Erste Zwischenergebnisse der „Bestandsaufnahme Bundeswehr“: Mehr Dienstposten für Unterstützer, mehr Reservistenstellen, Arbeitszeitordnung im Visier (m. Korrektur)

Die Bundeswehr soll für die Umstrukturierung von der Einsatzarmee zu Streitkräften mit höherer Einsatzbereitschaft für die Landes- und Bündnisverteidigung mehr Soldatinnen und Soldaten für die Aufgaben bekommen, die die Kampftruppe unterstützen: Logistiker und ABC-Abwehrkräfte, aber auch die Sanität werden aufgestockt. Außerdem werden mehr Stellen für Reservisten geschaffen; die nach wie vor umstrittene Arbeitszeitverordnung soll angepasst werden.

Anfang dieses Jahres hatte die kurz zuvor ins Amt gekommene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht eine grundlegende Bestandsaufnahme von Bundeswehrstruktur und Einsatzbereitschaft angeordnet und damit die von ihrer Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer geplanten Eckpunkte für einen Umbau der Truppe vorerst gestoppt. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar musste mittendrin ein wenig nachjustiert werden. Nicht wie geplant Ende Mai, sondern am (heutigen) Freitag, Anfang Juli, legte das Ministerium die ersten Zwischenergebnisse dieser Bestandsaufnahme vor:

Die Leitung des BMVg beauftragte den Stab Organisation und Revision und das dem Generalinspekteur der Bundeswehr zugeordnete Sekretariat LV/BV [Landes- und Bündnisverteidigung] am 1. März 2022 damit, eben solche „dringlichen Handlungsbedarfe“ in einer ersten Phase der Bestandsaufnahme zur Entscheidungsreife zu führen.
Im Ergebnis wurden insgesamt über 100 Vorschläge im Ministerium und in der Bundeswehr erarbeitet, die ein breites Spektrum von Maßnahmen über alle Planungskategorien hinweg abdecken. Vorgeschlagene finanzielle Maßnahmen zum Herbeiführen von Veränderungen, wie z.B. Beschaffungs- und Entwicklungsvorhaben, wurden direkt an die zuständigen Fachabteilungen gegeben, um dort unmittelbar im Rahmen des „Sondervermögens Bundeswehr“ (100 Mrd. EUR) oder der Aufstellung des Verteidigungshaushalts Berücksichtigung zu finden. Weitere Vorschläge, die eine längerfristige Perspektive verlangen, wurden der späteren, zweiten Phase der Bestandsaufnahme zugeordnet.
Die verbliebenen Vorschläge wurden durch die fachlich zuständigen Stellen im BMVg bewertet. Insgesamt 31 Maßnahmen wurden zur Entscheidungsreife weiterentwickelt. Der Schwerpunkt des dringlichen Handlungsbedarfs lag damit auf rasch wirksamen Veränderungen in den Planungskategorien Organisation, Betrieb und Personal, ergänzt um die Einrichtung einer Task Force „Optimierung Beschaffungswesen“ sowie weitere flankierende Maßnahmen zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.

Die konkreten Punkte sind zum Teil bereits bekannt und begonnen – zum Beispiel die Einrichtung eines Kommandos Territoriale Führung oder der Erwerb einer Werft für die Instandsetzungsaufgaben der Marine. Weitere Vorhaben sind zum Teil sehr interne Strukturveränderungen und vor allem für die Betroffenen interessant – aber einige Punkte sind von sehr grundsätzlicher Bedeutung (und werfen auch Fragen auf).

Das gilt zum Beispiel für die seit Einführung unter der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen  umstrittene Soldatenarbeitszeitverordnung (SAZV). Die immer wieder geäußerte Kritik: Ausbildung und Übung seien damit nur eingeschränkt möglich – und die größere Freiheit von dieser Verordnung im Auslandseinsatz habe gezeigt, dass daran Veränderungen nötig seien.

Im Hinblick auf den Schwerpunkt Landes- und Bündnisverteidigung sollen nun daran offensichtlich Veränderungen vorgenommen werden:

Aufgrund der Erfahrungen aus der sechsjährigen Anwendung der Soldatenarbeitszeitverordnung besteht ein dringendes Erfordernis, die arbeitszeitrechtlichen Regelungen für die Streitkräfte mit dem Ziel der nachhaltigen Stärkung der Einsatzbereitschaft weiterzuentwickeln. Eine hierzu eingerichtete ministerielle Arbeitsgruppe wurde beauftragt, unter Einbindung der Verbände und Interessenvertretungen sowie der ministeriellen Fachreferate eine Entscheidungsvorlage zur Weiterentwicklung des Arbeitszeitrechts für die Streitkräfte noch in 2022
zu erarbeiten.

In den Zusammenhang mit dieser Weiterentwicklung gehört auch die Planung, im Rahmen des dringlichen Handlungsbedarfs (…) durch geeignete ablauforganisatorische Maßnahmen in Verbindung mit der Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungskapazitäten bestehende Mehrbedarfe an Grundausbildungskapazitäten zu bedienen.

Dabei scheint sich auch in Ministerium und Bundeswehr (wie zuvor schon in den US-Streitkräften) die Einschätzung durchzusetzen, dass eine Truppe mit hoher Einsatzbereitschaft auch die familiären Bedingungen ihrer Soldatinnen und Soldaten berücksichtigten muss:

Chancengleichheit und Verfügbarkeit von Soldatinnen und Soldaten im Zusammenhang mit familiären und pflegerischen Pflichten: Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur Gleichberechtigung der Geschlechter wie auch der Personalbedarf erfordern, dass Karrierehürden für Frauen identifiziert und diesen durch differenzierte Maßnahmen begegnet wird, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nachhaltig zu stärken. Gleichzeitig wurde die Beauftragte für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Dienst in der Bundeswehr mit der Erarbeitung eines Handlungsplans zur Unterstützung von Bundeswehrangehörigen in Szenarien der LV/BV beauftragt.

Noch ein wenig fordernder für die politische und militärische Führung dürfte aber ein geplanter Personalaufwuchs bei den so genannten Enablern sein, dem Unterstützungspersonal, dass den Einsatz von Kampftruppen erst ermöglicht. Da ist einiges vorgesehen:

Stärkung von „Enablement-Fähigkeiten“: Im Zusammenhang mit dem deutschen Beitrag zur Erfüllung der NATO-Bündnisverpflichtungen wurde eine Verstärkung der in der Streitkräftebasis zusammengefassten „Enabler“ entschieden (u.a. mobile logistische Truppen, ABC-Abwehrkräfte, Feldjägerkräfte). Darüber hinaus ist eine Stärkung insbesondere auch der sanitätsdienstlichen Unterstützung vorzunehmen. Ergänzend gilt es, die Schließung von weiteren Fähigkeitslücken für den Aufmarsch verbündeter Truppen in Europa im Zusammenhang mit der Verantwortung Deutschlands als Drehscheibe voranzutreiben. Im Gesamtkontext der Refokussierung auf LV/BV sind weitere Anpassungsnotwendigkeiten innerhalb der unterstützenden Organisationsbereiche der Bundeswehr Gegenstand der nächsten Phase der kritischen Bestandsaufnahme. (…)
Auf dem NATO-Gipfel 2022 hat der Bundeskanzler als deutschen Beitrag eine einsatzbereite, schnell verlegefähige Heeresdivision für 2025 angezeigt. Ohne entsprechende „Enabler“, die durch SKB, SanDstBw und CIR zu stellen sind, wird diese politische Zusage nicht umfänglich erfüllt werden können. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen des dringlichen Handlungsbedarfs entschieden, durch Aufstellung eines zusätzlichen Logistikbataillons (ca. 1.000 militärische Dienstposten – mil D), zwei zusätzlicher ABC-Abwehrkompanien (ca. 700 mil DP) und einer zusätzlichen Feldjägerkompanie (ca. 200 mil DP) eine Stärkung herbeizuführen. Zu den in Summe zusätzlichen ca. 1.900 mil DP kommen ein Planungsumfang von 2.000 DP für den Sanitätsdienst der Bundeswehr sowie weitere entsprechende Bedarfe u.a. an Material und Infrastruktur hinzu, über die im Rahmen der folgenden Phase der Bestandsaufnahme zu entscheiden sein wird.

Die interessante Frage in diesem Zusammenhang wird sein, wo diese zusätzlichen Dienstposten her kommen. Denn eine höhere Personalstärke, gut 200.000 statt der derzeit rund 184.000, hat die Bundeswehr zwar als Ziel und bemüht sich seit Jahren darum – eine wirkliche Erhöhung der Zahl an Soldatinnen und Soldaten hat es in den vergangenen Jahren aber nicht gegeben. Die Frage ist um so drängender, als gerade die genannten Enabler-Posten kaum mit kurz dienenden Freiwillig Wehrdienst Leistenden besetzt werden können, sondern dafür Spezialisten mit Jahre dauernder Ausbildung benötigt werden.

Korrektur (Zahlen berichtigt): Eine kurzfristige Personalaufstockung ist für die Reserve vorgesehen: Bislang gibt es 4.500 Stellen für Reservedienst Leistende im Jahr. Für die Amtshilfe in der Corona-Pandemie wurde diese Zahl zwischenzeitlich – und vorübergehend – auf 5.500 aufgestockt. Bis in fünf Jahren sollen es nun 7.500 solcher Stellen sein:

Die Reserve ist wesentlich für die Einsatzbereitschaft der Bw und gerade für die LV/BV unverzichtbar. Daher sieht der dringliche Handlungsbedarf die Erhöhung des Umfangs von Stellen für die Reserve bis 2027 auf 7.500 und eine dauerhafte Verstetigung auf diesem Niveau vor.

Auf der ganz praktischen Ebene stellt sich die Bundeswehr künftig darauf ein, dass für die Landes- und Bündnisverteidigung in Europa das meiste schwere Gerät per Eisenbahn transportiert wird. Wie schon bisher für Lufttransport (mit dem SALIS-Projekt) und der gesicherte Vorhaltecharter für zivile Fähren in der Ostsee soll es künftig auch quasi vorbestellten Transportraum auf der Schiene geben – wenn auch zunächst nur für die NATO-Speerspitze:

Vorhaltevertrag Schiene: Für die Verlegung deutscher Kräfte der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) 2023 wird ein Vorhaltevertrag Schiene für die durch die NATO vorgeplanten Transportleistungen für die abgestuften Reaktionspläne der NATO (Graduated Response Plans – GRPs) abgeschlossen. Damit kann zügig auf entsprechende Transportbedarfe auf dem Schienenweg reagiert werden.

(Nein, ich stelle nicht die Frage, warum es das für die deutsche VJTF im kommenden Jahr nicht schon gab/gibt.)

Das wesentliche Ziel aller neuen Vorhaben, so die klare Marschrichtung, ist die schnelle Ausrichtung der Bundeswehr auf eine einsatzbereite Verteidigungsarmee. Oder in den Worten des Papiers zu den Zwischenergebnissen der Bestandsaufnahme:

Unsere europäische Sicherheits- und Friedensordnung ist durch den Angriff Russlands auf die Ukraine in ihren Grundfesten herausgefordert. Putin versucht, mit archaisch anmutender Motivation und menschenverachtender Gewalt die Landkarte auf dem europäischen Kontinent neu zu ordnen. Parallel entwickelt China Ambitionen, entstehende Instabilitäten auszunutzen, Machtvakua insbesondere in Afrika zu füllen und erodierend auf das internationale Sicherheits- und Wertesystem zu wirken. In diesem Lichte ist es nur folgerichtig, die Fähigkeiten und Strukturen sowie die Organisation der Bundeswehr kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, um ihre Einsatzbereitschaft zu stärken.
Die Refokussierung der Streitkräfte auf die Kernaufgabe Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) ist das Gebot der Stunde, um dieses Prinzip wieder inhärent im Gesamtsystem Bundeswehr zu verankern.

Mehr Details finden Kenner natürlich in dem Papier selbst:
20220708_BMVg_Sachstandsbericht zur Bestandsaufnahme

… und die Debatte über die Einzelheiten dürfte ja jetzt erst losgehen.

(Archivbild September 2014: Ein Soldat mit Munitionskisten bei der Informationslehrübung Landoperationen 2014 auf dem Truppenübungsplatz Bergen – Jan Röllig/Bundeswehr)