Das korrumpierte Gedächtnis der Demokratie

Vielen von uns sind sie vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung: Die Versuche totalitärer Regime, nachträglich die Geschichte zu bereinigen. Berühmt wurden die Foto-Retuschen, mit denen in Ungnade gefallene Sowjetführer aus den öffentlichen Bildern und den Geschichtsbüchern verschwanden, und auch in der deutschen Geschichte gibt es dafür einige Beispiele.

In den Zeiten des Internets und in einem demokratischen System kann so etwas natürlich nicht passieren.

Sollte es nicht. Aber die Meldung der Süddeutschen Zeitung von heute schreckt mich auf. Nachträglich, berichtet das Blatt unter Berufung auf eine Grünen-Abgeordnete, hat das Bundesministerium der Verteidigung Teile einer bereits veröffentlichten Bundestags-Drucksache zurückgezogen: Es ging um die deutschen Zahlungen an Usbekistan für den Strategischen Lufttransport-Stützpunkt in Termez im Süden des Landes, für die Bundeswehr der entscheidende Umschlagplatz für den Einsatz in Afghanistan.

Zunächst hatte das Ministerium die aktuellen Zahlungen in der Antwort auf eine Kleine Anfrage genannt. Doch Wochen später, so berichtet die Süddeutsche, tauchten offensichtlich im Ministerium Bedenken auf, den Geldfluss an das nicht zuletzt wegen des Umgangs mit Menschenrechten umstrittenen Regime in Taschkent öffentlich zu machen. Nachträglich wurden die Teile der Antwort zur Verschlusssache erklärt – und aus der im Internet zugänglichen Bundestags-Drucksache entfernt. In der bereits gedruckten und ausgelieferten Version blieben sie, natürlich, erhalten. (Und natürlich auch in den Medienberichten darüber.)

Ich kann die Angaben derzeit im Einzelnen nicht nachprüfen – denn auch ich kann nur die aktuelle Version der Bundestagsdrucksache vom Server des Deutschen Bundestages herunterladen. Auf Änderungen überprüfen kann ich sie nicht.

Und da liegt das Kernproblem, das weit über den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung hinausgeht, weit über die Frage nach dem Umgang mit Usbekistan.

Als ich 1990 meine Arbeit als Korrespondent in der Bundespolitik begann, damals noch in Bonn, sammelte jede (größere) Redaktion fleißig die gedruckten Bundestagsdrucksachen. Berge von Papier, etliche Regalmeter kamen jedes Jahr zusammen, die Sekretärinnen stöhnten – aber das Material war da, wenn es einmal veröffentlicht war. Und ein gut geführtes Archiv konnte schon mal helfen, unstimmige Aussagen der Regierenden aufzudecken.

Seitdem die Bundestagsdrucksachen im Volltext via Internet abgerufen werden können, hat sich das natürlich geändert. Wer will noch den Aufwand (und das Geld) investieren, jedes Jahr Regalmeter von Papier zu archivieren, wenn es alles asuf Knopfdruck gibt?

Und deswegen ist die heutige Meldung so alarmierend: Das elektronische Archiv des Deutschen Bundestages, das bedeutet es in der Praxis, ist in seiner Integrität angekratzt. Niemand kann sehen, ob ein dort abgelegtes Dokument vielleicht nachträglich verändert wurde, ob die Bundesregierung zum Beispiel den Gehalt einer Nachricht ans Parlament im Nachhinein verändert hat. Selbst wenn man zur Sicherheit noch die tatsächlich gedruckten Drucksachen als Papier im Keller hat – wer hat denn die Möglichkeit, unsagbare Mengen von Gedrucktem mit der elektronischen Version zu vergleichen?

Das geht Journalisten genau so an wie Wissenschaftler – jeder Historiker dürfte gut beraten sein, als Grundlage nur die auf Papier veröffentlichten Bundestags-Drucksachen heranzuziehen. Für die Öffentlichkeit ist nicht mehr nachvollziehbar, ob die Internet-Version die Originalversion ist.

Mit anderen Worten: Das Gedächtnis der Demokratie ist korrumpiert. Was vom Deutschen Bundestag elektronisch veröffentlicht wird, muss nicht mehr das sein, was ursprünglich veröffentlicht wurde. Bei den kruden Retuschen von Stalin-Fotos konnte man ja teilweise noch erkennen, wo jemand rausgeschnitten wurde. Die elektronischen Dokumente sehen immer makellos aus.

Nachtrag: Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums erklärt dazu:

Das Deutsch-Usbekische Regierungsabkommen vom 13. April 2010  enthält eine Vertraulichkeitsklausel. Diese Information wurde bei der Beantwortung einer Abgeordnetenfrage übersehen. Deshalb kam es zur irrtümlichen Veröffentlichung von Details des Abkommens, die nur zur Information von Abgeordneten des Bundestages bestimmt waren.
Für Informationen, deren Bekanntgabe nachteilige Auswirkungen auf
die internationalen Beziehungen haben kann, besteht kein öffentlicher
Informationsanspruch (§ 3 Nr. 1 IFG). Die Klausel steht aber einer rein vertraulichen Information des Verteidigungsausschusses oder einzelner Abgeordneter nicht entgegen, so dass von Zensur keine Rede sein kann.

Ich hab ja gar nicht von Zensur gesprochen. Sondern davon, dass als BT-Drucksache veröffentlichte Aussagen der Bundesregierung nachträglich verändert werden. Das stellt die Frage nach der Integrität der vom Deutschen Bundestag veröffentlichten Dokumente. Da auf das Informationsfreiheitsgesetz zu verweisen, ist eine nette Ablenkung…