NATO @ 70: Geburtstagszoff vernebelt Blick nach vorne

Die NATO, die vermutlich größte wie auch langlebigste Militärallianz der Geschichte, feiert ihren 70. Geburtstag – und die Fete wird von Zoff überschattet: Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung steht der Streit über die Militärausgaben einzelner Bündnismitglieder, allen voran Deutschland. Aber auch der Streit zwischen dem größten Mitglied USA und der teilweise ganz pragmatisch nach Russland orientierten Türkei.

Die Berichte von der Geburtstagsfeier aus Washington wie auch die tiefgründigen Analysen zum 70-jährigen Bestehen gibt es in diesen Tagen in praktisch jedem Medium, das kann und will ich gar nicht hier aufholen. Deshalb ein einige Hinweise auf ein paar Quellen zu diesem Thema:

• Der Streit um die deutschen Verteidigungsausgaben, die auch für die nächsten Jahre hinter dem von allen NATO-Mitgliedern vereinbarten Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückbleiben werden, nahm in der Festrede von US-Vizepräsident Mike Pence prominenten Raum ein. Der Wortlaut nach der Abschrift des Weißen Hauses:

The majority of NATO members now have plans in place to meet their financial obligations by 2024. As the Secretary General said just hours ago before Congress, President Trump’s leadership on burden sharing is “having a real impact” to the benefit of NATO and the free world. (Applause.)
And so, more of our allies are now meeting their commitments, but still too many others are falling short. And as we all acknowledge, Germany is chief among them. Germany is Europe’s largest and healthiest economy. It’s a leading global exporter and has benefitted from U.S. protection of Europe for generations. But last year’s annual report to parliament on the state of the German armed forces revealed glaring deficiencies in Germany’s military readiness.
And yet, as we stand here today, Germany still refuses to make the necessary investment of 2 percent of its GDP to our common defense. After great prodding, it agreed to spend only 1.5 percent of its GDP on defense by 2024. But the draft budget for 2019 just presented to the German parliament actually falls short of even that commitment, promising only 1.3 percent. Germany must do more.
And we cannot ensure the defense of the West if our allies grow dependent on the Russia. If Germany persists in building the Nord Stream 2 pipeline, as President Trump has said, it could turn Germany’s economy into literally a “captive of Russia.” It is simply unacceptable for Europe’s largest economy to continue to ignore the threat of Russian aggression and neglect its own self-defense and our common defense at such a level. And it’s also wrong for Germany to allow itself to become energy dependent on Russia.
NATO is a mutual defense pact, not a unilateral security agreement. We need all allies to contribute to this joint endeavor, and we honor their commitments and we’ll keep ours.
The United States expects every NATO member to fulfill their own commitments and to meet the 2 percent threshold no later than 2024. And we expect all our allies to invest 20 percent of defense spending on major new equipment. And we’re greatly encouraged at the progress that’s being made among many of our allies to do just that.

Dazu dann der deutsche Außenminister Heiko Mass (nach dem vom Auswärtigen Amt veröffentlichten Redetext):

Ich weiß, unser Haushaltsverfahren ist für Außenstehende manchmal schwer zu verstehen – und glauben Sie mir: wahrlich nicht nur für Außenstehende!
Aber wir haben uns klar dazu bekannt, mehr Geld in Verteidigung zu investieren, und wir halten Wort. Wir in Europa wissen, dass unsere Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist und dass wir Verantwortung übernehmen müssen, um sie auch in Zukunft zu wahren – aus eigenem Interesse.
Darum haben wir den Trend sinkender Verteidigungsausgaben umgekehrt. Seit 2014 haben wir unsere Verteidigungsausgaben signifikant um beinahe 40 Prozent erhöht. Und unsere Verteidigungsausgaben werden weiter steigen – zunächst bis 2024 auf 1,5% des Bruttosozialprodukts.
Aber Lastenteilung ist mehr als Verteidigungsausgaben. Wer nach der Lastenteilung fragt, muss die gesamte Bandbreite von Ressourcen, Fähigkeiten, Beiträgen zu NATO Operationen und zur Bündnisverteidigung betrachten.
• Als im Jahre 2001 nach den Anschlägen des 11. September das erste – und bislang einzige Mal der NATO-Bündnisfall ausgerufen wurde, waren wir in Solidarität mit unseren amerikanischen Freunden zur Stelle. Bis heute sind wir der zweitgrößte Truppensteller in Afghanistan. Auch an anderen NATO-Einsätzen sind wir substanziell beteiligt.
• Deutschland ist neben den USA, Kanada und Großbritannien eine der vier Rahmennationen der Enhanced Forward Presence. Unsere Eurofighter fliegen als Teil des “Air Policing” über Estland.
• Wir zeigen Verantwortung durch die Übernahme der Führung der schnellen NATO-Einsatztruppe (Very High Readiness Joint Task Force) in diesem Jahr.
• Wir bauen in Ulm eine neue NATO-Kommandozentrale auf. Außer uns tun dies im Zuge der NATO-Kommandostrukturreform nur noch die USA.
Ich sage das hier noch mal in aller Deutlichkeit, dass uns diese Entscheidungen durchaus kontroverse Diskussionen abverlangen. Diese innenpolitischen Debatten sind mit Blick auf unsere deutsche Geschichte auch notwendig.
Statt allein über Bündnisfähigkeit und Bündniswilligkeit zu reden, sollten wir deshalb vor allem auch eines deutlich machen: Die NATO ist ein Sicherheits-, aber vor allem auch ein Wertebündnis. Sie hat auch eine politische Funktion.

Nun hat es auch mit dem recht missglückten deutschen Erwartungsmanagement zu tun, dass die Bundesrepublik als das schwarze Schaf in der NATO-Gemeinde öffentlich gegeißelt wird. Denn es ist ja mitnichten so, wie in zahlreichen Berichten gerade aus dem Ausland zu lesen ist, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben kürze. Tatsächlich ist für das kommende Jahr mit der Aufstockung des Wehretats das Gegenteil der Fall.

Hier greift die Mechanik, die bei großen Aktiengesellschaften zum Kursabsturz führt: Nicht allein tatsächliche Einbußen lassen den Wert der Aktie sinken, sondern meist schon die Ankündigung, dass die Gewinne künftig nicht so hoch ausfallen werden wie erwartet – und diese Mechanik hat Berlin bedient mit der Ankündigung, dass der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt nach 2020 wieder sinken werde. Obwohl das bislang nur eine – konservative – Projektion ist.

Vor dem Hintergrund des plakativen Streits gehen andere wichtige Debattenpunkte weitgehend unter. Zum Beispiel die deutliche Warnung der USA an das NATO-Mitglied Türkei wegen dessen Kauf und geplanter Nutzung des russischen Flugabwehrsystems S-400. Aus Pence‘ Rede:

We’ve also made it clear that we’ll not stand idly by while NATO Allies purchase weapons from our adversaries — weapons that threaten the very cohesion of this alliance.
Turkey’s purchase of a $2.5 billion S-400 anti-aircraft missile system from Russia poses great danger to NATO and to the strength of this alliance. The fact that Turkey is moving ahead with these plans even after the United States has made available the Patriot air defense system is deeply troubling.
The Pentagon made clear, earlier this week, and I repeat today: If Turkey completes its purchase of the Russian S-400 missile system, Turkey risks expulsion from the joint F-35 program, which will harm not just Turkey’s defense capacity, but it may cripple many of the Turkish component manufacturers that supply that program.
In the meantime, this week we formally notified the Turkish government that the United States is immediately suspending shipments of all F-35 Joint Strike Fighter related equipment and materiel to Turkey. Turkey must choose: Does it want to remain a critical partner in the most successful military alliance in history of the world? Or does it want to risk the security of that partnership by making reckless decisions that undermine our alliance?

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage des türkischen Außenministers, das russische System werde nicht in die NATO-Systeme integriert – was faktisch einen Ausstieg aus der integrierten Luftverteidigung der Allianz bedeuten würde:

Aber auch das ist eher ein Randthema gegenüber der Frage: Worauf, auf welche Bedrohungen und welche Aufgaben, stellt sich die 70-jährige NATO ein? In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens richtete die Allianz ihr Augenmerk auf Russland, dann zwanzig Jahre lang auf die so genannte Krisenbewältigung out of area, also außerhalb des NATO-Gebiets. Und seit 2014 wieder verstärkt auf Russland.

Aber nun zeichnet sich ein ganz anderer Schwerpunkt ab, und den sehen nicht nur die USA. Zunächst mit den Worten von Pence:

Perhaps the greatest challenge NATO will face in the coming decades is how we must all adjust to the rise of the People’s Republic of China. And adjust we must. For determining how to meet the challenge of Chinese 5G technology, meet the challenge of the easy money offered by China’s Belt and Road Initiative, is a challenge European allies must contend with every day.
Whether we like it or not, the implications of China’s rise will profoundly affect the choices NATO members will face, individually and collectively.
China’s expanding influence will necessarily demand more of America’s attention and resources. And as we meet that challenge, our European allies must do more to maintain the strength and deterrence of our transatlantic alliance with their resources.
Toward that end, we are grateful that NATO members are opening their own diplomatic dialogues with like-minded Indo-Pacific countries like Australia, Japan, Singapore, and Korea. And we welcome recent steps by NATO partners, France and Great Britain, to increase freedom-of-navigation and overflight operations in the Indo-Pacific.
By working together, we can maintain a free and open Indo-Pacific where independent nations boldly pursue their own interests; respect their neighbors as equals; and where societies, beliefs, and traditions flourish side by side; and where all their citizens are able to exercise their God-given liberties and pursue their dreams.

Das kann man als US-Zentrierung auf den neuen großen Rivalen abtun. Aber China als Herausforderung auch für die NATO haben auch Experten in Europa im Blick, wie der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp:

Langfristig sieht sich die NATO allerdings einem existenziellen Problem gegenüber, das weder in den aktuellen transatlantischen Spannungen noch in der Sprunghaftigkeit von Präsident Donald Trump begründet ist. Es erwächst stattdessen aus den grundlegenden geostrategischen Veränderungen der kommenden Jahre. Mit einer stetig zunehmenden Rolle Chinas bei einer gleichzeitig abnehmenden Bedeutung Russlands werden sich die USA weit stärker als bisher dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden und Europa trotz aller Treueschwüre eher hinten anstellen. Will die NATO nicht einen großen Teil ihrer Existenzberechtigung verlieren, wird sie ihre geografische Orientierung ebenfalls deutlich ändern und ausweiten müssen. (…)
Die generelle Einschätzung, dass Russland sich im Niedergang und China sich im Aufstieg befindet, wird auf beiden Seiten des Atlantiks im Wesentlichen geteilt. Mehr noch – es besteht ein breiter Konsens, dass beide Trends in ihrer Intensität oder Geschwindigkeit schwan- ken mögen. Umkehrbar sind sie sie aber wohl nicht. Dennoch haben sich die NATO-Mitglieder bislang kaum mit den Folgen beschäftigt, die sich aus dieser Entwicklung für die NATO insgesamt und für die europäischen Mitgliedsstaaten im Besonderen ergeben werden.
Folgt man dem Gedankengang eines neuen chinesisch-amerikanischen Bilateralismus, dann wird die NATO ihre Relevanz für die USA nur erhalten können, wenn sie langfristig einen signifikanten Beitrag zur Einhegung chinesischer Machtansprüche leistet. Eine solche NATO, die zu verhindern hilft, dass die liberale „westliche“ Weltordnung durch eine chinesische Variante ersetzt wird, wäre nicht nur für die USA hilfreich, sondern auch für Europa selbst.
(zitiert mit freundlicher Genehmigung aus dem Vorab-Text für die Ausgabe 1/2019 der Zeitschrift Sirius; die englische Fassung hier)

Oder, um es auf eine journalistische Formulierung zu bringen:

For NATO, China is the new Russia

(Foto: Außenminister Heiko Maas beim Festakt zum 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags mit NATO-Generalsekretär
Jens Stoltenberg (r.), und US-Außenminister Mike Pompeo (l.)  – Thomas Imo/photothek.net )