„Neuer Wehrdienst“ ohne Wehrpflicht, aber mit Wehrerfassung (m. Nachtrag)

Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf des Verteidigungsministeriums für den so genannten neuen Wehrdienst auf den Weg gebracht. Die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht wird nicht reaktiviert, auch eine verpflichtende Musterung für Männer soll es entgegen früherer Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht geben. Wesentliche Änderung ist jedoch die Wieder-Einführung von Wehrerfassung und -überwachung.

Pistorius hatte im Juni seine Pläne für den neuen Wehrdienst vorgestellt: Nach seinen ursprünglichen Überlegungen sollten alle jungen Menschen eines Jahrgangs einen Fragebogen zu Kenntnissen, Fähigkeiten und Bereitschaft zum Dienst in den Streitkräften erhalten. Männer sollten ihn verpflichtend ausfüllen, Frauen freiwillig – und auf Grundlage der Angaben hätten Männer verpflichtend zu einer Musterung vorgeladen werden sollen, einen eventuellen Wehrdienst aber wie bisher freiwillig absolvieren können.

Geblieben ist der Fragebogen mit der Pflicht zur Auskunft nur für Männer; schon eine verpflichtende Musterung für diese Wehrpflichtigen wurde – offenkundig nach Protest des Koalitionspartners FDP – nicht mehr in den Gesetzentwurf* aufgenommen, dem das Kabinett am (heutigen) Mittwoch zustimmte.

Damit bleibt es für Männer wie für Frauen letztendlich bei einem freiwilligen Wehrdienst wie bisher. Der heißt allerdings nicht mehr Freiwilliger Wehrdienst, sondern künftig Basiswehrdienst und soll, das bleibt unverändert,  zwischen sechs und 23 Monaten dauern können.

Damit hat der Verteidigungsminister offensichtlich seine Absicht nicht verwirklichen können, in Deutschland einen Wehrdienst nach schwedischem Vorbild zu etablieren: In dem skandinavischen Land werden alle jungen Menschen eines Jahrgangs – also sowohl Männer als auch Frauen – erfasst und nach dem Bedarf der Streitkräfte gemustert und von staatlicher Seite für einen Wehrdienst ausgewählt.

Wesentlich dürfte für das Ministerium aber der in dem neuen Gesetz enthaltene Schritt sein, die nötigen Verwaltungsregelungen für eine mögliche Wehrpflicht zurück zu erhalten. Mit Aussetzung der Wehrpflicht vor über einem Jahrzehnt waren alle entsprechenden Regelungen ebenfalls ausgesetzt und die dafür nötigen Verwaltungseinrichtungen wie Kreiswehrersatzämter aufgelöst worden.

Kreiswehrersatzämter werden zwar nicht wieder neu aufgebaut; die rechtlichen Regelungen sollen aber künftig ermöglichen, dass die Streitkräfte alle für eine Wehrpflicht erforderlichen Informationen von den Meldebehörden erhalten können. Hintergrund ist vor allem, dass die nur ausgesetzte Wehrpflicht im Spannungs- oder Verteidigungsfall sofort automatisch wieder in Kraft tritt und Verteidigungsministerium und Bundeswehr die dafür nötigen Voraussetzungen schaffen wollen.

Nachtrag zur Ergänzung: Die Aussagen von Oberst Mitko Müller aus dem Verteidigungsministerium dazu vor der Bundespressekonferenz:

Frage: Bezüglich des Themas Wehrdienst interessiert mich, ob es Veränderungen an dem Gesetzentwurf gegeben hat, seit der Minister das Konzept vorgestellt hat, und was die neue Grundvereinbarung mit der Bundesagentur für Arbeit mit dem Thema zu tun hat.

Müller: Der Referentenentwurf steht, soweit ich weiß, online. Ich habe ‑ es waren vier oder fünf Monate dazwischen ‑ jetzt keine Liste der Abweichungen. Aber die Grundelemente sind, dass wir ‑ abgeleitet aus der Bedrohungslage ‑ eine Bundeswehr brauchen, die einen möglichen Konflikt langfristig überstehen kann, bestenfalls abschrecken kann und dafür personell aufwuchsfähig ist, dafür personell durchhaltefähig ist. Dafür brauchen wir eben eine Reserve. Um diese Reserve entsprechend personell aufzustellen, brauchen wir einen Wehrdienst, um kontinuierlich Personal auszubilden und dann der Reserve zur Verfügung zu stellen. Parallel ist die zweite Säule besonders wichtig. Die zweite Säule ist die Wehrerfassung und die Wehrüberwachung. Wir müssen im Ernstfall wissen, wen wir anschreiben können, wer aktiviert werden kann, welche Ausbildung er genossen hat usw. Diese beiden Kernelemente, also zum einen die eigentliche Ausbildung, das eigentliche Dienen in der Truppe, und parallel die Wehrerfassung und die Wehrüberwachung, sind die Kernelemente des neuen Wehrdienstes.
Davon zu trennen ist die Personalgewinnung. Ich bitte, das ganz klar davon zu trennen. Das eine ist die Aufwuchsfähigkeit der Truppe mit einer starken Reserve. Das andere ist, und darauf zielt die heutige Grundsatzvereinbarung mit der Bundesagentur für Arbeit ab ‑ heute Nachmittag um 14.30 Uhr bei uns ‑, dass wir bei der Bundesagentur demnächst aktiv die möglichen Berufsfelder und Berufsbilder auch im militärischen Dienst, in den Streitkräften, präsentieren, dort beraten und Interessierte betreuen. Wir haben das vorher schon für die zivilen Tätigkeitsfelder gemacht. Jetzt bekommt der Interessierte bzw. die Interessierte bei der BA das gesamte Portfolio vorgestellt, wenn er das möchte, und wird hinsichtlich dieser Tätigkeiten beraten, die dort möglich sind. Das wiederum ist dann aber, wie gesagt, für die eigentliche Personalgewinnung. Das sind im Grunde beides Bereiche aus dem Themenfeld des Personals, aber das eine ist die Aufwuchsfähigkeit für einen möglichen, hoffentlich vermeidbaren Konflikt, und das andere ist die Personalgewinnung für die Streitkräfte.

Zusatzfrage: Ich habe eine Nachfrage zu dem letzten Punkt: Mit welchem Potenzial rechnet das Ministerium derzeit?

Müller: Meinen Sie die Grundsatzvereinbarung?

Zusatz: Ja.

Müller: Ich kann Ihnen jetzt keine Zahl präsentieren. Es gibt mehr als 1000 Berufsbilder in den Streitkräften. Wir haben sowohl im zivilen Tätigkeitsfeld als auch im militärischen Tätigkeitsfeld attraktive, interessante Berufsmöglichkeiten, und die wollen wir da präsentieren und parallel zu unseren Beratungszentren, den Karriereberatungszentren, die die Bundeswehr ja betreibt, den Interessierten diese Informationen zur Verfügung stellen und dann dort natürlich auch weiteres Personal im eng umkämpften Fachkräftemarkt in Deutschland für uns gewinnen. Das ist unsere Erwartung.
Sie werden nachher noch ein Statement des Ministers und von Frauen Nahles dazu hören, und dann können die beiden das noch ein bisschen ausformulieren.

Frage: Herr Müller, ich weiß nicht, ob Sie hier bei der PK mit dem Minister waren. Der hat sich ja auch für eine verpflichtende Musterung von Männern ausgesprochen. Die ist jetzt hier nicht mehr dabei. Sie werden wahrscheinlich einräumen müssen, dass das der Unterschied ist.
Mich interessiert aber eher, dass sich ja im Prinzip außer der verpflichtenden Auskunft für Männer in diesem Fragebogen nicht wirklich etwas am Freiwilligen Wehrdienst geändert hat. Trotzdem versuchen Sie jetzt diesen Etikettenwechsel, indem Sie den Freiwilligen Wehrdienst, der ja immer noch ein freiwilliger Wehrdienst ist, künftig Basiswehrdienst nennen. Warum dieser Etikettenwechsel?

Müller: Ich habe gerade dargestellt: Es gibt große Änderungen. Die gesamte zweite Säule, die Wehrerfassung, die Wehrüberwachung, ist ein wichtiges Element, das 2011 abgeschafft wurde, das wir aber benötigen, um handlungsfähig zu sein, um durchhaltefähig zu sein. Diese zweite Säule ist Punkt eins.
Der andere Teil ist, dass wir natürlich mit dem Versenden des Fragebogens und mit dem verpflichtenden Rückmelden unsere Möglichkeiten, die die Streitkräfte bieten, erst einmal an 350.000 oder 400.000 Männer eines Jahrgangs verteilen und darüber hinaus dann auch eine Rückmeldung erhalten. Die beschäftigen sich also aktiv mit dem Themenfeld.
Dann werden wir natürlich auch, und das ist unser eigener Anspruch, diesen neuen Wehrdienst in der Truppe umgestalten. Wir werden also in die Fläche gehen. Wir werden für die TSK, die Teilstreitkräfte, für ihre Bereiche diese mindestens sechs Monate ausformulieren. Die zu leistenden Wehrdienstes werden sich also auch in ihrer Ausbildung unterscheiden. Wir werden das regional so verteilen, dass wir auch in der Fläche attraktiv sind. Dann werden wir in den ersten sechs Monaten die infanteristische Grundausbildung durchführen sowie die Heimatschutzbefähigung herstellen und werden damit die neuen Absolventen, wie ich sie einmal nennen will, dazu befähigen, im Falle eines Falles mit dieser Mindestqualifikation auch im Rahmen des OPLAN Deutschland ‑ Sie kennen das, den Operationsplan Deutschland ‑ im Rahmen des Heimatschutzes eingesetzt zu werden.
Wer sich darüber hinaus weiter interessiert und sich dann für bis zu 23 Monate verpflichten möchte, bekommt eine weitere Qualifikation, ganz speziell in seiner Teilstreitkraft und auch in der Region, in der er sich engagieren möchte. Das kann zum Beispiel ein Sicherungssoldat auf einem fahrenden Schiff sein, also eine seegehende Einheit. Wir wollen das sinnstiftend machen. Wir wollen das attraktiv machen. Wir wollen das nicht als Bürde sehen, sondern es soll für beide Seiten ein gewinnbringender Wehrdienst sein.

Zusatzfrage: Der Freiwillige Wehrdienst ist weiterhin ein freiwilliger Wehrdienst, korrekt?

Müller: Der neue Wehrdienst beruht auf Freiwilligkeit. Jeder, der den Fragebogen bekommt, hat die Pflicht, diesen auszufüllen. Aber, ja, er kann uns ehrlich mitteilen: Ich habe daran kein Interesse.

Frage: Wie viele Achtzehnjährige erhalten dem Brief? Wie viele wollen Sie dafür gewinnen?
Was schätzen Sie, was Musterung und Unterbringung kosten? Sie müssen da natürlich ein bisschen planen. Vielleicht können Sie darüber noch ein bisschen mehr erzählen.

Müller: Ich beginne einmal mit den Kosten. Die Kosten liegen aktuell nur als Schätzung vor. Die Planungen hinsichtlich der Finanzierung des neuen Wehrdienstes werden jetzt quasi als Teil des Gesetzgebungsverfahrens finalisiert. Dazu kann ich jetzt noch keine aktuellen Schätzungen abgeben.
Wir haben für 2025 noch keinen Haushaltstitel einbringen können, weil wir ja zur Anmeldung des Haushalts noch keine gesetzliche Grundlage hatten. Wir wollen damit ja spätestens im dritten Quartal 2025 starten. In der Truppe werden wir das noch aus den vorhandenen Kapazitäten des jetzigen Freiwilligen Wehrdienstes und durch ein paar Umstrukturierungen stemmen können.
Zur Frage der Angeschriebenen: Wir schreiben grundsätzlich alle achtzehnjährigen Männer mit dem Stichtag 31. Dezember 2006 an. Dann, für Frühjahr 2025 geplant, natürlich nach erfolgreicher parlamentarischer Befassung und Inkrafttreten des Gesetzes, werden nach meinem Kenntnisstand ca. 400.000 achtzehnjährige Männer pro Jahrgang davon betroffen sein. Natürlich bieten wir auch Frauen und anderen Geschlechtern an, sich an dem Fragebogen zu beteiligen. Die bekommen dann aber kein Anschreiben, sondern bekommen die Möglichkeit, sich dann quasi über einen QR-Code auch an den Fragemöglichkeiten zu beteiligen.

Zusatzfrage: Wie viele von diesen 400 000 Männern ‑ Frauen kommen vielleicht noch hinzu ‑ möchten Sie für die Bundeswehr gewinnen?

Müller: Aktuell ist das Ziel, dass wir im Jahr 2025 mit 5000 beginnen, zusätzlich zu den 10 000, die wir jetzt schon am Freiwilligen Wehrdienst haben, also insgesamt 15 000 im Jahr 2025. Das liegt daran, dass wir, wie ich schon angesprochen habe, natürlich erst einmal aus den bestehenden Kapazitäten schöpfen müssen, und natürlich daran, dass wir die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte nicht beeinträchtigen wollen. Den Ausbilder, der aus dem Panzer aussteigen muss, um Ausbildungen durchzuführen, verlieren wir einfach quasi im Panzer. Deswegen müssen wir hier also eine Balance zwischen verfügbaren Kapazitäten und dem, was wir wollen, schaffen. Diese Zahl 15 000 werden wir dann in den Folgejahren steigern, damit das, von uns als Defizit angenommen wird, bis zum Ende des Jahrzehnts aufgefüllt ist und wir diese handlungsfähige und personell aufgestellte Reserve haben.
Ich habe noch einen Nachtrag: Ich erhalte gerade die Meldung, dass es um ungefähr 350 000 Männer geht. Mit 50.000 lag ich also grob daneben, Entschuldigung. Es geht um ca. 350.000 Männer. Der Gesamtjahrgang betrifft ca. 650.000 Achtzehnjährige eines Jahrgangs. Entschuldigung.

*Die Sicherungskopie des Gesetzentwurfs:
entwurf-modernisierung-wehrersatzrechtlicher-vorschriften-20231013

(Foto: Pistorius am 28. Oktober 2024 beim Cyber Innovation Hub der Bundeswehr – Felix Zahn/photothek.de)