Offener Brief: Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte

Der Abzug der internationalen Truppen und damit auch der Bundeswehr aus Afghanistan ist in vollem Gange – und das hat auch Auswirkungen auf die so genannten Ortskräfte, auf Afghanen, die zum Beispiel als Dolmetscher die deutschen Soldaten unterstützt haben. Ihnen drohen angesichts zunehmender Kontrolle der Taliban über immer mehr Regionen und möglicherweise des ganzen Landes Racheakte gegen sie selbst und ihre Familien. Ein Verfahren, diese Ortskräfte in Deutschland in Sicherheit zu bringen, gibt es –  aber es droht in bürokratischer Komplikation den Schutz zu spät zu bieten, wenn überhaupt.

Eine Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte, begründet unter anderem von dem früheren Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei und dem Afghanistan-Kenner Thomas Ruttig und auch von mehreren früheren Bundeswehr-Generalen unterzeichnet, ruft die Bundesregierung in einem offenen Brief dazu auf, diese afghanischen Unterstützer der Bundeswehr tatsächlich zu schützen und dafür auch am Verfahren einiges zu ändern.

Zur Dokumentation der Aufruf im Wortlaut:

Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan: Afghanische Ortskräfte in Sicherheit bringen!

Der Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan hat begonnen und soll voraussichtlich Anfang Juli 2021 beendet sein. Das Bundesverteidigungsministerium hat erklärt, dass es in der Abzugsphase zu einer größeren Gefährdung der Soldatinnen und Soldaten kommen könne. Medien zitierten unter Berufung auf einen vertraulichen Bericht des Auswärtigen Amtes und des Bundesverteidigungsministeriums, dass die Bundesregierung eine weitere erhebliche Verschlechterung der Sicherheitslage nach dem Abzug erwarte. Während die Truppe unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen längst bei den Vorbereitungen zur Rückkehr ist, wachsen die Befürchtungen der afghanischen Ortskräfte, die oft viele Jahre für die Bundeswehr, die deutsche Polizeiausbildungsmission, diplomatische Missionen und die staatlichen Zwecke der Entwicklungszusammenarbeit u.a. tätig waren – als Dolmetscherinnen und Dolmetscher, qualifiziertes Fachpersonal, Wachleute und Hilfskräfte. Sie fürchten um ihre Sicherheit und ihr Leben – wie auch um das ihrer Familienangehörigen.

Wir fordern eine unbürokratische und schnelle Aufnahme der Betroffenen in Deutschland parallel zum Abzug!

Die Taliban haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie diese Ortskräfte als Kollaborateure des Westens begreifen, die sie als Unterstützer eines militärischen Besatzungsregimes zur Verantwortung ziehen wollen. Über Anschläge auf und Morde an Ortskräften wird seit Jahren berichtet, u.a. aus britischen, deutschen und US-amerikanischen Quellen. Letztere berichten von etwa 300 getöteten US-Ortskräften. Viele Ortskräfte haben versucht, sich Bedrohungen durch Umzug in andere Regionen Afghanistans zu entziehen, was aber nur selten eine dauerhafte Lösung und das Ende der Gefährdung ist.

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat Mitte April von einer tiefen Verpflichtung der Bundesrepublik gesprochen, die afghanischen Ortskräfte jetzt nicht schutzlos zurückzulassen. Zu befürchten ist aber: Genau das geschieht. Wer die effektive Aufnahme wirklich will, der kann in den verbleibenden Wochen nur eine unbürokratische Prozedur für all die Ortskräfte und ihre Angehörigen umsetzen, die für deutsche Stellen gearbeitet haben: Öffentliche Bekanntgabe des Aufnahmeprogramms, Registrierung, Vorbereitung der Ausreise, die möglichst geschehen muss, solange die Bundeswehr noch im Lande ist, ggf. Durchführung von Charterflügen.

Der Verweis auf das bisherige Aufnahmeprogramm für afghanische Ortskräfte mit Abgabe einer individuellen Gefährdungsanzeige bei Vorgesetzten, in der nachgewiesen werden muss, dass für Bedrohungen durch die Taliban die Tätigkeit für deutsche Stellen entscheidend ist, ist angesichts der neuen Sicherheitslage nicht mehr zielführend. Das bisherige Verfahren ist viel zu zeitintensiv, insbesondere seit die Kapazitäten des deutschen Kontingentes im Lande mit dem beginnenden Abzug Woche für Woche schwinden.

Seit 2013 wurden nach Zahlen des Verteidigungsministeriums knapp 800 Ortskräfte (plus Familienangehörige) in Deutschland aufgenommen, fast alle jedoch innerhalb eines kurzen Zeitraums, nachdem das Programm diese Chance eröffnet hatte. Zwischen 2014 und 2021 sind dann gerade einmal 15 zusätzliche Aufnahmen hinzugekommen – trotz einer in diesem Zeitraum immer weiter sich verschlechternden Sicherheitslage.

Zügige Aufnahme statt untauglicher Vorschläge

Das Bundesinnenministerium verweist wenige Wochen vor dem Truppenabzug die Ortskräfte auf das alte Prüfungsverfahren mit seinem bürokratischen Aufwand, was in der Kürze der Zeit nicht praktikabel ist. So steht zu befürchten, dass es kein effektives Aufnahmeprogramm, sondern lediglich ein Pseudo-Prüfungsprogramm geben wird. Der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Reinhold Robbe hat schon vor Jahren den Umgang mit den Ortskräften als „beschämend“ und „unwürdig“ bezeichnet (vgl. bundeswehr-journal v. 17.10.2014). Diese Diagnose gilt bis heute. Wer seinen Dienst als Ortskraft vor mehr als zwei Jahren beendet hat, der soll von der Aufnahme in Deutschland ausgeschlossen bleiben. Im Ernstfall werden sich die Verfolger bei den Taliban wohl kaum an dieser Frist orientieren. Und noch nicht einmal die zuletzt beschäftigten ca. 500 Ortskräfte, die nicht pro forma bereits wegen dieser Ausschlussregelung aus dem Programm herausfallen, sollten sich darauf verlassen, dass aus der Ankündigung der Bundesverteidigungsministerin und guter Absicht praktische Hilfe wird.

Ein Büro für afghanische Ortskräfte in Kabul und evtl. an einem anderen Ort, so das BMI, soll eingerichtet werden, wo das umständliche Prüfungsverfahren zur Aufnahme stattfinden soll – als ob man sich nicht in einem Land befände, in dem längst ein Großteil der Regionen nicht mehr von der Regierung kontrolliert wird, Reisen riskant sind und selbst die deutsche Botschaft nur noch eingeschränkt operieren kann. Zu befürchten ist, dass ein solches Büro für die Taliban ein vorrangiges Anschlagsziel werden könnte, insbesondere wenn sich die Sicherheitslage weiter verschärft.

Waren die Ortskräfte in den Jahren 2014/15, als der größte Teil derer nach Deutschland kamen, die eine Aufnahmezusage erhalten hatten, eine Gruppe, die unter den Geflüchteten hierzulande oft übersehen wurden, so haben sich in den Jahren danach Solidaritäts- und Unterstützungsstrukturen herausgebildet, nicht zuletzt auch ein Patenschaftsnetzwerk der Bundeswehr. Denn auch dort vertraten viele die Auffassung, dass denen, die die Einsatzrisiken mit deutschen Soldatinnen und Soldaten geteilt hatten und ohne die insbesondere die Verständigung in Afghanistan kaum möglich gewesen wäre, in bedrängter Situation geholfen werden müsse. Und für deren Integration wollte man sich einsetzen.

Anlässlich der Vorstellung eines Buches der Bundeszentrale für Politische Bildung im Dezember 2019, in dem die Rolle der afghanischen Ortskräfte dargestellt und gewürdigt wurde, brachte es einer der Mitautoren des Buches und langjähriger Bundestagsabgeordneter auf den Punkt: “(…) die Schlüsselrolle der afghanischen Ortskräfte: Ohne sie wäre der Einsatz unmöglich und von vorneherein aussichtslos gewesen. Mit ihrem Dienst für deutsche Einsatzkräfte meinten viele, ihrem Land am besten dienen zu können. Sie nahmen dafür hohe Belastungen und Risiken in Kauf. Dafür gebührt ihnen von deutscher Politik und Gesellschaft Aufmerksamkeit, Dank, Anerkennung nicht nur verbal (…) sondern auch praktisch. Wo Ortskräfte von sozialen und existenziellen Einsatzfolgen betroffen sind, an Leib und Leben, oft zusammen mit ihren Familien, da steht die Bundesrepublik Deutschland (…) in einer selbstverständlichen Fürsorgepflicht. Das ist ein Gebot der Verlässlichkeit, der Glaubwürdigkeit und auch der politischen Klugheit.“

Ähnlich sehen es auch US-Militärs: Ex-US-General David Petraeus hat sich zusammen mit der Nichtregierungsorganisation No One Left Behind Ende April in einem Brief an US-Außenminister Antony Blinken dafür eingesetzt, alle notwendigen Ressourcen aufzubieten, um die afghanischen Ortskräfte aus Afghanistan herauszuholen, bevor die letzten US-Truppen das Land verlassen.

Zwar haben einige andere Truppenstellerstaaten, die z.T. schon vor langer Zeit aus Afghanistan abgezogen sind, ihre Fürsorgepflicht für die Ortskräfte ebenso verstanden und einigen „ihrer“ Ortskräfte Aufnahme gewährt. Demgegenüber waren andere Staaten zögerlich und stehen nun ebenfalls, wie die Bundesrepublik, vor der Situation, von Absichtserklärungen, die nicht eingelöst wurden, zu wirksamen Verfahren zu kommen. Jetzt, wo der vorzeitige und bedingungslose Abzug der US-Armee wie des deutschen Kontingentes die Risiken dramatisch erhöht hat, wäre ein anständiges und großzügiges Verhalten der Bundesregierung mehr denn je nötig. Wie sollten sonst diejenigen, die Unterstützer*innen in gefährlicher Situation zurücklassen, künftig erwarten können, als verlässliche Partner in allen Bereichen der internationalen zivilen und militärischen Zusammenarbeit angesehen zu werden?

Angesichts der akuten Bedrohung bisheriger Ortskräfte an Leib und Leben und bezugnehmend auf die Wertegebundenheit deutscher Krisenengagements (s. Leitlinien „Krisen verhindern“ der Bundesregierung 2017) erheben wir eindringlich die folgenden Forderungen:

Zügige und unbürokratische Aufnahme afghanischer Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen parallel zum laufenden Abzug des deutschen Kontingentes.

Öffentliche Verbreitung von Informationen über ein zu diesem Zweck vereinfachtes Verfahren für (ehemalige) Ortskräfte in Afghanistan.

Verzicht auf Prüfungsprozeduren, die in der Praxis weitgehend unmöglich oder für die Antragsteller*innen unzumutbar sind.

Verzicht auf Ausschlusskriterien, die der Realität nicht gerecht werden, wie die Beschränkung auf Personen, die in den letzten zwei Jahren als Ortskräfte tätig waren.

Der Brief mit der Liste der Erstunterzeichner als pdf-Datei:
20210514 Aufruf Ortskräfte Afgh mit Liste Erstunterzeichnender FINAL

(Offenlegung: Ich gehöre auch zu den Erstunterzeichnern)

(Archivbild August 2009: Ein Soldat sucht mit Hilfe eines einheimischen Sprachmittlers das GesprŠäch mit Kindern aus einem nicht genannten Ort in den Bergen Afghanistans – Dana Kazda/Bundeswehr)