Deutsche Truppenpräsenz in Litauen: Der Stolperdraht scheint nicht mehr genug

Seit fünf Jahren ist die Bundeswehr in Litauen präsent. Eine von Deutschland geführte NATO-Battlegroup soll als Stolperdraht signalisieren, dass ein russischer Angriff auf das baltische Land ein Angriff auf die ganze Allianz wäre. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stellt sich für das Bündnis die Frage: Muss es im Baltikum künftig more than a tripwire geben, mehr als die bisherige vorgeschobene Präsenz?

Im Wäldchen südlich von Jonava wartet der Charlie-Zug bereits seit dem Vorabend auf den Feind. Der könnte an dieser Stelle nach Norden vorstoßen, auf die Landebahn, die einstmals zur sowjetischen Luftwaffenbasis Jonava gehörte. Die Nacht haben die Panzergrenadiere auf ihren Marder-Schützenpanzern oder im Wald verbracht. Fröstelnd, denn ausgerechnet auf dem Marder, der wegen eines Schadens zur Instandsetzung musste, waren alle Schlafsäcke verstaut. Aber der Feind kommt nicht, er greift im Nachbarabschnitt die norwegischen Einheiten an, weil das Gelände dort für ihn günstiger ist.

Ein weitgehend ereignisloser erster Kampftag für die Panzergrenadiere der 1. Battle Coy, der 1. Kampfkompanie der NATO-Battlegroup in Litauen, in der Übung Iron Wolf in der vergangenen Woche. So ähnlich  ging es der enhanced Forward Presence (eFP), der vorgeschobenen Präsenz der Allianz in dem baltischen Land, weitgehend in den vergangenen fünf Jahren.

Seit dem offiziellen Start der Battlegroup in Litauen im Februar 2017 rotierten Truppen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern im Sechs-Monats-Rhythmus nach Litauen, jeweils mit ihrer ganzen Ausrüstung und den schweren Waffen wie Panzern und Schützenpanzern. Die Mission war vor allem ein Übungseinsatz, sowohl für die halbjährliche Verlegung des Geräts als auch für die Kampfbereitschaft der aus Deutschen, Niederländern, Norwegern, Tschechen und Belgiern zusammengesetzten Truppe. Den Einsatz hatte das Bündnis 2016 beschlossen, als sichtbares Zeichen der Unterstützung für Balten und Polen an der NATO-Nordostflanke. Der Rückhalt der anderen NATO-Staaten sollte faktisch als Stolperdraht bei einem vor allem von den Balten befürchtetes russischen Übergreifen auf diese Länder verhindern.

Seit dem 24. Februar, seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, ist auch für dieses verstärkte Bataillon an der NATO-Nordostflanke alles anders geworden. Die Präsenz der Allianz in den Staaten, die an der Grenze zu Russland und seinem Verbündeten Belarus liegen, steht auf einmal im Fokus der deutschen wie der internationalen Politik. 286 Besucher aus Deutschland, aber auch aus Partnerstaaten zählte der deutsche Oberstleutnant Daniel Andrä, seit Februar dieses Jahres Kommandeur der eFP-Battlegroup, in den vergangenen Wochen. Ein mehrfaches dessen, was sonst pro Jahr in dem entlegenen Standort Rukla westlich der litauischen Hauptstadt Vilnius vorbeischaut.

Denn auch dem Rest der NATO wird bewusst, was die baltischen Staaten aus ihrer langen Geschichte mit Russland und der Sowjetunion schon seit Jahren warnend vorbringen: Eine russische Aggression würde sich als erstes auf diese Länder richten, die bis zum Ende der Sowjetunion zu deren Machtbereich gehörten. Die Regierung in Vilnius dringt deshalb, wie auch die Nachbarn in Estland und Lettland, auf einen Ausbau, eine Aufstockung der NATO-Präsenz in dieser Region. Es reiche längst nicht mehr, ein verstärktes Bataillon als Stolperdraht dort zu stationieren, der einen eventuellen russischen Angriff auf ein baltisches Land zum Angriff auf die ganze NATO machen würde.

Eine Battlegroup wird sicherlich nicht den Feind stoppen können, sagt der litauische Oberst Mindaugas Petkevičius, Kommandeur der litauischen Iron Wolf-Brigade, der die NATO-Kampftruppe unterstellt ist, im Gespräch mit Augen geradeaus!. Wie seine politische und militärische Führung wünscht sich der Offizier den Übergang vom Stolperdraht zu einer Forward Defense, zu einer vorgeschobenen Verteidigung an der Nahtstelle zwischen der Allianz und Russland. Für eine glaubhafte Abschreckung allerdings, warnt der Armeeoffizier, wären nicht nur mehr Soldaten aus den anderen NATO-Ländern nötig. Sondern auch ganz andere Fähigkeiten wie eine effektive Luftverteidigung.

Die Balten, die seit langem auf eine Aufstockung der Bündnispräsenz in ihren Ländern ebenso wie auf moderne Luftverteidigungssyteme dringen, könnten beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Madrid im Juni zumindest politisch einen Erfolg erringen. Eine Festlegung der Allianz auf eine Brigadestruktur statt verstärkter Bataillone und damit eine Erhöhung um mehrere tausend Soldaten im Baltikum und in Polen scheint erreichbar: Deployment of an allied brigade-sized unit and air defence capabilities would substantially reinforce the deterrence against Russia, sagt der stellvertretende litauische Verteidigungsminister Margiris Abukevičius.

Dabei wäre dann auch Deutschland gefordert, mit der Führung der Battlegroup jetzt und der bereits gegebenen Zusage auch künftiger Unterstützung der erste Ansprechpartner für Litauen. Doch für die Bundeswehr wird sich schlicht die Frage stellen: Was können die deutschen Streitkräfte – neben den anderen Verpflichtungen in der NATO, zum Beispiel der NATO-Speerspitze im kommenden Jahr – noch zusätzlich leisten?

Dabei geht es auch, aber längst nicht nur um die Frage, wie viel Kampftruppe mit schwerem Gerät die Bundeswehr in Marsch setzen kann. Denn schon dieser Einsatz in Bataillonsstärke zeigt einige der Lücken, mit denen die Bundeswehr leben muss.

Eine davon versucht Oberleutnant Christian (Nachname soll nicht genannt werden) zu stopfen. Der Luftwaffenmann ist Zugführer des einzigen einsetzbaren Leichten Flugabwehrsystems (LeFlaSys), über das die deutschen Streitkräfte verfügen. Mit ihren Ozelots, leicht gepanzerten so genannten Waffenträgern auf Basis eines Wiesel-Fahrzeugs, sollen sie mobil den Schutz der Battlegroup vor Angriffen aus der Luft sicherstellen: Angebunden an ein Radarfahrzeug, feuert das System Stinger-Flugabwehrraketen ab, wie sie auch als schultergestützte Waffen eingesetzt werden können.

Wir sind gerade die shooting stars, merkt der Oberleutnant ironisch an. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sagte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht den Litauern eine schnelle Verstärkung der eFP-Kampfgruppe an und schickte auch die LeFlaSys-Truppe ins Baltikum, zusammen mit der ohnehin eingeplanten Verstärkung zum Beispiel mit Panzerhaubitzen.

Doch Ende Juli wird der Oberleutnant mit seinen Ozelots wieder abziehen: Seine mobile Flugabwehr ist auch für die deutsche NATO-Speerspitze eingeplant, die ab Januar kommenden Jahres die schnelle Eingreiftruppe der Allianz stellt. Ein weiteres System dieser Art hat die Bundeswehr nicht.

Den gravierendsten Mangel der deutschen Landstreitkräfte erleben die Soldatinnen und Soldaten allerdings in der täglichen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen in der NATO-Battlegroup: Bei der technischen Ausstattung mit Funkgeräten und – verbindungen sind die Deutschen das schwächste Glied in der Kette. Schon seit Jahren ist das Problem bekannt, getan hat sich bislang wenig.  Wie vor Jahrzehnten funkt das Heer überwiegend mit unverschlüsselten, analogen Geräten. Während die Verbündeten auch in dieser Mission längst auf moderne digitale und verschlüsselte Systeme umgestellt haben.

Das hat Folgen für den gemeinsamen Einsatz im Bündnis, schon in Übungen wie Iron Wolf. Wo der Bataillonsgefechtsstand aufgebaut wird, entscheidet nicht die takische Planung – sondern die Technik, denn ohne Funkanbindung ist die Kommandozentrale wertlos. Die Anbindung aber muss mit der veralteten deutschen Funktechnik hergestellt werden, vielleicht noch mit zusätzlichen Relais. Die müssen dann nicht nur irgendwo technisch sinnvoll aufgestellt werden – sondern auch vor feindlichem Angriff geschützt sein.

Und während die Kompanien langwierig über unverschlüsselten Sprechfunk ihre Standorte nach oben melden und von der Führung der Battlegroup ihre Befehle erhalten, drücken Niederländer, Norweger oder Tschechen in ihren Kompaniegefechtsständen auf einen Knopf und übermitteln gesichert per Datenfunk die notwendigen Informationen an ihre Truppe.

Im Gefechtsstand der (deutschen) gemischten Aufklärungskompanie sitzt derweil ein Soldat vor einer Batterie von Funkgeräten für verschiedene Funkkreise.  Was über Datenfunk eingeht, wird von einem Soldaten vorgelesen und von einem weiteren in einen anderen Laptop eingegeben, zur Weitermeldung an die Operationszentrale. Drehstuhlschnittstelle heißt das bei der Bundeswehr.

Inzwischen, warnte der deutsche Heeresinspekteur Alfons Mais, sei die Zusammenarbeit der Bundeswehr mit ihren NATO-Partnern in solchen Missionen kaum noch möglich. Das gilt schon für Übungen. Von einem echten Gefecht sprach der Generalleutnant da noch nicht einmal.

Doch die echte Auseinandersetzung, davon sind die Balten überzeugt, kann jederzeit Realität werden. Der Krieg in der Ukraine, sagt der litauische Brigadekommandeur Petkevičius, sei eigentlich nur die Verzögerung, die uns die Zeit gibt, dass wir uns auf einen Angriff vorbereiten.

Das wird natürlich auch den deutschen Soldatinnen und Soldaten in Litauen bewusst. In den vergangenen Monaten haben sie einen Schleudergang der Gefühle erlebt. Vom empfundenen Truppenübungsplatzaufenthalt zur Schwelle des Dritten Weltkriegs, so beschreibt Truppenpsychologie Patrick Hattenberg die Wechsel in der Empfindung der Truppe seit dem russischen Angriff.

Hattenberg ist der erste Psychologe, der in die eFP-Battlegroup in Litauen geschickt wurde. Das war auch ein Zeichen dafür, dass schon zum Start der neuen Rotation im Februar, bereits vor Beginn des Krieges in der Ukraine, eine neue Situation absehbar war. Zuvor hatte es in der eFP-Mission, im Unterschied zu den normalen Auslandseinsätzen der Bundeswehr, keinen Truppenpsychologen gegeben.

Nach dem 24. Februar war Hattenberg – ein Zivilangestellter der Bundeswehr, für diese Mission im Rang eines Majors – ein gefragter Ansprechpartner für die Soldatinnen und Soldaten, die mit einer gefühlt völlig neuen Lage umgehen mussten. Das Hauptproblem, sagt der 29-jährige, waren dabei zunächst die besorgten Anfragen der Familie aus der Heimat.

Sagt denen, dass ihr nicht im Krieg seid, riet der Psychologe. Die Soldatinnen und Soldaten, das ist Hattenberg klar, müssen sich allerdings auch selbst erst an die neue Situation gewöhnen. Auch wenn sie mit dem Bewusstsein aufträten Das ist das, wofür ich ausgebildet bin – der mentale Wechsel von der Missionsarmee zur Einsatzarmee wird Zeit brauchen.

(Foto oben: Befehlsausgabe der NATO-Battlegroup in der Übung Iron Wolf in Rukla, Litauen im Mai 2022; Foto Mitte: Ein Ozelot des Leichten Flugabwehrsystems; Foto unten: Der Zugführer des Leichten Flugabwehrsystems am Funkgerät)