchziehen das Buch wie ein roter Faden und wechseln sich mit den Schilderungen von Alltag und Gefecht ab.

Wir waren dort, um zu kämpfen. Wir wurden gedrillt, auf Menschen zu schießen. So wurde es uns gesagt, und genau so ist es gekommen. Wird sich wirklich etwas verändert haben, wenn ich dieses Dorf jetzt verließ? Hatte sich meine Wahrnehmung und damit meine Sichtweise gewandelt? Was werde ich sagen, wenn ich wieder zu Hause bin? Werde ich erzählen können, was uns widerfahren ist, nachdem das oft so schwierig war? Wird es überhaupt jemanden geben, der bereit ist zuzuhören?

Was ihnen wiederfahren ist, den Männern des Golf-Zuges, schildert Clair anschaulich, lesenswert und ohne den taktischen Wortschatz, der Lesern ohne militärische Vorkenntnis so oft die Lektüre erschwert (Nachdem die TACP CAS requested hatten, saßen wir auf die Tpz auf, während die Zwote die LoC zum PRT sicherte…) . Von Langeweile, Anstrengung, von Gefechten und Ängsten. Bis hin zu der lähmenden Angst, die ihn mitten in einer Operation überfällt und fast handlungsunfähig macht – bis er es dann doch schafft, diese Angst zu überwinden. Und zurückzuschießen.

Nun ist Clair nicht der typische Mannschafter der Fallschirmjäger: Er nimmt seinen Beruf Ernst, das tun viele, aber er denkt mehr darüber nach als vermutlich die meisten seiner Kameraden. Und gerade deshalb kann er so anschaulich schildern, wie es war – und zugleich versuchen zu erklären, wie sich die Soldaten in diesem Krieg fühlen.

Alle Eindrücke haben immer viele Facetten. Und hinter jedem Erlebnis steckt eine Geschichte. Dies hier soll die Geschichte meiner Eindrücke sein. Mit diesem Buch möchte ich eine Brücke schlagen, zwischen den Bürgern, die dienen, und den Bürgern, die daheim bleiben.

schreibt der Afghanistan-Veteran – mit 27 Jahren. Und versucht, den Daheimgebliebenen etwas klar zu machen: Ob sie für oder gegen diesen deutschen Einsatz in Afghanistan sind, wird sich vielleicht nach Lektüre des Buches nicht ändern. Aber wenn sie verstehen, was die Männer und Frauen motiviert, die an dieser Front den Kopf hinhalten, wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, ist schon etwas erreicht.

Clair beim Verteilen von Fußbällen an afghanische Kinder (Foto © Joël van Houdt)

Wenn er heute vor Schulklassen von seinem Einsatz erzählt, sagte mir Clair, hat er selbst in der Oberstufe eines Gymnasiums Schüler vor sich, die zu Beginn dieses Krieges noch Kinder waren. Seit elf Jahren ziehen deutsche Soldaten in diesen Krieg, und keine Sau weiß etwas darüber. Selbst wenn sein Buch nur dazu beiträgt, dass mehr Menschen etwas darüber wissen, hätte es sich schon gelohnt. Ich würde es allen in die Hand drücken, die eine Meinung zu diesem Krieg haben.

Ich gebe zu: Rund 400 Seiten sind schon ein Pfund für jemand, der sich mit diesem Thema bislang nur am Rande beschäftigt hat. Und das macht es nicht ganz einfach, sich dem Buch zu nähern. Dennoch würde ich es zuerst denen empfehlen, die diesem Einsatz sehr ablehnend gegenüberstehen.

(Nicht so glücklich finde ich auch, dass der Verlag das Buch als „Im Westen nichts Neues“ für das 21. Jahrhundert bewirbt. Jenseits der Frage der literarischen Qualität, über die ich mir kein Urteil anmaße: In Remarques berühmten Antikriegsroman ging es um das sinnlose Schlachten des Ersten Weltkriegs. Clair fragt dagegen, ob ein Militäreinsatz nicht auch sinnvoll sein kann. Und er hofft, als Soldat einen Unterschied machen zu können.)

Clair hat übrigens nach vier Jahren als Zeitsoldat beschlossen, nicht bei der Bundeswehr zu bleiben. Er studiert jetzt Sozialökonomie in Hamburg. Aus meiner außenstehenden Beobachtersicht: Das ist schade. Ich würde mir mehr Soldaten wie ihn in verantwortungsvollen Posten wünschen.

Johannes Clair, Vier Tage im November – Mein Kampfeinsatz in Afghanistan. Econ Verlag

(Für die verwendeten Fotos danke ich dem niederländischen Fotojournalisten Joël van Houdt, der Clairs Einheit im Sommer 2010 begleitete und mir freundlicherweise die Verwendung gestattete.)

Nachtrag: Dieses Foto (aus dem Kompaniefundus), das auch im Buch abgedruckt ist, gehört eigentlich ebenfalls zu der Geschichte. Es entstand am 5. November 2010 – nachdem die Fallschirmjäger die Überreste des Dingos gesichert hatten, der am Karfreitag 2010 in Isa Khel angesprengt worden war und zurückblieb. Es ist der Dingo, vor dem die Taliban öffentlichkeitswirksam für ein Foto posierten…