Afghanistan: Kontrolliert steigende Gewalt – nur nicht gegen die internationalen Truppen

Die Angriffe von Aufständischen in Afghanistan haben im vergangen Vierteljahr deutlich zugenommen – aber die US-Truppen und ihre Verbündeten wurden sorgfältig ausgespart, um den zwischen den USA und den Taliban vereinbarten Abzug nicht zu gefährden. Zu dieser Einschätzung kommt der US-Beauftragte für den Wiederaufbau Afghanistans, der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), in seinem jüngsten Quartalsbericht. Unter den zunehmenden Angriffen leide vor allem die Zivilbevölkerung.

Wie aus dem am (heutigen) Donnerstag veröffentlichten SIGAR-Bericht hervorgeht, stieg die Zahl der Angriffe von Aufständischen zwischen Juli und September um 50 Prozent im Vergleich zum vorangegangenen Vierteljahr. Die Zahl ziviler Opfer stieg in diesem Zeitraum um 43 Prozent, 876 Menschen wurden getötet und 1.685 verletzt. Der US-Beauftragte berief sich dabei auf Zahlen der NATO-geführten Resolute Support Mission und der US-Streitkräfte am Hindukusch.

Das US-Verteidigungsministerium habe dazu mitgeteilt, dass die Taliban ihre Gewalt gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und die Regierung in Kabul verstärkt hätten, aber darauf achteten, innerhalb der Bedingungen des mit den USA vereinbarten Friedensabkommens zu bleiben, heißt es in dem Bericht. Offensichtlich wollten die Aufständischen den geplanten Abzug der internationalen Truppen nicht gefährden.

Offen blieb allerdings, ob es noch Angriffe der Aufständischen auf US-Truppen gab. SIGAR habe zwar dazu um Auskunft gebeten, erklärte der Beauftragte. Die Antwort sei aber eingestuft worden und dürfe nicht veröffentlicht werden. Andererseits sei bekannt, dass die US-Streitkräfte die Zahl ihrer Luftangriffe zur Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte im vergangenen Vierteljahr wieder erhöht hätten. Das sei auch nach dem Abkommen mit den Taliban zulässig.

Allerdings werden die genauen Daten zur diesen US-Luftangriffen, aber auch andere Kennzahlen der internationalen Truppen am Hindukusch seit einiger Zeit nicht mehr öffentlich gemacht. Zu den Einsätzen des afghanischen Militärs veröffentlichte SIGAR hingehen Zahlen: So hätten Afghan Special Security Forces in den vergangenen drei Monaten mehr als doppelt so viele Einsätze gemeldet wie im vergangenen Jahr; die 1.111 Missionen bedeuteten zudem eine Zunahme um fast 50 Prozent im Vergleich zum vorangegangenen Vierteljahr.

Die aktuelle Zwischenbilanz der zivilen Entwicklung in Afghanistan im SIGAR-Bericht fällt denn auch, wenig überraschend, verheerend aus. So werde nach den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums geschätzt, dass fast ein Drittel der afghanischen Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert ist. Eine genauere Analyse scheitert nicht nur an den fehlenden Daten nur Bevölkerung: Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) würden für jeweils drei Männer, die einem Covid-19-Test unterzogen werden, nur eine Frau getestet. Die offizielle Zahl der Infizierten erfasse deshalb zu 70 Prozent Männer.

Als Folge der Coronavirus-Pandemie hätten zudem auch andere Probleme im Gesundheitswesen wieder überhand gewonnen. So drohe die im Land ohnehin hohe Zahl der Resistenzen gegen Antibiotika weiter zuzunehmen, weil viele Menschen ohne ärztliche Behandlung selbstbeschaffte Antibiotika in der irrigen Hoffnung auf eine Wirkung gegen Covid-19 einsetzten. Auch die Aussetzung der Polio-Impfungen in der Pandemie habe zum Wiederaufflammen dieser Krankheit selbst in zuvor Polio-frei erklärten Regionen geführt.

(Foto: KABUL, 28 October 2020 – A young woman offering prayers at the Sakhi Holy Shrine in Kabul, Afghanistan – UNAMA Photo / Nasim Fekrat)