Dokumentation: Keine Auflagen für ukrainischen Einsatz von Waffen aus Deutschland
Die Ukraine kann aus Sicht der Bundesregierung die aus Deutschland gelieferten Waffensysteme ohne Auflagen einsetzen, so lange dabei das Völkerrecht beachtet wird – offensichtlich auch für den aktuellen Vorstoß auf russisches Territorium. Das machte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin deutlich. Im Zuge des ukrainischen Vorstoßes hatte es Bilder vom Einsatz von Marder-Schützenpanzern und Lkw aus deutscher Produktion gegeben.
Zur Dokumentation die Aussagen in der Bundespressekonferenz am (heutigen) Montag – nachdem der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner zunächst klare Angaben vermied, kamen die dann vom stellvertretenden Sprecher des Verteidigungsministeriums, Oberst Arne Collatz:
Frage: Herr Büchner, es geht um das Thema Ukraine. Wie bewertet die Bundesregierung die Rechtmäßigkeit, aber auch das Eskalationspotenzial des ukrainischen Vorstoßes auf russisches Staatsgebiet?
Büchner: Wie wir alle mitbekommen und wie Sie auch wissen, ist die militärische Lage vor Ort noch sehr im Fluss. Es gibt widersprüchliche und manchmal auch absichtlich verfälschte Informationen über die offenbar sehr geheim und ohne Rückkopplung vorbereitete Operation. Alles sieht bisher nach einem räumlich begrenzten Einsatz aus. Es wäre deswegen unklug, sich jetzt auf dieser Grundlage öffentlich zu äußern und vom grünen Tisch aus die aktuelle militärische Entwicklung zu kommentieren oder zu bewerten. Das gilt auch für den Einsatz spezifischer Waffensysteme. All dies wird in einen intensiven Austausch einfließen, den wir mit unseren engsten Partnern und der Regierung in Kyjiw haben.
Zusatzfrage: Sie haben also keine Information darüber, ob deutsche Waffen, zum Beispiel Marder-Panzer, eingesetzt worden sind? Inwiefern wäre die Ukraine darin frei, deutsche Waffensysteme auf russischem Staatsgebiet einzusetzen?
Büchner: Ich habe mich jetzt zu dem Thema ganz bewusst so zurückhaltend eingelassen, wie ich es gerade getan habe.
Frage: Herr Büchner, hat die Ukraine in der letzten Zeit die Bundesregierung gefragt, ob sie deutsche Waffen außerhalb der unmittelbaren Grenzregion ‑ wie es ja im Mai hieß ‑ bei Charkiw einsetzen darf?
Büchner: Ich habe Ihnen ja gerade vorgetragen, dass es bei dieser Operation offenbar um eine sehr geheim und ohne Rückkopplung vorbereitete Operation ging. Darüber hinaus möchte ich hier über detaillierte Abstimmungen und Gespräche nichts sagen.
Zusatzfrage: Was heißt „Rückkopplung“?
Büchner: Das heißt Rückkopplung.
Zusatzfrage: Das heißt, die Ukraine hat die Bundesregierung gar nicht darüber informiert, was sie vorhat?
Büchner: Das heißt das, was ich gerade vorgetragen habe. Diese Operation ist offenbar geheim und ohne Rückkopplung vorbereitet worden.
Frage: Herr Büchner, wie kommentieren Sie die Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der unter anderem gesagt hat, dieser Vorstoß sei geeignet, um Druck auf den Aggressor aufzubauen? Ist solch ein Vorstoß auch aus Sicht der Bundesregierung die richtige Maßnahme zu diesem Zeitpunkt?
Büchner: Auch das möchte ich jetzt nicht kommentieren, sondern einfach noch einmal darauf verweisen, dass wir einen intensiven Austausch mit unseren internationalen Partnern haben, vor allem natürlich mit den USA und unseren engsten Partnern in Europa, und auch einen Austausch mit der Regierung in Kyjiw.
Frage: Herr Büchner, ich versuche es noch einmal: Inwieweit ist dieser Vorstoß der Ukraine aus Sicht der Bundesregierung vom Völkerrecht gedeckt?
Büchner: Es tut mir leid, aber mehr als das, was ich zu diesem Thema heute hier gesagt habe, kann ich nicht beitragen.
Frage: An Herrn Collatz: Ich weiß, dass Sie mir die Frage, wie Sie im Verteidigungsministerium diese Operation bewerten, wahrscheinlich nicht beantworten werden, aber ist das generell ein Thema im Verteidigungsministerium?
Collatz: Unser Austausch mit unseren ukrainischen Freunden ist eng und vertrauensvoll, und das gilt für alle Unterstützungsmaßnahmen, die wir geleistet haben und noch leisten werden. Außer Frage steht für uns die Frage nach der Rechtmäßigkeit; die ist hinlänglich auch durch viele Rechtsexperten beantwortet. Das Völkerrecht sieht das so vor, dass sich ein verteidigender Staat auch auf dem Gebiet des Angreifers wehren darf. Das ist auch aus unserer Sicht eindeutig, und es gibt keine darüber hinausgehenden Auflagen für die Nutzung von Waffen ‑ zumindest was Abgaben aus dem Bestand der Bundeswehr angeht ‑, die dort erteilt worden sind oder die zu beachten wären. Da gibt es keinerlei Hindernisse und da ist die Ukraine frei in der Wahl ihrer Möglichkeiten. Das Einzige, worauf wir achten, ist, dass die Ukraine zusagt, dass sie Waffen nur im Rahmen des Völkerrechts einsetzt, und das ist gegeben.
Zusatzfrage: Herr Collatz, heißt das, dass deutsche Waffen auch dann eingesetzt werden dürfen, wenn es nicht um ein Aufmarschgebiet an der Grenze zu der Ukraine auf russischen Territorien geht, sondern um einen Vorstoß ‑ ich fantasiere einmal ‑ in Richtung Moskau?
Collatz: Das sind ukrainische Waffen.
Frage: Nur eine kurze Nachfrage, Herr Collatz: Deutschland hat unter anderem 58 Leopardpanzer, glaube ich, in die Ukraine geliefert. Könnten diese Panzer seitens der Ukraine eingesetzt werden, um auf russisches Gebiet vorzudringen?
Collatz: Es gibt verschiedenste Lieferungen von Leopardpanzern, wie Sie es nennen, also von Panzern vom Typ Leopard 1 und 2 in unterschiedlichsten Konfigurationen. Ich glaube, die Zahl ist auch nicht ganz korrekt. Schauen Sie bitte in die aktuelle Liste hinein.
Ansonsten gilt das, was ich eben gesagt habe: Wenn Waffen aus Deutschland der Ukraine zur Verfügung gestellt werden, dann sichert uns die Ukraine zu, diese im Rahmen des Völkerrechts einzusetzen, und weitere Auflagen gibt es nicht.
Eine politische Frage ist immer noch damit verbunden, weitreichende Waffen einzusetzen, aber das ist ja hier außer Frage.
@Observer22
Zwischen „keine“ und „nur noch bewilligte“ ist doch ein Unterschied. Im Bundeshaushalt für 2025 fehlen 12 Mrd. EUR und der Plafond für die Militärhilfe für die UKR (4 Mrd. EUR) wird wohl durch Forderungen vom BMVg jetzt bereits überschritten. Unabhängig davon gibt es auch noch die Ustg durch die EU.
Daß dies das BMF nicht durchgehen lassen kann ist klar, andere Ministerien würden sonst nachziehen. Daß die Ustg der UKR im Osten unserer Republik nicht allzu populär ist und dort demnächst gewählt wird ist ist ja ebenfalls ein Fakt.
Wenn jeder UKR Flüchtling z.B. 100 EUR / Monat als Solidarbeitrag seiner Regierung spendete kämen dabei immerhin knapp EUR 1,4 Mrd/Jahr heraus.
@Observer22
„Keine Auflagen, aber auch keine Unterstützung mehr?“
Am 1. September ist Wahl in Sachsen. Nirgendwo sonst gibt es so viele Anhänger Putins. Deshalb tauchen sowohl Merz als auch Scholz temporär ab.
@Hans-Joachim Zierke
Zitat:“Weil das aber nicht für alle gilt, ist Optimist/Pessimist keine wirklich sinnvolle analytische Kategorie in dieser Anwendung.“
Das finde ich auch. Aber mich wundert schon wie Sie ‚Optimist‘ und ‚Pessimist‘ definieren. Zu meiner Zeit hieß es:
„Die Optimisten lernen Englisch, die Pessimisten lernen Russisch.“ ;-)
Ich denke auch, dass sie das Zitat von Mike Fredenburg nicht richtig gelesen haben. Das Schlüsselwort darin lautet: „….das sich in einem existenziellen Überlebenskampf WÄHNT.“
Das dies alktuell rein objektiv Unfug ist, bedarf keiner Hervorhebung. Ich stimme mit Ihnen überein, dass die russische Regierung keine Einheiten aus Kaliningrad abziehen würde, wenn sie von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff durch NATO Truppen überzeugt wäre. Die Bereitschaft zu so einem Schritt ist in den Bevölkerungen der meisten NATO Staaten (sieht man von den baltischen Staaten und Polen einmal ab) nicht vorhanden.
Mittel- und Langfristig sieht die Sache aber vielleicht anders aus. Noch ein paar Jahre der Kriegsbereitschaftspropaganda und dann…
Entscheident für das Verhalten von Menschen ist die Wahrnehmung einer Situation. Die russische Regierung hat seit 2008 keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich durch die Expansion der NATO bedroht fühlt. Im Westen wurden diese Bedenken beiseite gewischt. Man hat uns weis gemacht, dass die Sicherheit in Europa nur durch die Expansion der NATO gewährleistet wird.
Nun haben wir als direkte Konsequenz dieser Fehlbeurteilung (oder sollte ich es Ignoranz nennen) wieder einen Krieg in Europa und die Sicherheitslage war noch nie so prekär wie jetzt.
Der Hoffnungsschimmer für den Optimisten, besteht aktuell darin, dass keine Seite gewillt ist, Atomwaffen einzusetzen. Jedenfalls nicht, solange die Lage nicht für eine von beiden Seiten existenzbedrohend wird.
Die Aufrüstung und Modernisierung der russischen Armee die, angesichts der Materialverluste in der Ukraine, noch viele Jahre dauern wird, deutet für mich darauf hin, dass die russische Föderation für die Zukunft eine militärische Auseinandersetzung mit der NATO nicht ausschließt. Ich bin, angesichts des auch weiterhin fortgesetzt ignoranten Verhaltens westlicher Regierungen, auch sehr pessimistisch was die Chancen eines dauerhaften Friedens in Europa anbetrifft.
[Nichts gegen eine Analyse, nichts gegen Meinung – und beides bitte sauber trennen. Ihre Aussage, die Balten und Polen seien bereits zu einem Angriff auf Russland bereit (!), die anderen NATO-Länder vielleicht in einiger Zeit, ist sozusagen das russische Narrativ, dass die NATO eben doch den Angriff auf Russland plant. Sagen Sie doch, dass das Ihre Haltung ist, und tun Sie an der Stelle nicht so als wäre es Analyse. T.W.]
@Schlammstapfer:
Sehe ich anders. Ich glaube keine Sekunde, dass auch nur ein einziger Mensch in den russischen Regierungen seit 2008 sich oder sein Land von der NATO in irgendeiner Art, Weise oder Form wirklich „bedroht“ gefühlt hat. Worin man sich aber empfindlich eingeschränkt gefühlt haben dürfte, ist die Möglichkeit, im Raum jenseits der eigenen Staatsgrenzen andere souveräne Staaten zu gängeln und in bester Großmachtsmanier herumzuschubsen. Dort, wo die betreffenden Länder nicht Föderationssubjekte sind, wie in Tschetschenien, konnte man immerhin nicht „interne Angelegenheit“ sagen, sondern musste wenigstens pro forma den Anschein wahren, dass es sich um eigenständige Länder handelt.
Speziell dieser dünne Firnis ist ja nun von der russischen Außenpolitik inzwischen längst ab. Der Ukraine wird ja nach offizieller russischer Lesart sogar ihre Berechtigung als eigenständiger Staat, mit einem eigenen Volk, einer eigenen Kultur, etc. völlig abgesprochen. Die in solchen Ländern lebenden russischstämmigen Ukrainer werden schlicht als „Russen“ gewertet und „heimgeholt“.
Da liegt der Hase im Argen. Wenn sich ein Aggressor dadurch „bedroht“ fühlt, dass er möglicherweise andere Länder nicht mehr bedrohen und Bürgerkrieg – oder gar Krieg – anzetteln kann, dann spreche ich dieser Gefühlslage tatsächlich jede legitime Bedeutung ab. Das ist die Reaktion eines mit einem narzisstischen Staatsverständnis versehenen Regierung, die auf jede Form der realen oder auch nur empfundenen Kränkung pauschal mit Existenzängsten reagiert.
Den Schulhofschläger, der andere Kinder präventiv verprügelt, würden Sie ja auch nicht mit dieser Argumentation in Schutz nehmen, er habe ja schon früher gesagt, dass er sich „bedroht“ fühle, wenn andere Kinder lieber nur zu zweit oder zu dritt mit ihm reden wollen. Oder?
M.E. geht es im Verhältnis mit Russland ausschließlich darum. Wirtschaftlich hatte man ja schon erhebliche Verflechtungen zwischen Ost und West realisiert. Es gab für Russland eigentlich mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Dennoch klammert man sich an die verblasste Größe und Bedeutung der Sowjetunion und des Zarenreiches, weil man sich mit einem Platz in der zweiten Liga nicht abfinden mag.
@Metallkopf
Zitat:“Ich glaube keine Sekunde, dass auch nur ein einziger Mensch in den russischen Regierungen seit 2008 sich oder sein Land von der NATO in irgendeiner Art, Weise oder Form wirklich „bedroht“ gefühlt hat.“
Über ‚Glauben‘ kann man schlecht streiten. Ich bevorzuge Tatsachen. Hinsichtlich der Ensthaftigkeit der Haltung der Russen gibt es unter anderem die Einschätzung des damaligen Botschafters der USA in Russland, der gegenüber seiner Regierung keinen Zweifel gelassen hat, dass nicht nur die russische Regierung sondern die Mehrheit russischer Politiker, parteiübergreifend, in einer NATO Migliedschaften für die Ukraine und Georgien eine Bedrohung für ihre nationale Sicherheit gesehen haben.
Im Kaukasuskrieg, im August 2008, hat sich auch gezeigt, dass die russische Regierung durchaus bereit ist Gewalt einzusetzen, wenn sie ihre Sicherheitsinteressen bedroht sieht. (Hinweis für T.W.: Persönliche Meinung)
Von diesem Zeitpunkt an war für mich klar, dass die russische Regierung gegenüber ihren Nachbarn auch in Zukunft Gewalt einsetzen würde, wenn sie ihre nationalen Interessen bedroht sieht.
Zitat:“Worin man sich aber empfindlich eingeschränkt gefühlt haben dürfte, ist die Möglichkeit, im Raum jenseits der eigenen Staatsgrenzen andere souveräne Staaten zu gängeln und in bester Großmachtsmanier herumzuschubsen.“
Da haben Sie zweifellos Recht. Aber warum sollte eine „Großmacht“, wie Russland (zumindest sehen die Russen das so), sich einschränken lassen, wenn z.B. eine andere Großmacht, wie die Vereinigten Staaten von Amerika, sich nicht bemüßigt fühlt, sich in ihrer „Großmachtsmanier“ einzuschränken? Die USA tun bzw. taten, Stichwort: „Monroe-Doktrin“, in Staaten wie Venezuela, Grenada, Nicaragua u.s.w. (was so alles zu ihrem „Vorgarten“ zählt) ja nichts anderes als dort „andere souveräne Staaten zu gängeln“ und herumzuschubsen. Und die auch kein Problem damit haben, ihnen unpassende Regierungen zu beseitigen (Regimechange).
Wenn die USA das in bester „Großmachtsmanier“ dürfen, ohne dass es jemand wagt das zu kritisieren, warum sollten die Russen das nicht dürfen? So oder so ähnlich dürfte die Frage gelautet haben, die man sich dazu im Kreml gestellt hat.
Erst recht, nachdem auch eine Regionalmacht, wie die Türkei, ungehindert und völkerechtswidrig seinen Nachbarn Syrien überfallen und dort Territorien besetzen durfte, ohne das dem laut von Regierungen, die sich angeblich dem Völkerrecht und einer ‚regelbasierten Ordnung‘ verpflichtet fühlen, widersprochen oder gar angemessen sanktioniert worden wäre.
(Wer in in meiner Darstellung Ironie findet, darf sie behalten.)
Ich halte nichts von „Großmachtsmanier“. „Großmachtsmanier“ steht in jeder Ausprägung in klarem Widerspruch zum Völkerrecht, zu dessen Achtung sich alle Signarstaaten der Charta der UN verbindlich verpflichtet haben.
Die einzige Institution, die Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen gegenüber einem Mitgliedsstaat verhängen dürfen, das sind die Vereinten Nationen. Auch bei einer Handlungsunfähigkeit der UN gelten die Beschränkungen des Völkerrechts für die Mitglieder uneingeschränkt. Kein Staat und kein Staatenbund hat das Recht, sich Kompetenzen (Stichwort: Weltpolizist) anzumaßen, die einzig den UN zusteht.
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es nur ein Recht geben kann und das dies auch für alle zu gelten hat.
Leider ist das nicht die Welt in der wir leben.
De facto, haben wir eine ‚regelbasierte Ordnung‘, in der die Regierungen der vermeintlich stärkeren Staaten meinen, den vermeintlich schwächeren Staaten die Einhaltung ihrer Regeln aufzwingen zu können. Wobei von wirtschaftlichem Druck (Sanktionen) bis zur militärischen Intervention eben alles zur Anwendung kommt. Das hat mit ‚Regeln‘ nichts zu tun. Das ist Willkür und das praktizierte Recht das Stärkeren. Also genau das, was man mit der Gründung der Vereinten Nationen beenden wollte. Wer die Charta der Vereinten Nationen als verbindlich betrachtet, der muss dieses Fehlverhalten, egal von welcher Seite es kommt, verurteilen. Ich tue das. Sie auch?
@Schlammstapfer:
Sie ziehen in einigen Punkten Schlüsse, die eben nicht schlüssig sind. Nur, weil die USA etwas früher falsch gemacht haben, macht es für Russland (oder für China oder die Türkei) ja nicht gerade richtig.
Und es besteht immer noch ein grundlegender Unterschied zwischen einer „Bedrohung der nationalen Sicherheit und Integrität“ gegenüber einer „Gefährdung nationaler Interessen“.
Wie schrieben Sie noch gleich: „Über ‚Glauben‘ kann man schlecht streiten. Ich bevorzuge Tatsachen.“ Geschenkt. Das sollten Sie nämlich dann auch den russischen Politikern sagen, die parteiübergreifend in einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine irgendwelche Gespenster gesehen haben. Das sagt eigentlich mehr über die Mentalität dieser Leute aus, als über die NATO-Mitgliedschaft der betreffenden Länder.
Nochmal: Wir leben nicht in einer Welt, in der Russland bestimmen darf, wie die Außen- und Sicherheitspolitik benachbarter Länder aussieht. Im Übrigen dürfen das die USA ebenfalls nicht. Und Ihre vielleicht gar nicht unzutreffende Schlussfolgerung: „Von diesem Zeitpunkt an war für mich klar, dass die russische Regierung gegenüber ihren Nachbarn auch in Zukunft Gewalt einsetzen würde, wenn sie ihre nationalen Interessen bedroht sieht.“ macht dieses Verhalten ja gerade nicht legitim oder gar völkerrechtlich unbedenklich. Dass Russland Interessen hat und diese extrem rücksichtslos verfolgt, ist ja gerade der Grund, weshalb es in Europa heute wieder Krieg gibt.
Wenn sich Russen von der NATO tatsächlich bedroht fühlen sollten, dann liegen die Gründe dafür mehr in der jahrzehnte andauernden Indoktrination begründet, als in einer tatsächlichen Bedrohung durch die NATO. Denn alle Instrumente der europäischen Friedensordnung nach dem kalten Krieg, Partnership for Peace, das Budapester Memorandum, die NATO-Russland-Grundakte und der daraus resultierende NATO-Russland-Rat, die Schlussakte von Helsinki und die OSZE. Nichts von alledem deutet darauf hin, dass die NATO oder der Westen Russland an die Leibwäsche wollten. Im Gegenteil. Man hat immer den Ausgleich gesucht und das am Ende von den Russen anscheinend nur als Schwäche ausgelegt bekommen. Wer nicht seine Nachbarn durch die Manege prügelt und kujoniert, ist offenbar als Nation für einen russischen Politiker nicht respektabel.
Dafür wollen aber die Nachbarn Russlands scheinbar doch liebend gern in den Genuß einer Allianz kommen, die ihren Interessen jedenfalls deutlich besser Rechnung trägt, als jede Assoziation mit Russland.
I wonder why?!
@T.W.
Meiner Meinungsäusserung, das Balten und Polen zu einem Angriff auf Polen bereit seien, hätte ich natürlich ein ‚vielleicht‘ voranstellen sollen. Aus Reportagen und Berichten von Äusserungen der jeweiligen Regierungen (im Fall Polens der abgewählten Regierung), habe ich entnommen, das zumindest die Bereitschaft in diesen Ländern am höchsten ist. Das ist auch im Zusammnhang mit der Debatte zu verstehen, die Macron vor ein paar Monaten angestoßen hatte. Obwohl gerade die Bereitschaft der französischen Bevölkerung zu so einem Schritt praktisch nicht vorhanden ist.
Ist die Vorstellung eines Angriffs westlicher Staaten (nicht unbedingt als NATO) tatsächlich der „russische Narrativ“?
Überlegen Sie selbst doch mal, an wie vielen völkerrechtswidrigen Einmischungen in die Angelegenheiten anderer Staaten (bis hin zu Kriegen) waren NATO-Mitglieder, allen voran die USA, seit Gründung der NATO, zumindest beteiligt? Wie oft erfolgte die Einmischung bzw. Beteiligung unter vorheriger Verbreitung von Fake-News als Rechtfertigung für de facto völkerrechtswidriges Handeln? Unterscheiden sich „einsatzbereite Massenvernichtungswaffen“ und „Antiterroroperationen in Nordsyrien“ in ihrer Glaubwürdigkeit von „der Entwaffnung eines faschistischen Regimes“?
Sie wissen selbst, dass es in den USA und vielleicht sogar bei uns, Politiker und Militärs gibt, die, so deren dokumentierte Meinungsäusserungen, einen nuklearen Schlagabtausch mit Russland für begrenzbar und sogar für gewinnbar halten.
Meine persönliche Überzeugung dazu ist, dass jeder, der einen Atomkrieg für begrenzbar oder gar gewinnbar hält, als gemeingefährlicher Irrer in die Klapse gehört.
Ich bin davon überzeugt, dass die NATO als Bündnis keinen Angriff auf Russland plant. Genauso, wie ich davon überzeugt bin, dass die russische Regierung keinen Angriff auf NATO Mitgliedsstaaten plant. Und das sich das auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ändern wird. Aber leider gibt es keine letzten Gewissheiten. Wahrscheinlichkeiten sind niemals 0 oder 1. Politiker, die einen Atomkrieg für gewinnbar halten, gibt es sicher auch auf der russischen Seite. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich Szenarien vorstellen zu können, die in einem Atomkrieg enden. Hoffen wir einfach, dass es dazu nicht kommt.
[Wenn Sie schon die Frage stellen
Ist die Vorstellung eines Angriffs westlicher Staaten (nicht unbedingt als NATO) tatsächlich der „russische Narrativ“?
dann ist die Antwort schon: Ja.
T.W.]
@ Schlammstapfer
> Die russische Regierung hat seit 2008 keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich durch die Expansion der NATO bedroht fühlt.
Das Bedrohungsgefühl hat aber nichts mit der NATO als militärisches Bündnis zu tun, sondern mit dem, was sie den Bürgern ihrer Mitgliedsstaaten zu garantieren versucht: individuelle Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Es ist die Furcht vor der „Farbenrevolution“ in Russland*. Die als Verschwörungstheorie manifestierte kognitive Dissonanz des Kreml und der Sozialisten, dass nicht sein kann, was im autoritären System nicht sein darf: Der dem Menschen innewohnende Drang nach individueller Freiheit.
Nun ist er aber noch da, am 908. Tag der SMO in Ukraine, die sich zwischenzeitlich zum „state of federal emergency“ in Kursk und Belgorod ausgeweitet hat.
Was also tun?
Russlands Machtapparat muss aus der Sunk-Cost-Fallacy ausbrechen und eine andere Strategie finden, um der Furcht vor der Freiheit entgegenzutreten. Er muss den Krieg beenden, indem er den Ukrainern die gewählte Freiheit gewährt. Es ist alternativlos, denn die Unterwerfung von Ukraine wird nicht mehr gelingen, niemals dauerhaft. Regime Change funktioniert eben nicht (siehe die von Ihnen genannten Beispiele).
*Siehe hierzu auch https://www.journalofdemocracy.org/articles/what-putin-fears-most/
@Metallkopf
Danke für die ausführliche Antwort.
Zitat:“Nur, weil die USA etwas früher falsch gemacht haben, macht es für Russland (oder für China oder die Türkei) ja nicht gerade richtig.“
Unwidersprochen. Das Problem liegt aber nicht darin, das Staaten, wie die USA, ‚früher‘ etwas falsch gemacht haben. Das Problem liegt darin, dass diese Staaten damit folgenlos davongekommen sind. Warum gab es keine scharfen internationalen Reaktionen als China Tibet annektierte? Oder warum konnte die Türkei praktisch widerstandslos den Norden von Zypern besetzen, dort eine, bis heute zwar völkerrechtlich nicht anerkannte, aber trotzdem „unabhängige“ Republik installierten und diese von allen nicht-Türken ethnisch säuberten?
Schlimm genug, dass Verletzungen des Völkerrechts für die Täter folgenlos blieben, aber durch diese Handlungen wurden Präzedenzfälle geschaffen. Regierungen anderer Staaten orientieren sich an dem „was geht“ fühlen sich ermutigt, die Grenzen des Möglichen auszutesten.
Zitat:“Das sollten Sie nämlich dann auch den russischen Politikern sagen, die parteiübergreifend in einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine irgendwelche Gespenster gesehen haben.“
Haben sie das? Welche „Gespenster“ haben die USA wohl in Grenada gesehen, als sie diesen kleinen und vergleichsweise unbedeutenden Inselstaat überfallen haben und dort einen Regimechange erzwangen?
Wahr ist was man als wahr versteht. Eine Gefahr muss nicht real sein, um als Gefahr empfunden zu werden. Von Regierungen wird erwartet, dass sie mögliche Entwicklungen und daraus resultierende Bedrohungen beurteilen und sich auf die Möglichkeit des Eintreffens vorbereiten. Schließlich haben wir unsere Bundeswehr weil wir die Möglichkeit, uns eines Tages gegen einen Angreifer von aussen wehren zu müssen, nicht ausschließen können. Nicht wahr.
Ich denke (persönliche Meinung), dass es für die russische (oder auch jede andere) Regierung keine Rolle spielt, was sie gesagt bekommt. Vor allem wenn die „Sagenden“ durch ihr vorheriges Verhalten als wenig vertrauenswürdig eingestuft werden.
Zitat:“Wir leben nicht in einer Welt, in der Russland bestimmen darf, wie die Außen- und Sicherheitspolitik benachbarter Länder aussieht.“
Grundsätzlich haben Sie Recht. Staaten, wie Russland, dürfen das natürlich nicht und in einer idealen Welt würden sie es auch nicht tun. In unserer realen Welt aber ist „dürfen“ offenbar kein Kriterium. Regierungen handeln so wie sie wollen, wenn sie einigermaßen sicher sein können, damit davon zu kommen.
Natürlich ist dieses Verhalten weder legitim noch völkerrechtlich. Aber es ist eben möglich. Deshalb ist jeder geschaffene Präzedenzfall gefährlich.
Sie haben korrekt die Instrumente aufgelistet, mit denen der Aufbau einer stabilen Friedensordnung für Europa angegangen wurden. Die Schlussakte von Helsinki (1975) und die Bildung der KSZE war ein Meilenstein. Die Partnership for Peace und das Budapester Memorandum (1994), die NATO-Russland-Grundakte (1997) und der daraus resultierende NATO-Russland-Rat (2002) waren ebenfalls bedeutende Fortschritte. Würde man nur diese betrachten, dann würde tatsächlich nichts darauf hindeuten, „dass die NATO oder der Westen Russland an die Leibwäsche wollten“.
Das war eine schöne und hoffnungsvolle Zeit. Leider blieb es nicht dabei. Es juckt mir wirklich in den Fingern, aber alle die Handlungen von beiden Seiten aufzulisten, die nach 1999 anfingen die Beziehungen zu vergiften würde hier zu viel Raum einnehmen.
@Schlammstapfer
„Von diesem Zeitpunkt an war für mich klar, dass die russische Regierung gegenüber ihren Nachbarn auch in Zukunft Gewalt einsetzen würde, wenn sie ihre nationalen Interessen bedroht sieht.“
Zu diesen nationalen Interessen gehört leider auch der russische Irredentismus. Weil „Irredentismus“ ein etwas älteres, nicht mehr gebräuchliches Wort ist: Eine Erklärung.
Nach der nationalen Einigung Italiens gab es Gebiete, die noch der Befreiung harrten: Nizza. Das Tessin. Dalmatien. Korsika. Malta. „Terra Irredenta“.
Eine solche Vorstellungswelt war vor 100 bis 150 Jahren völlig normal. Natürlich gehören Elsaß und Lothringen zu Deutschland. Und Südtirol zu Österreich. Die dänische Grenze verläuft auch weiter südlich (was historisch unbestrittenermaßen der Fall war), Ungarn hat da auch noch ein paar Ansprüche zu stellen an Rumänien, Vyborg ist die zweitwichtigste Stadt Finnlands, nördlich von Irland sehen wir die „six counties“ (jede andere Terminologie ist des Teufels), etc. pp.
Das galt nicht als rechtsextrem, oder nur ein bißchen. Eher normal.
Der riesige kulturelle Fortschritt, der mit der Gründung der EWG (heute EU) einherging, war der Wille, diesen ganzen Scheiß zu begraben. Die Staaten der Union hatten keine Gebietsansprüche gegeneinander. Und auch an anderen Grenzen wurde, so gut es ging, aufgeräumt. Mit gewissen Dehnungen und Verwerfungen, Ausnahmen für die BRD bezüglich der DDR, windelweiche Formulierungen zu Algerien, aber insgesamt war es eine europäische Revolution des Denkens und der Staatlichkeit: Irredentismus wurde pfuibäh.
Wir bemerken das heute nicht mehr, weil es zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Und wir beeumeln uns über Chinesen und Inder, die sich gegenseitig totschlagen für Gebiete, die niemals für etwas anderes getaugt haben als den Durchzug von Karawanen.
Die Wahrheit ist aber: Auch Ihr Urgroßvater war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht besser. Oder meiner. Wir haben einen Kulturbruch erlebt, oder besser: Die Generation unserer Eltern hat einen Kulturbruch herbeigeführt, der uns ein weit besseres Leben sichert als den Generationen vorher.
Es gibt nicht viel, was ich unseren Altnazis der Nachkriegszeit positiv anrechne. Aber dies schon: Auch sie haben sich zumindest beträchtlichenteils daran beteiligt.
Und jetzt kommen wir zum Problem: Russen leben immer noch in 1955. Sie haben ein selbstverständliches Recht auf Irredentismus. Wenn Ukrainer Russisch sprechen, muß man sie heim in’s Reich holen. (Also so wie wir die Belgier aus der Gegend um St. Vith, oder die Italiener die Schweizer aus dem Tessin.) Wenn man akzeptiert, daß dieser Irrendentismus (der die Ukrainer oder Esten oder Letten nicht nach ihrer eigenen Auffassung zu fragen verpflichtet ist) zu den „nationalen Interessen“ Rußlands zählt, dann sind die nationalen Interessen Rußlands nicht nur von der NATO, sondern vor allem auch von der EU fundamental bedroht. Denn für die Europäische Union ist der Verzicht auf diese Vorstellungswelt ein Grundpfeiler ihrer Existenz. Was nebenbei erklärt, warum die EU-Reaktion weitaus harscher ausfiel, als Vladimir Putin sich das hatte vorstellen können.
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Hans-Joachim Zierke sagt:
14.08.2024 um 7:08 Uhr
Folgendes ist reine Spekulation:
Es wird gerade ein doppeltes Faustpfand erobert. Für (viel) spätere Verhandlungen mit Rußland, und gleichzeitig eines für Verhandlungen mit Deutschland, USA, etc.. „Wenn Ihr uns das Material gebt, um die Krim zurückzuholen, erobern wir natürlich viel lieber die Krim zurück.“ „Wenn wir die Su-34 ausschalten dürfen, müssen wir nicht auf diesem Wege die östliche Front entlasten.“
Sagt natürlich niemand öffentlich.
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Inzwischen hat Selenskyj öffentlich bestätigt, daß die Operation auch eine Message an die Verbündeten zum Thema „rote Linien“ ist.
@Schlammstapfer:
Es bleibt dabei: Der Hinweis auf etwaiges Fehlverhalten anderer Nationen, seien sie mit irgendwas „davongekommen“ oder nicht, verfängt nicht. „Tu quoque“ und Whataboutism sind nun einmal kein gültiges Argument. Es gibt auch keine Gleichheit im (Völker-)Unrecht.
Immer wieder von Grenada, der Schweinebucht, Tibet oder sonstwas anzufangen, ist ermüdend und bringt Ihren Standpunkt nicht einen Deut mehr an Überzeugungskraft.